Wie Revolutionen enden

Heute vor 140 Jahren wurde Josef Stalin geboren. PeterLicht beschäftigt sich in seiner Kolumne mit einem der mächtigsten Menschen des 20. Jahrhunderts und seinem Tod.

Jede Revolution ist das Ende von etwas, das es vor der Revolution einmal gegeben hatte. Oft, das muss man sagen, ist es ein vielfaches Ende. Und oft sind es Menschen, die enden. Also man könnte auch sagen: diese Menschen sind dann tot. In der russischen Revolution zum Beispiel Zar Nikolaus II. und noch geschätzt weitere acht Millionen andere. Die waren dann tot. Das ist furchtbar. Was man beobachten kann: irgendwann enden auch die Revolutionen. Oft enden sie mit den Menschen, die die Revolution betrieben haben. Also man kann sagen, diese Menschen sind dann auch tot. Revolutionen sind ein Großphänomen des Verschwindens. Man weiss nicht so recht, wann die russische Revolution verschwand. Mmmh was soll man sagen? Also was man sagen kann: irgendwann endete Lenin. Dann übernahm Stalin. Man könnte vielleicht sagen, dann ging es erst richtig los. Aber als Stalin dann verschwand – das war dann schon ein Ende.

Interessant ist, wie die Leute enden, mit deren Ende dann auch die Revolutionen enden. Also wie die Leute enden, die Revolutionen betreiben und die dazugehörige Beendigung der anderen Menschen. Also zum Beispiel Stalin.

Stalin hatte einen Herzinfarkt. Und er lebte noch. Er lag in seinem grossen Bett im Diktatorenschlafzimmer seiner Prunkdatscha, draussen vor den Toren seiner Hauptstadt (Moskau). Niemand traute sich zu ihm ins Zimmer. Denn man wusste: wer das Falsche tat, war tot. Viele Menschen hatte Stalin töten lassen, weil sie das Falsche getan hatten. Was das Falsche war, das aber wusste niemand. Deshalb ging niemand rein ins Zimmer zum sterbenden geliebten Arbeiterführer. Wen man auch fragen würde, was das Falsche sei, keiner hätte es einem sagen können. Klar war nur: danach zu fragen konnte auch schon das Falsche sein. Also ließ man es vielleicht besser und blieb draussen vor der Tür. Denn eins war auch klar: wusste man schon beim gesunden Diktator nicht, was das FALSCHE war, so konnte man beim kranken Diktator, der jetzt ja auch noch eine tödliche Krankheit  an der Backe hatte (Herzinfarkt), noch nicht einmal ahnen, was das FALSCHE war. (Man wusste es nicht: vielleicht war der Diktator unzufrieden mit seinem Infarkt und er würde sein Herz falsch finden und sich bei jedem und allem falsch fühlen, was zur Tür hereinkäme. Also zum Beispiel auch bei einem selber, wenn man derjenige wäre, der ins Diktatorenschlafzimmer hereingelaufen käme). Vielleicht wäre jeder, der zur Tür reinkäme ein FALSCHER und müsste wieder richtig gemacht werden. Also tot. Das war der Grund, warum alle einfach besser draußen warteten vor der Tür zum Schlafzimmer, in dem das große Bett stand mit dem Diktator drin und seinem gebrochenen Herzen.

Also alle warteten draußen vor der Tür. Man hatte schon länger nichts mehr gehört drinnen. Keine Geräusche. Kein Ächzen oder Stöhnen. Die Zeit dehnte sich. Man stand beieinander: die Leibwachen, die Leibärzte, die Diener, die Zofen, irgendwelche Beamte und Militärs, die ganze Diktatoren-Posse. Und, Überraschung, mittendrin: Ich. Häh?! Ich hatte keine Ahnung warum. Aber ich stand da. Was auch immer es damit auf sich hatte: Ich war inmitten der Dikatoren-Posse. Ok. Wartend vor der Tür, durch die man in das Zimmer gelangen konnte, in dem ein immer stiller werdender Diktator und Massenmörder lag. Also wenn man reingegangen wäre, in das Zimmer.

Ich weiss nicht mehr genau, wer es sagte, aber irgendwer sagte, dass jetzt mal jemand reingehen sollte um nachzuschauen, was so Sache sei. Die Situation wurde zunehmend unerträglich.

Mmmh ahh ok ähh, wer hätte Lust reinzugehen zum Stalin? Mhhm mhhm mhhhmm.

Niemand.

Alle, die an der Türe versammelt waren, blickten unbestimmt in die Tapeten und Kronleuchter. Ehrlich gesagt weiss ich nicht mehr, ob tatsächlich jemand die Frage gestellt hatte oder ob es nur eine kollektive Vorstellung war. Vermutlich sprach niemand die Frage aus. Sie hing wohl einfach in der Luft.

Also wer jetzt? Wer geht rein? Hört mal Leute, da drinnen liegt der Stalin mit seinem Herzinfarkt rum, vielleicht braucht der was!?

Jetzt war es schon ziemlich länger sehr ruhig drinnen im Herzinfarktzimmer. Man könnte sagen, es war totenstill. Aber trotzdem wollte niemand derjenige sein, welcher. Die Zeit verging. Irgendwann beschloss man dann, dass der Mutigste reingehen möge. Das wurde aber auch nicht so richtig ausgesprochen. Auch das ergab sich so.

Also gut, es war so:  Als sich länger überhaupt gar nichts mehr regte im Stalinschlafzimmer, wurde der Mutigste vorangeschickt. Ich weiss nicht mehr warum, aber das war: ICH. (Ich weiss nicht, warum). Der Mutigste öffnete sachte die Tür und betrat das Zimmer. Dort stand er, also ich, alleine und schweißgebadet mit klopfendem Herzen vor einer Leiche mit Schnäuzer. Ui-jui-jui, jetzt nur nicht das Falsche machen!, dachte ich mir. Ich nahm die Hand.

Ah Gottseidank, tot isser. Puh, Glück muss man haben! Der Diktator is aus.

Ja, das also war das Ende der Geschichte des großen Diktators und der grossen Revolution. Der Rest ist Geschichte. Die Geschichte hieß dann Chruschtschow oder Breschnew, später Gorbatschow und Jelzin. Mittlerweile heißt die Geschichte Putin. Oder Trump oder Saddam oder Assad oder Kim Jong-Un oder wie sie alle heissen. Niemand traut sich zu ihnen ins Zimmer. Erst wenn sich drinnen länger nichts mehr regt, wird jemand hineingeschickt. Es ist dann der Mutigste, der sachte die Türklinke runterdrückt und vorsichtig den Raum betritt.

PeterLicht

Der Musiker, Autor, Dramatiker und Kolumnist PeterLicht bewegt sich in seiner Arbeit zwischen den Polen: Utopie, Pop, Drama, soziale Skulptur, Kapitalismus und Schnäppchenmarkt »wobei am Ende was rauskommen soll, was vielleicht schön ist«.
PeterLichts Kolumnen für die Süddeutsche Zeitung erschienen unter dem Titel „Lob der Realität“. Sein letztes Theaterstück für das Theater Basel wurde zur Biennale 2017 nach Venedig eingeladen. 2018 wurde ihm die Liliencron-Poetikdozentur verliehen. Sein neues Album heißt „Wenn Wir Alle Anders Sind“. Mehr unter www.peterlicht.de