Privates und öffentliches Sammeln

Die Bibliothek des Reichsgrafen Joachim von Ortenburg und die Sammlungspraxis der Bibliothek des Deutschen Historischen Museums

Dr. Matthias Miller | 12. März 2025

Im Rahmen der Blogserie zur Arbeit der Sammlungen im Deutschen Historischen Museum (DHM) geht es um zentrale Punkte wie den Entscheidungen für oder gegen die Aufnahme von Objekten, um die unterschiedlichen Wege der Zugänge, die sich ändernden Forschungsfragen an die Sammlungen, an die Erforschung der Herkunft der Objekte und viele weitere Aspekte.

Die Bibliothek des DHM sammelt und bewahrt Werke, die für das Verständnis der deutschen Geschichte und Kultur von zentraler Bedeutung sind. Bibliotheksleiter Matthias Miller erläutert die Sammlungspraxis der DHM-Bibliothek an einem ausgewählten Beispiel.

Abb. 1: Porträt Joachim von Ortenburg im Alter von 46 Jahren, 1576 (auf den Hinterspiegel geklebter Kupferstich in DHM-Bibliothek, RA 98/1651)

Der niederbayerische Reichsgraf Joachim von Ortenburg (1530–1600) [Abb. 1] war ein begeisterter Sammler von Büchern. Als er am 19. März 1600 kinderlos starb, hinterließ er eine große Bibliothek von etwa 550–600 Bänden. Zu diesen gehörten zunächst solche, die er während seines Studiums 1543–1545 in Ingolstadt benötigte. Dann solche, die während seines Jurastudiums 1545–1548 in Padua hinzukamen und später Bücher, die sich mit seiner Familiengeschichte, der Geschichte allgemein und der Theologie beschäftigten. Als humanistisch gebildeter Adeliger scheute er auch vor Texten auf Latein oder Griechisch nicht zurück. Die Sammlung der Bücher erfolgte stets zweckgebunden. Von seinem Vater „erbte“ er einen seit 1549 schwelenden Prozess vor dem Reichskammergericht, in dem es um die Frage der Reichsunmittelbarkeit der Grafschaft Ortenburg ging, ob also Ortenburg dem Kaiser direkt oder mittelbar zunächst den Herzögen von Bayern unterstellt sei. Außerdem war es Joachim von Ortenburg wichtig, seine Familie vom sogenannten Uradel herzuleiten, also von den Adelsgeschlechtern, die spätestens im Jahr 1400 diesem Stand angehörten. Hierfür betrieb Joachim von Ortenburg umfangreiche Studien zu seiner Familiengeschichte, die ihn auch veranlassten, ein Buch über die französischen Großhofmeister aus dem Jahr 1555 zu erwerben, in dem sein angeblicher Vorfahre Arnulphe de Artemberg, um 900 Graf von Paris, neben einer Abbildung seines Wappens erwähnt wird. Zentrales Anliegen war ihm jedoch die Religion. Wahrscheinlich beeinflusst von seinem Schwager Ulrich Fugger, konvertierte Joachim von Ortenburg 1563 zum Protestantismus und führte diese Glaubensrichtung gemäß dem seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 geltenden Rechtsprinzip cuius regio, eius religio – wessen Gebiet, dessen Religion – auch in seiner kleinen Grafschaft ein, was für die Herzöge von Bayern natürlich ein Affront war. Ein Geschenk Ulrich Fuggers aus dem Jahr 1561, eine zweibändige Pracht-Bibel in der Übersetzung Martin Luthers, 1534 von Heinrich Steiner in Augsburg auf Pergament gedruckt, könnte der Auslöser für den Konfessionswechsel zwei Jahre später gewesen sein (DHM-Bibliothek, RA 92/2968 -1 und RA 92/2968 -2). [Abb. 2,1 und 2,2] Dies alles wissen wir – neben archivischen Quellen – aus Besitzeinträgen und anderen Randbemerkungen in den Büchern von Joachim von Ortenburg, die sich seit 1600 erhalten haben. Das Sammeln von Büchern hatte für ihn persönlich also nicht nur politische, religiöse und genealogische Gründe, sondern die Bücher dienten ihm auch als strategische Instrumente in den Konflikten seiner Zeit.

Abb. 2,1: Biblia, Das ist die gantze heilige Schrifft Deudsch. – Augsburg: Heinrich Steiner, 1535 (sogenannte Ortenburg-Bibel), Bd. 1, Titelblatt (DHM-Bibliothek, RA 92/2968 -1)
Abb. 2,2: Das New Testament. – Augsburg: Heinrich Steiner, 1535 (sog. Ortenburg-Bibel), Bd. 2, Titelblatt (DHM-Bibliothek, RA 92/2968 -2)

Heute, Jahrhunderte nach seinem Tod, versucht die Bibliothek des DHM, die wertvollen Bestände aus seiner Sammlung, die nach einer Auktion im Jahr 1999 weit verstreut sind, nicht nur virtuell zu rekonstruieren, sondern auch, sofern sie ins Sammlungsprofil passen, real zu erwerben. Dies wirft Fragen auf, wie das Sammeln von Büchern damals – im 16. Jahrhundert – im Vergleich zu den modernen Bestrebungen des DHM, historische Sammlungen zusammenzuführen und zu bewahren, verstanden werden kann.

Das Sammeln an sich lässt sich nach Manfred Sommer (Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt/Main, 1999) in zwei Kategorien einteilen: das ökonomische Sammeln (mit dem späteren Verschwinden), wie etwa das Sammeln von Pilzen, sowie das ästhetische Sammeln (mit dem Ziel des dauerhaften Bewahrens), wie z.B. bei Gemälden. Beiden Sammlungen gemein ist, dass sie gezeigt sein wollen: die Pilze vor dem Kochen als Ausdruck des Finderglücks, die Bilder an heimischen Wänden als Ausdruck der Kunstbeflissenheit. In welchen Bereich jedoch gehören Bücher? Sind sie Objekte des ökonomischen Sammelns oder des ästhetischen? Wollen sie gezeigt werden oder sollen sie, nur mit dem Buchrücken sichtbar, im Regal stehen? Und welche Art des Sammelns ist Auftrag einer Museumsbibliothek wie der des DHM?

Waren die Sammlungspraktiken von Joachim von Ortenburg im 16. Jahrhundert noch stark von seinen politischen und religiösen Zielen geprägt, verfolgt die Bibliothek des DHM einen anderen, historisch und kulturell orientierten Ansatz. Das DHM ist das zentrale Geschichtsmuseum in Deutschland und seine Bibliothek dient in erster Linie der wissenschaftlichen Forschung und der kulturellen Bildung. Die Bibliothek des DHM sammelt und bewahrt Werke, die für das Verständnis der deutschen Geschichte und Kultur von zentraler Bedeutung sind. Wie erwähnt ist es die laufende Bemühung der DHM-Bibliothek, die verstreuten Bestände aus der Bibliothek von Joachim von Ortenburg wieder zusammenzutragen, sei es virtuell oder real. Diese Aufgabe stellt eine spannende Herausforderung dar, denn die Bände, die nun weit verstreut sind, repräsentieren nicht nur ein bedeutendes kulturelles Erbe, sondern sind auch eine Brücke zwischen der Sammlungspraxis des 16. Jahrhunderts und der modernen Museumsarbeit.

Aus professioneller Sicht, also aus Sicht derjenigen, die beruflich damit beauftragt sind, eine Sammlung von Büchern zur deutschen Geschichte zu betreuen und zu erweitern, ist festzustellen, dass das Sammeln und auch das Nichtsammeln von Büchern zu einem so weiten Gebiet wie der deutschen Geschichte eine enorme Herausforderung darstellt, gerade weil es keine inhaltlichen, zeitlichen oder formalen Einschränkungen gibt. Eine Spezialisierung in der Sammlung ist daher geboten, vor allem, weil dem Büchersammeln darüber hinaus neben ökonomischen Grenzen – die eigentliche Erwerbung kostet wie die Inventarisierung und die Erschließung der Bestände Geld – auch ökologische Hindernisse entgegenstehen: Bücher müssen transportiert, auf lange Zeit klimatisiert gelagert sowie ggf. restauriert werden, was alles zusätzliche Ressourcen verbraucht.

Abb. 3,1: Raphael Seiler (Hrsg.): Camergerichts Bei- und Endurthail. – Frankfurt (Main): Martin Lechler, 1572, Teil 1, Titelblatt (DHM-Bibliothek, RA 98/1651 -1/2.1)
Abb. 3,2: Raphael Seiler (Hrsg.): Camergerichts Bei- und Endurthail. – Frankfurt (Main): Martin Lechler, 1574, Teil 2, S. 205 (DHM-Bibliothek, RA 98/1651 -1/2.2) mit der Bemerkung von Joachim von Ortenburg: Ortenburg Exemption Urtl contra Beyrn

Aber wo immer es sinnvoll und machbar ist, wird die Bibliothekssammlung um passende Objekte entweder aus inhaltlicher und formaler Sicht oder auch aufgrund einer bedeutenden Herkunft ausgebaut. Und so kam im Jahr 1992 die zu Beginn bereits erwähnte sogenannte Ortenburg-Bibel in den Bestand der DHM-Bibliothek und bildete den Auftakt einer kleinen Spezialsammlung innerhalb der großen Büchersammlung des DHM. Aus der oben erwähnten Auktion 1999 hat das DHM einen weiteren Band aus der Ortenburger Bibliothek hinzuerwerben können. [Abb. 3,1 und 3,2] Ganz im Sinne des ausgewählten Sammelns, Aussonderns und Neues oder Anderes sammeln, wiederholt sich der Kreislauf bei Büchern in Privatbesitz und im Handel etwa alle 25–30 Jahre. Dies hängt mit der Dauer einer Generation zusammen und der Auflösung von Sammlungen nach dem Tod des Sammlers oder der Sammlerin. Seitdem nun nach 25 Jahren immer mal wieder Bände aus der Ortenburger Bibliothek im Handel auftauchen, versucht das DHM (wenn es preislich realisierbar ist), sie für das DHM zu kaufen. Denn die Bücher verraten immer auch etwas über den Menschen Joachim von Ortenburg, der sie ursprünglich einmal gesammelt hatte. Markant für seine Bücher sind die zahlreichen Besitzeinträge, Unterstreichungen und Randbemerkungen, denn Joachim von Ortenburg hatte immer eine Feder beim Lesen in der Hand und hat sich in seinen Büchern ausführlich verewigt. Inzwischen besitzt das DHM zwanzig Titel aus seiner Bibliothek, darunter als Erwerbung im Jahr 2024 auch den Catalogue des tres illustres Grandsmaistres de France von Jehan Le Féron (Paris: Michel de Vascosan, 1555; DHM-Bibliothek, RA 2024/12), den Band, in dem Joachim von Ortenburg seinen frühen Vorfahren Arnulphe de Artemberg mit dem Ortenburger Wappen entdeckt und mit einem Eintrag markiert hat. [Abb. 4,1 und 4,2]

Abb. 4,1: Jehan le Féron: Catalogue des tres illustres Grands-Maistres de France … – Paris: Michel de Vascosan, 1555, Titelblatt (DHM-Bibliothek RA 2024/12)
Abb 4,2: Jehan le Féron: Catalogue des tres illustres Grands-Maistres de France … – Paris: Michel de Vascosan, 1555, S. 19 (DHM-Bibliothek RA 2024/12)

Während Joachim von Ortenburg seine Sammlung zeit seines Lebens als persönliche Ressource betrachtete, die er aktiv pflegte und nutzte, erfolgt das Sammeln und Bewahren im DHM heute unter dem Gesichtspunkt des kulturellen Erbes und des historischen Bewahrens. Die Rückführung von verstreuten Beständen aus Ortenburgs Sammlung durch das DHM verdeutlicht den modernen Ansatz des „aktiven Sammelns“: Anstatt einzelne Sammlungsstücke nur als private Besitztümer zu betrachten, wird heute großer Wert darauf gelegt, historische Sammlungen zu rekonstruieren und zu bewahren, um das kulturelle Erbe einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Das DHM verfolgt hier die langwierige und oft komplexe Arbeit, die nicht nur auf den Erwerb von Büchern abzielt, sondern auch auf die Wiedervereinigung und den Erhalt einer historischen Sammlung, die durch Versteigerungen und private Verkäufe auseinandergerissen wurde. Das Sammeln von Büchern wird dabei von einem institutionellen Interesse geprägt, das darauf abzielt, Wissen zu bewahren und die historische Bedeutung von Sammlungen und ihrer Provenienzen im Kontext der Geschichte Deutschlands für zukünftige Generationen zu sichern. Joachim von Ortenburgs Bibliothek war ein privater und exklusiver Ort, zu dem der Zutritt und die Nutzung auf den Grafen, seine Familie und seine engsten Berater beschränkt war. In der heutigen Zeit sind Bibliotheken wie die des DHM öffentlich zugänglich und dienen der wissenschaftlichen und kulturellen Bildung der Gesellschaft. Der Versuch der Rekonstruktion der Bibliothek Joachim von Ortenburgs durch das DHM ist somit auch ein Schritt hin zur breiteren Zugänglichkeit und dem Teilen des kulturellen Erbes. In diesem Sinne dient ästhetisches Sammeln von Büchern auch dem öffentlichen Zeigen und Ausstellen. [Abb. 5]

Abb. 5: Wappenexlibris der Reichsgrafschaft Ortenburg (auf den Vorderspiegel geklebter Kupferstich in DHM-Bibliothek, RA 16/1595)

Bibliothek des Deutschen Historischen Museums
Zugang: Hinter dem Gießhaus 3, 10117 Berlin
Mo-Do 9-16 Uhr, Fr 9-13 Uhr

© DHM/Thomas Bruns

Matthias Miller

Matthias Miller ist Leiter der Bibliothek und der Sammlung Handschriften / Alte und wertvolle Drucke am Deutschen Historischen Museum.