Sammeln, bewahren, forschen: Einblicke in die Sammlungsarbeit des Deutschen Historischen Museums
Fritz Backhaus | 18. Dezember 2024
Der folgende Beitrag ist die Einführung in die neue Blogserie zur Arbeit der Sammlungen im Deutschen Historischen Museum (DHM), in der die unterschiedlichen Aspekte der Sammlungsarbeit dargestellt und beleuchtet werden sollen. Dabei geht es um zentrale Fragestellungen wie die Entscheidungen für oder gegen die Aufnahme von Gegenständen, die unterschiedlichen Wege der Zugänge, die sich ändernden Forschungsfragen an die Sammlungsobjekte, an die Erforschung der Herkunft der Objekte und viele weitere Aspekte.
Fritz Backhaus, Direktor der Abteilung Sammlungen seit Dezember 2017, setzt sich mit den komplexen Gründen für die Entscheidung, ein Objekt in die Sammlungen des DHM aufzunehmen, auseinander und beleuchtet die unterschiedlichen Aspekte, die zu einer solchen Entscheidung führen sowie die grundsätzlichen Prämissen des Sammelns in einem historischen Museum in Deutschland und die Folgen für die Sammlungen eines Museums.
Im Juni 2024 konnte ich das Inventarbuch für das Jahr 2023 unterschreiben. Zusammen mit den Unterschriften der Leiterin der Zentralen Dokumentation Dr. Brigitte Reineke und der zuständigen Mitarbeiterin Nina Bätzing wurde damit der Erwerb von 5.673 Objekten dokumentiert: ein dreibändiges, solide eingebundenes Rechtsdokument, das den Eigentumszuwachs eines Jahres rechtsverbindlich festhält. Jedes Jahr ein besonderer Akt, da es die Arbeit des Museums mit dem Versprechen verbindet, etwas für die „Ewigkeit“ zu schaffen und eine Reihe fortzusetzen, die in unserer Sammlung mit dem Inventarbuch des Jahres 1883 beginnt.
Rechnet man die von mir bislang unterschriebenen acht Inventarbücher zusammen, dokumentieren sie den Erwerb von über 50.000 Objekten. Weniger als die Hälfte davon waren Ankäufe auf Auktionen und von privaten Anbietern, immerhin bis zu zwei Dritteln Schenkungen. Dieser hohe Anteil zeigt das Vertrauen, das das DHM genießt, da viele der Angebote mit der Vergangenheit und den persönlichen Erinnerungen der Schenker und Schenkerinnen bzw. ihrer Familien zu tun haben und für diese mit positiven wie negativen Emotionen verbunden sein können.
Insgesamt sind bislang 786.000 Objekte der Sammlung in unserer Datenbank aufgeführt. Hinzu kommen vermutlich zwei- bis dreihunderttausend Sammlungsgegenstände, die vor allem aus Zeiten des Museums für Deutsche Geschichte (MfDG) stammen und noch nicht ins digitale Verzeichnis überführt werden konnten. Wenn man diese Zahlen und ihren jährlichen Zuwachs sieht, kommt einem vielleicht das Märchen vom „Süßen Brei“ in den Sinn. Durch einen Zauberspruch wächst und wächst er zur Freude aller, aber – als der Zauberspruch zum Stopp des Wachstums vergessen wird – hört er nicht mehr auf, sich zu vermehren und verschlingt die Stadt. Sammeln im Museum bedeutet daher auch, über „Grenzen des Wachstums“ nachzudenken. Jede Neuerwerbung löst andererseits unsere Neugier aus und bereichert unser Wissen über die Vergangenheit. Oder sie ist ein Zeugnis der Gegenwart, das eines Tages das Wissen kommender Generationen über unsere Zeit erweitern wird.
Hinter den Neuaufnahmen jeden Jahres stehen daher Entscheidungen, die von den Leiterinnen und Leitern der einzelnen Sammlungen vorbereitet und getroffen werden. Dutzende von Auktionskatalogen, Hunderte von Verkaufs- oder Schenkungsangeboten werden von den Kolleginnen und Kollegen gesichtet, bewertet und mit entsprechenden Begründungen zum Erwerb vorgeschlagen. Damit verbunden können intensive persönliche Gespräche mit den Anbietern sein, da es bei historischen Objekten vor allem auch darum geht, ihren Kontext, der ihre historische Bedeutsamkeit ausmacht, zu dokumentieren. Aber – und das stößt nicht immer auf Verständnis, viele Schenkungsangebote werden nach sorgfältiger Prüfung von uns abgelehnt.
Was liegt aber diesen Entscheidungen zugrunde? In der Stiftungssatzung von 2010 ist festgelegt, dass das DHM die „gesamte deutsche Geschichte in ihrem europäischen Zusammenhang“ darstellen soll und „der Erfüllung dieses Zweckes“ unter anderem „der Erwerb von Realien zur deutschen Geschichte sowie deren Inventarisierung, Dokumentation und erforderlichenfalls Restaurierung“ dient. Bei genauerer Betrachtung löst diese so klar scheinende Zwecksetzung eine Fülle von Fragen aus: Wann beginnt deutsche Geschichte: mit Germanen und Römern, mit Franken und Karl dem Großen oder mit den Humanisten des 16. Jahrhunderts, die erstmals so etwas wie Deutschland zu beschreiben und zu definieren suchten? Warum nur „europäischer Zusammenhang“? Was ist mit der deutschen Kolonialgeschichte, den Auswanderern nach Amerika, den in Bangladesch eröffneten Textilfabriken deutscher Firmen, den von in Deutschland verbrannten fossilen Brennstoffen mit seinen globalen Auswirkungen, der Rolle Deutschlands im Nah-Ost-Konflikt? Und: Welche Themen umfassen das Adjektiv „gesamt“ – politische, soziale, technische, künstlerische, ökonomische…? Und schließlich: Was sind eigentlich Realien, die wir ja sammeln, aufbewahren und erforschen sollen?
Der Begriff ist vor allem entwickelt worden, um Sach- und Bildzeugnisse der Vergangenheit von Archivgut und der schriftlichen Überlieferung zu unterscheiden – der Hauptquelle der Geschichtswissenschaften, deren Aufbewahrungsort in erster Linie das Archiv ist. Realien werden dagegen – sofern sie nicht in Privatsammlungen gelangt sind – in Museen aufbewahrt, die sich aus den Kunst- und Wunderkammern der frühen Neuzeit und den bürgerlichen Vereinsgründen des 19. Jahrhunderts entwickelt haben. Mit dem etwas altertümlich klingenden Begriff verbindet sich jedoch auch die Öffnung der Historiographie für die Erkenntnisse der Wissenschaften, die mit Dingen umgehen, so der Archäologie, der Kunst- und Bildwissenschaften, der europäische Ethnologie oder auch manche der Naturwissenschaften.
Die Vielfalt dessen, was Realien sein können, spiegelt sich in der Gliederung unserer Sammlung wider, die handwerkliche und technische Geräte, Werbetafeln, Spielzeug, Kleidung , Fahnen, Gemälde, Skulpturen, Plakate, Grafiken, Fotos, Möbel, Geschirr, Bücher, seltene Drucke, Dokumente, Münzen, Medaillen, Wertpapiere, Waffen, Uniformen umfasst – eine Aufzählung, die noch fortgeführt werden könnte. Bemerkenswert ist, dass es eigentlich keine spezifische Objektgruppe gibt, die nur im DHM zu finden ist: Unsere Sammlungen überschneiden sich mit den Sammlungen von Kunst- und kunsthandwerklichen Museen, Museen der europäischen Ethnologie, archäologischen Museen, Technik-, Kommunikations- Fotografie-, Plakat- und Militärmuseen. Aber es gibt eben auch (fast) keine Objektgruppe, die nicht in unserer Sammlung zu finden ist, und das ist ihre Stärke und Besonderheit. Die Zielrichtung ist nicht Vollständigkeit, sondern Vielfalt.
Das Museum verfügt heute über eine reichhaltige und facettenreiche Sammlung, die in großer Vielfalt deutsche Geschichte widerspiegelt und eine Quelle für eine unbegrenzte Anzahl von historischen Fragestellungen ist. Es ist bemerkenswert, dass in den Gründungskonzepten des DHM aus den 1980er Jahren von Beginn an klar war, dass das Museum eine Sammlung anlegen würde, es aber offenblieb, was eigentlich gesammelt werden sollte, d.h. man verzichtete auf ein explizites Sammlungskonzept. Als Orientierung für die Erwerbungen diente das umfangreiche inhaltliche Konzept für die geplante Dauerausstellung, das über hundert verschiedenen Themen und einen Zeitrahmen vom frühen Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert benannte.1 Schwerpunkt der Sammlungstätigkeit sollten – so die Erinnerungen der ersten Sammlungsmitarbeiterinnen – vor allem die geplanten Themenräume zur Sozialgeschichte sein, im Mittelpunkt stand aber das Ziel, materielle Grundlagen für eine Dauerausstellung zu schaffen. Aber es war allen bewusst, dass trotz eines zu Beginn üppigen Ankaufsetats der Aufbau einer nennenswerten Sammlung Jahrzehnte dauern würde.
Drei Jahre nach der Gründung machte der Mauerfall dies alles obsolet: Die letzte Regierung der DDR übereignete dem in West-Berlin vorgesehenen DHM das Zeughaus und die Sammlung des 1952 eröffneten MfdG der DDR: eine halbe Million „Sachzeugnisse“ (so der Terminus im MfDG für Realien) von der Urgesellschaft über den Feudalismus bis zur sozialistischen Gesellschaft der DDR.2 Darunter befand sich auch die Sammlung von Waffen, Uniformen und militärischen Abzeichen und Bildzeugnissen, die aus dem 1945 aufgelösten Armeemuseum stammten. Es war 1883 als preußisches Militärmuseum zum Ruhm der Hohenzollern eröffnet worden und konnte schon militärische Bestände übernehmen, die sich im Zeughaus, dem Waffenarsenal des preußischen Militärs, seit dem Beginn des 18. Jahrhundert angesammelt hatten. Die Sammlung des MfDG sollten Belegstücke zur Darstellung einer marxistisch-leninistischen Geschichtskonzeption zur Verfügung stellen, es ist aber unübersehbar, dass die Mitarbeitenden in ihrer Sammeltätigkeit ein über die ideologischen Vorgaben deutlich hinausgehendes Spektrum historischer Zeugnisse zusammentrugen. So repräsentiert unsere Sammlung zwar sehr unterschiedliche Geschichtskonzeptionen: von der Gründung als militärische Ruhmeshalle der Hohenzollern, über das NS-Armeemuseum, das sozialistische Museum deutscher Geschichte bis zum heutigen DHM mit seiner liberal-demokratischen Grundierung und einem offenen Konzept von Geschichte.
Aber es wäre zu kurz gedacht, die Objekte unserer Sammlung nur als Zeugnisse von Geschichtskonzeptionen zu sehen. Objekte besitzen eine eigene Widerständigkeit: Der Hut Napoleons, erbeutet in der Schlacht von Waterloo und aufbewahrt als Zeugnis des preußischen Triumphes, steht heute für die Entwicklung der „Marke“ Napoleon durch seinen schlichten Zweispitz, unverzichtbares Detail jeder Karikatur, er steht für die Modernisierung Deutschlands unter Napoleon, die Hunderttausende Opfer in einer 20jährigen Kriegszeit, die Hutmode um 1800 – die Liste ließe sich fortsetzen. Oder der von uns kürzlich in die Sammlung aufgenommene Klebstoff, der bei einer Aktion der „Letzten Generation“ zum Einsatz kam. In hundert Jahren wird er vielleicht nicht mehr als politisches Zeugnis interessant sein, sondern ein Beispiel für primitive Kleber. Die Beispiele zeigen ein wesentliches Charakteristikum der Objekte in unserem Museum. Sie erzählen uns keine Geschichte – wie es manchmal umgangssprachlich formuliert wird –, sondern sie sind Bedeutungsträger, Semiophoren, wie Krzysztof Pomian es definiert hat3 – Bedeutungen, die wir den Dingen zuschreiben und die die Grundlage der Entscheidung zu ihrer Aufbewahrung sind. Die Bedeutungen, die wir den Objekten zuschreiben, sind jedoch in einem Museum nicht beliebig. Sie müssen faktenbasiert sein, d.h. auf historischen Quellen beruhen, und mit den in den historischen Wissenschaften gültigen Methoden erarbeitet sein. Sie müssen sich damit aber auch dem kritischen Urteil der Wissenschaft und der Öffentlichkeit stellen.
Was für Museumsobjekte ebenfalls gilt: Die Bedeutungszuweisung und die Aufnahme in die Sammlung, verbunden mit Inventarisierung, Aufbewahrung, Restaurierung und Erforschung, entziehen das Objekt endgültig dem ökonomischen Prozess der Nützlichkeit von Dingen, die nach ihrem Verbrauch zu Abfall werden, der weggeworfen wird. Die Entscheidung, sie zu Museumsobjekten zu machen, schenkt ihnen in gewisser Weise ein neues, tendenziell ewiges Leben. So können auch Dinge, die im Mittelalter Abfall waren und in eine Latrine geworfen wurden, zu wertvollen Zeugnissen mittelalterlichen Lebens in einem modernen Museum werden. Deshalb fällt es mir ebenso wie vielen Kolleginnen und Kollegen auch sehr schwer, Museumsobjekten ihre museale Bedeutungszuschreibung wieder zu nehmen, sie – so die hässliche Bezeichnung – zu „entsammeln“, ausgenommen sie lassen sich konservatorisch nicht mehr erhalten. Als Sachwalter einer Zukunft, die wir nicht kennen können, fühlen wir die Verpflichtung, künftigen Museumsgenerationen Dinge zu erhalten, deren Bedeutung erst sie vielleicht erkennen und definieren können. Dahinter steht auch bei unseren Erwerbungen die Frage, welche Dinge der Gegenwart sollen wir aufbewahren – eine schwierige Entscheidung in einer Welt, in der jeder vom Baby bis zum Greis im Schnitt 10.000 Dinge besitzen soll.
Die Bedeutungen, die wir einem Objekt zuschreiben, sind eng verbunden mit der Dokumentation der Herkunft und der „Geschichte“, die dem Objekt widerfahren ist. Seit den 1990er Jahren mit dem wachsenden Bewusstsein über den hundertausendfachen Kulturdiebstahl der Nationalsozialisten wurde die Erforschung der Provenienz und die Klärung des rechtmäßigen Erwerbs der Objekte in einer Sammlung zu einer zentralen ethischen Forderung in der Museumsarbeit, zuerst niedergelegt in den „Washington Principles“ von 1998. Es geht um die Rekonstruktion von Unrechtskontexten im Erwerb der Objekte und gegebenenfalls die Einleitung von Restitutionen an die Erben der Beraubten und häufig auch Ermordeten. Ein Spezifikum unserer Sammlung stellen aber die Zugänge aus der Zeit des MfDG dar, die z.B. aus Beschlagnahmungen der Staatsorgane stammten. Hierüber wissen wir noch zu wenig. Über von uns initiierte Forschungsprojekte versuchen wir jedoch, grundlegendes Wissen zu erlangen. Sammeln ist so mit ethischen und rechtlichen Fragen verbunden, die man auf die einfache Formel bringen könnte: Wir möchten kein Diebesgut in unserer Sammlung haben.4
Die Sammlung ist nicht nur ein jährlich wachsendes Gebilde, sie ist vor allem Produkt eines nicht abreißenden Diskussionsprozesses: Was macht ein Objekt zu einem Objekt des DHM? Was bewahren wir aus unserer Gegenwart auf und wie gehen wir mit neuartigen Zeugnissen wie original digitalen Objekten um? Wie bewahren wir die Objekte dauerhaft, reduzieren aber auch die damit verbundene Belastung unserer Umwelt? Wie erschließen wir das reiche Wissen besser, das in den Objekten verborgen ist?
Was nicht zu vergessen ist: Sammeln in einem Museum ist ein sehr praktischer Prozess, in dem es um die Materialien wie Holz, Kunststoff oder Papier, verbesserte Aufbewahrungsmethoden oder Sicherheit vor Diebstahl und anderen Katastrophen geht. Es ist gleichzeitig ein intensiver permanenter Austausch über gesellschaftliche Ziele, historische Konzepte und die Grundlagen historischer Urteilskraft – ein Prozess, den jede Generation fortführt, und der in unserm Museum auf 200 Jahren Sammeln basiert.
[1] Konzeption für ein Deutsches Historisches Museum – Überarbeitete Fassung, in: Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven, hg. Von Christoph Stölzl, Frankfurt am Main, Berlin 1988, S. 609 – 636
[2] Zur Geschichte des Museums s. zuletzt Klaudia Charlotte Lenz, Matthias Miller, Zeiten und Seiten. 200 Jahre Bibliotheken im Berliner Zeughaus, Berlin 2022; Thomas Weißbrich, Ein Berlin Zeughaus und vier deutsche Geschichtsmuseen, in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 32, 2025, mit weiterführender Literatur (in Vorbereitung)
[3] Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988
[4] Vgl. Ethische Richtlinien für Museen von ICOM, hg. von ICOM Schweiz, 2010
Fritz BackhausFritz Backhaus ist Abteilungsdirektor Sammlungen am Deutschen Historischen Museum. |