„Roads not Taken” am 9. November 1918

6. November 2024

Das Wort „Republik schallt von Mund zu Mund“, so hieß es am 9. November 1918 im 8-Uhr-Abendblatt. An diesem Tag wurden vom Reichstag aus mehrere Reden gehalten.1 Eine der bekanntesten ist die Ansprache Philipp Scheidemanns, bis zum Morgen des berühmten Tages noch Staatssekretär der ersten parlamentarisch abgestützten kaiserlichen Regierung. Vom Wortlaut seiner „Ausrufung“ gibt es verschiedene Versionen. Auch die Authentizität des bisher einzigen bekannten und erhaltenen Fotos, das den „historischen Moment“, so die Berliner Illustrirte Zeitung, Verlag Ullstein, zeigte, wurde seither immer wieder angezweifelt. Auch das „Wissen“ darum, dass es sich bei dem ikonischen Foto um ein manipuliertes Bild handele, scheint inzwischen Teil der kollektiven Erinnerung zum 9. November 1918 zu sein.

Die Revolution 1918 ist eine der 14 Zäsuren der deutschen Geschichte, die die Ausstellung „Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“ in den Blick nimmt. Zum diesjährigen Jahrestag sprach Dr. Lili Reyels, Kuratorin der Ausstellung, mit Dr. Katrin Bomhoff von ullstein bild collection über die Echtheit des Bildes, seinen Entstehungs- und Publikationsprozess.

Lili Reyels: Liebe Frau Dr. Bomhoff, welche Aussagen kann man über die Originalfotografie, die bei Ihnen bewahrt wird, machen?

Katrin Bomhoff: Es handelt sich um eine sehr kleine Aufnahme, die Bildmaße sind 3,8 x 5,5 cm, abgezogen auf einem etwa postkartengroßen Fotopapier. Wir wissen nicht, ob das Negativ, welches sich nach unserem Wissen nicht erhalten hat, bei Ullstein selbst im Kontaktverfahren auf die nun vorliegende Postkarten-Standard-Größe abgezogen wurde. Die Rückseite dokumentiert die zeitgenössische Bildlegende: „Die erste Verkündung der neuen Republik durch Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstagsgebäudes aus“. Auch der Fotograf Erich Greiser, Berlin/Lichtenberg ist genannt, hinzu kommen mehrere Inventar- und Archivnummern. Unten rechts ist die Nummer 47/1918 angegeben, dies ist das Datum der Erstveröffentlichung, die Zeitung ist nicht eigens genannt – bei Ullstein war damit klar, dass es sich um die auflagenstärkte Zeitung, die Berliner Illustrirte Zeitung (BIZ), handelte, die das Foto am 24. November 1918, veröffentlichte.2

Philipp Scheidemann ruft vom Balkon des Reichstagsgebäudes in Berlin die Republik aus
– 09.11.1918 / Originalfotografie Foto: Erich Greiser veröffentlicht bei Ullstein: Berliner Illustrirte Zeitung, 24.11.1918 © ullstein bild


LR: Wie kann man sich den damaligen Publikationsprozess dieses Bildes vorstellen?

KB: In der Zeitung wurde das Motiv vergrößert gezeigt, das Bildmaß betrug nun 11,2×15,5 cm, die Fotografie wurde rundherum beschnitten und der Ausschnitt somit auch vergrößert. In der Zeitung kommt nun auch der auffällige Lichtsaum hinzu, der die Silhouette des Redners auf der Balkonbrüstung gegenüber der Säule hervorhebt. Er ist einer der Gründe, warum das Foto für eine Montage gehalten wurde. Dass es vermutlich Scheidemann ist, wird im Grunde erst durch die Bildunterschrift klar. Es ist zu vermuten, dass die Fotografie durch ihren Fotografen Erich Greiser direkt an die Redaktion gegeben worden ist – damit hatte der Verlag etwas, das die Konkurrenz nicht hatte: die Verbildlichung des „historischen Moments“. „Wir sind in der Lage, die seltene Aufnahme heute unseren Lesern zu zeigen“, so die BIZ am 24.11.1918. Die Verschränkung von Bild und Text verstärkte die Legitimation der „Deutschen Republik“ – die Ausrufung erfolgte nur zwei Stunden vor der Ausrufung der Räterepublik durch Karl Liebknecht, von der es jedoch kein Bildmaterial gibt. Damit hatte nicht nur Erich Greiser, sondern auch der Verlag erneut Fotografiegeschichte geschrieben.


LR: Wie funktionierte das technisch bei Ullstein?

KB: Die Zeitung wurde im Verfahren des Rotationsdruck hergestellt. Die erste Rotationsmaschine, die gleichzeitig Bilder und Text drucken konnte, wurde ab 1902 für den Druck eben jener Berliner Illustrirten Zeitung eingesetzt. Dies funktionierte nach dem Druckprinzip „rund auf rund“. Das Bild wurde mit dem Verfahren der Autotypie reproduziert. Durch die sich ständig in eine Richtung drehenden Zylinder auf der Papierbahn konnte ein schnelleres Arbeitstempo erreicht werden als in Bogendruckmaschinen. Dies erlaubte eine hohe Auflage. Der spätere Chefredakteur Kurt Korff schildert die Entwicklung: „Als der Weltkrieg ausbrach, war die ‚Illustrirte‘ auf fast eine Million angewachsen, in der Zeit des Stellungskrieges rundete sie die Auflagenziffer von einer Million ab, sank in der Inflationszeit bis zu 450 000 herab, und stieg dann wieder, bis Ende 1926 eine Auflage von 1,75 Millionen erreicht wurde und damit ein Höhepunkt, wie er im Zeitschriftenwesen in Deutschland noch nie vorgekommen war.3


LR: Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Redaktion und Fotografen?

KB: Der Verlag Ullstein arbeitete zielgerichtet und sehr erfolgreich an seiner Strategie, die guten Pressefotografen an sich zu binden. In den 1920er Jahren wurden zunehmend Exklusivverträge abgeschlossen, bereits zu Beginn des Jahrhunderts entstanden große Fotoagenturen. Die Straßenfotografie löste die Atelierfotografie ab. In ihrem programmatischen Beitrag „Der Photograph als Journalist“ schrieb die BIZ am 14. Dezember 1919: „Der Photograph wandert für Euch um die Welt, um sie Euch nahe zu bringen. Er (steht) im Schusswechsel zwischen Spartakus und den Regierungstruppen. Und all dies nur, damit ihr überall dabei sein könnt, wo Ihr nicht dabei wart (…).4“ Es war eine entscheidende Zeit für die Presseverlage und die Pressefotografie, gleichzeitig entstand auch das Ullstein Bildarchiv. Dass Amateurfotografen wie Erich Greiser für so ein wichtiges Ereignis zum Zuge kamen, ist ungewöhnlich. Wir kennen einige Amateurfotografien der Revolution, bereits während des Ersten Weltkriegs hatte sich die Zahl der Amateurfotografen stark vermehrt. In dieser Zeit gab es viele Bilder von den verschiedensten Rednern5, meist waren Bildjournalisten zur Stelle, wenn Liebknecht, Ebert oder Scheidemann öffentlich sprachen. Greisers Aufnahme aber ist singulär.

LR: Wie schätzen Sie die Annahme ein, das Foto sei eine Montage?

KB: Aussagen über die Authentizität des Bildes lassen sich unter anderem durch die Position des Fotografen beim „Abdrücken“ machen. Wie der Fotohistoriker Dr. Ludger Derenthal vom Museum für Fotografie in Berlin annimmt6 und in dem Interview7 mit ullstein bild collection erörtert hat, stand Greiser vermutlich mit einer Faltkamera mit Rollfilm an der hinteren Brüstung der breiten Auffahrtsrampe zum Portal des Reichstags. Heute ist die Rampe nicht zugänglich. Ein Indiz, dass es sich nicht um eine Montage handelt ist laut Derenthal genau die an einer Stelle zwischen den jubelnden Menschen durchblitzende vordere Brüstung der Rampe. Es ist auch unwahrscheinlich, dass es sich um eine Montage handelte – das Foto ist in gewisser Weise technisch zu schlecht dafür. Es gibt ja aussagekräftige Fotomontagen aus der Zeit, insbesondere, wenn es sich um die Aufmacherbilder der Zeitung handelte. Mögliche Retuschen waren z.B. das Hervorheben des Kanonenrauchs, oder auch gestellte Szenarien, um beispielsweise das Kampfgeschehen zu illustrieren. Die Aufnahme Greisers hingegen ist im Vergleich zu Profifotos relativ unscharf und etwas unterbelichtet. Außerdem: Was hätte in der Redaktion oder beim Fotografen passieren müssen, um dieses Motiv zu fälschen? Dazu hätte man das Bild wiederum abfotografieren müssen und das abfotografierte Foto bearbeiten. Wenn man hier retuschiert hätte, würden wir es vermutlich direkt am Fotoabzug sehen.

Abb. 5: Spartakusaufstand in Berlin, Regierungstruppen, Januar 1919, Foto: Grohs © ullstein bild


LR: Wieso, denken Sie, hat dieses Bild ikonische Qualität?

KB: Zum einen ist gerade der Charme des Bildes, dass es sich quasi um einen Schnappschuss handelt, der einen wichtigen Moment festhält. Das Bild ist ja in großer zeitlicher Nähe zu Scheidemanns Auftritt am Reichstag publiziert worden. Aber vor allem ist es auch die symbolische Aufladung des Ortes, nicht nur des Redners. Das Bild wurde weiterverbreitet auf Postkarten und Abzeichnungen, die damals sehr populär waren. Gerade der Vergleich mit späteren Postkarten zeigt, dass das Foto, das im Ullstein Bildarchiv ist, dem verloren gegangenen Negativ wohl am nächsten kommt.


LR: Wie kann man sich die Arbeit mit so einem berühmten Foto bei Ihnen im Archiv vorstellen? Welche Anfragen werden an ullstein bild gerichtet?

KB: Das Foto wird z.B. von Schulbuchverlagen, Zeitungsredaktionen und Fernsehsendern regelmäßig angefragt. Sehr häufig sind wir dann mit der Annahme konfrontiert, das Bild sei eine Montage oder Fälschung. Und wir stellen diese Originalfotografie gerne für Ausstellungen zur Verfügung, wie viele andere Unikate der fotografischen Sammlung Ullstein bei ullstein bild.8


  1. Vgl. Mühlhausen, Walter: Die Ausrufung der Republik am 9. November 1918 durch Philipp Scheidemann, S. 31, Erfurt 2022 ↩︎
  2. Ullstein Verlag & Co, Berliner Illustrirte Zeitung vom 24. November 1918, Nr. 47, S. 372 ↩︎
  3. Kurt Korff, Die ’Berliner Illustrirte’, in: 50 Jahre Ullstein – 1877-1927, Berlin 1927, S. 301 ↩︎
  4. Bomhoff, Katrin: Berliner Revolutionsfotografien in der Sammlung Ullstein Bild, in: Derenthal, Ludger, Förster, Evelyn, Kaufhold, Enno: Berlin in der Revolution 1918/1919. Fotografie, Film, Unterhaltungskultur, S. 95, Dortmund 2018 ↩︎
  5. Vgl. https://www.axelspringer-syndication.de/artikel/berlin-der-revolution ↩︎
  6. Derenthal, Ludger: „Ein historischer Augenblick“. Philipp Scheidemann am 9.11.1918 auf dem Balkon des Reichstagsgebäudes, fotografiert von Erich Greiser (unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrages auf einer Tagung im Museum für Fotografie, Berlin, 1. März 2019; vom Autor dankenswerterweise zur Verfügung gestellt) ↩︎
  7. https://www.axelspringer-syndication.de/artikel/ausrufung-der-republik-1918 ↩︎
  8. https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/ausstellungen ↩︎

 

Dr. Lili Reyel

Dr. Lili Reyels ist Sammlungsleiterin Finanz- und Wirtschaftsgeschichte am Deutschen Historischen Museum.