Staatsstreich per Fernschreiben
Die „Walküre“-Pläne und das Attentat vom 20. Juli 1944
Thomas Jander | 19. Juli 2019
Der 20. Juli 1944 markiert einen bedeutenden Tag für den Widerstand gegen das NS-Regime. Unter dem Decknamen „Walküre“ organisierten mehrere hochgestellte Offiziere ein Attentat auf Adolf Hitler und den Umsturz der Regierung. Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg übernahm dabei die Aufgabe, eine Sprengladung neben Hitler zu deponieren. Das Attentat scheiterte – das Zeichen für den aktiven Widerstand blieb, wie Thomas Jander, Sammlungsleiter Dokumente im DHM-Blog berichtet.
Als Adolf Hitler nach dem Sieg gegen Frankreich in Paris eine Militärparade abnehmen wollte, war angeblich ein Attentat auf ihn geplant: Der Oberleutnant des Potsdamer Infanterieregiments 9, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg (1902 – 1944), später Teil der Militärverschwörung, wollte ihn beim Vorbeimarsch erschießen. Ob es diesen Plan wirklich gab, lässt sich heute nicht mehr sicher feststellen. Sicher ist aber, dass Hitler nie populärer war als im Juni 1940. Wäre dieser Anschlag erfolgreich gewesen, hätte das NS-Regime davon vermutlich mehr profitiert, als dass es in Gefahr geraten wäre.
Fest steht auch, dass die Zustimmung zur Regierung der Nationalsozialisten und damit zur Person Hitlers vier Jahre später deutlich schwächer war: Überall zog sich die Wehrmacht zurück und die permanente Bombardierung deutscher Städte hatte die einstige Euphorie der Bevölkerung vielfach in stumpfe Gefolgschaft verwandelt. Standen also im Sommer 1944 die Chancen besser, Hitler zu stürzen, NS-Diktatur und Krieg zu beenden und damit auch Völkermord und Holocaust zu stoppen?
Davon zumindest gingen einige regimegegnerische Offiziere und Zivilpersonen aus bzw. sie sahen in der Tötung Hitlers die letztlich einzige Möglichkeit, diese Ziele zu erreichen. Doch ohne die Entmachtung des Regimes, wäre ein (erfolgreicher) Anschlag allein völlig nutzlos. Zwar schwebten militärische Umsturzpläne schon 1938/39 durch die Gruppen um Hans Oster (1887 – 1945) und Wilhelm Canaris (1887 – 1945) (Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht) oder Ludwig Beck (1880 – 1944) und Franz Halder (1884 – 1972) (Generalstab des Heeres) in der Luft, doch mangelte es der „ersten Generation“ der Militäropposition an Kräften zu deren Umsetzung.
Aufbruch zum Umsturz
Die Situation wandelte sich 1940 mit der Ernennung des Regimegegners Friedrich Olbricht (1888 – 1944) zum Chef des Allgemeinen Heeresamts (AHA) beim Befehlshaber des Ersatzheeres (BdE) in Berlin, mit dem nunmehr ein Zugriff auf die innerhalb des Deutschen Reiches stationierten Truppen möglich war. Im Kriegswinter 1941/42 hatten sich die Verluste der Wehrmacht so stark erhöht, dass man im AHA Pläne mit der Tarnbezeichnung „Walküre“ erarbeitete, die schnellstmöglich Nachschub an Soldaten mobilmachen sollten. Olbricht erweiterte ab Mai 1942 „Walküre“ zu einem Einsatzplan, der nicht nur das Ersatzheer auffüllen, sondern Teile desselben gegen innere Unruhen, etwa durch revoltierende Kriegsgefangene, aufmarschieren lassen sollte. Es brauchte aber zahlreiche Überarbeitungen, um diese Pläne zu einem Staatsstreichinstrument zu machen. Und es brauchte Akteure, die das damit verbundene hohe Risiko nicht scheuten.
Mit Henning von Tresckow (1901 – 1944) kam im Sommer 1943 ein entschlossener oppositioneller Frontoffizier zu Olbricht und begann, die Pläne zu aktualisieren und vor allem die Schaffung von Alarmeinheiten im Ersatzheer aufzustellen, so dass schließlich die offiziellen „Walküre“-Befehle vom 31. Juli 1943 entstanden. Im September ging Tresckow zurück an die Front und für ihn übernahm Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907 – 1944) die weitere Änderung der Alarmpläne für einen Staatsstreich. Beide kannten sich zwar seit 1941, hatten aber durchaus unterschiedliche Zugänge zum Widerstand gefunden. Tresckow war Protestant und Preuße, Stauffenberg Katholik und Schwabe, beide adelig und Offiziere im Generalstab. Während Tresckow aber bereits im Sommer 1941 durch den „Kommissarbefehl“ zum Regimegegner wurde, erkannte Stauffenberg erst allmählich das Verbrecherische des Krieges und der Herrschaft der Nationalsozialisten. Nach einer schweren Verwundung in Afrika im April 1943, wurde er die treibende Kraft des militärischen Widerstands. Als Olbrichts Stabschef vervollständigte er ab dem 1. September 1943 fortlaufend die „Walküre“-Pläne. Die durch Tresckow ausgearbeiteten Befehle lagen seit Anfang August bei den Wehrkreisbefehlshabern (1944 war das Reich in 17 Wehrkreise gegliedert) und diese mussten jeden Freitag die Stärke und Einsatzfähigkeit der „Walküre“-Einheiten der Dienststelle Olbrichts melden. So entstand im AHA ein genaues und aktuelles Bild über die für den Umsturz verfügbaren Truppen.
Die „Walküre“-Pläne
Die Auslösung von „Walküre“ sollte per Fernschreiben erfolgen, zunächst die Einsatzbereitschaft innerhalb von sechs Stunden herstellen, die Einheiten zu Kampfgruppen zusammenfassen und zu ihren Zielen leiten. Diese Ziele wurden in den Zusatzbefehlen genannt, die vor allem Claus von Stauffenberg sowie dessen Bruder Berthold Schenk Graf von Stauffenberg (1905 – 1944) ausgearbeitet hatten und den eigentlichen Hintergrund für den Staatsstreich bildeten.
Ein erstes Fernschreiben erklärte den Ausnahmezustand, begann mit den Worten:
„Der Führer Adolf Hitler ist tot!“
und fuhr fort, dass:
„Eine gewissenlose Clique frontfremder Parteiführer [hat versucht] der schwerringenden Front in den Rücken zu fallen“.
Damit wurde die vollziehende Gewalt im Reich auf die Wehrmacht übertragen und alle folgenden militärischen Aktionen legitimiert. Unterschrieben war das Fernschreiben von Erwin von Witzleben (1881 – 1944), als Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Witzleben war zwar in die so genannte „Führerreserve“ versetzt, hatte aber, so hoffte man, genug Autorität und Ansehen, um auch bei Fronttruppen Anerkennung zu finden.
Im zweiten Fernschreiben war die Besetzung wichtiger Kommunikationsanlagen (Sender, Verstärker-, Telegrafen- und Fernsprechämter etc.), die Verhaftung und Amtsenthebung der Gau- bis Kreisleiter auf Partei- und die höheren Führer auf SS-Ebene, die Besetzung und baldige Auflösung der Konzentrationslager, die Eingliederung der Waffen-SS in die Wehrmacht befohlen. Der letzte Satz dieses Schreibens verbot Racheakte und schloss:
„Die Bevölkerung muss sich des Abstandes zu den willkürlichen Methoden der bisherigen Machthaber bewusst werden.“
Damit war die Gegnerschaft zum Hitlerregime deutlich gekennzeichnet.
Es folgten in vier weiteren Fernschreiben, mehrere, vor allem von Berthold von Stauffenberg ausgearbeitete Standrechtsverordnungen, in denen unter anderem das Tragen von Waffen verboten, das Weiterführen der Arbeit (in Betrieben, Behörden etc.) befohlen, Strafmaßen und Gerichtsbarkeit festgelegt wurden. Mit diesen Befehlen ausgestattet, sollten nun die jeweiligen Kampfgruppen gegen die ihnen angewiesenen Ziele vorgehen.
Die Durchsetzung der Befehle sollte in den Wehrkreisen durch zuverlässige und eingeweihte Verbindungsoffiziere und in den zivilen Behörden von „Politischen Beauftragten“ abgesichert werden. Seit längerer Zeit waren über Beck und Oster Kontakte zu zivilen Widerstandsgruppen, wie der um Carl Friedrich Goerdeler (1884 – 1945) oder dem „Kreisauer Kreis“ mit den Offizieren um Tresckow und Stauffenberg hergestellt worden, so dass ein verzweigtes und gleichsam heterogenes Widerstandsgeflecht entstand.
Handeln unter Zugzwang
Die Pläne waren zu Jahresbeginn 1944 vorhanden, nur fehlte ein Attentäter. Verschiedene Personen und Versionen erwiesen sich als ungeeignet, so dass die Zeit mehr und mehr drängte. Durch die Verhaftung einiger Verschwörer (u.a. im Januar Helmut James Graf von Moltke (1907 – 1945), im Juli Julius Leber (1891 – 1945) verschärfte sich die Lage zusätzlich. Als Stauffenberg dann ab dem 1. Juli 1944 als Stabschef des BdE persönlich Zugang zu den Lagebesprechungen in Hitlers Hauptquartier hatte, traf er die Entscheidung, das Attentat selbst auszuführen. Zwar wird der Mitverschwörer Adam von Trott zu Solz (1909 – 1944) später vor dem Volksgerichtshof eine „Torschlusspanik“ bei Stauffenberg bestätigen und auch Tresckow soll im Juli 1944 gesagt haben:
„[…] es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat.“.
Dennoch verstrichen mehrere Möglichkeiten, am 6., 11. und 15. Juli, weil neben Hitler auch Hermann Göring und Heinrich Himmler getötet werden sollten, diese aber nicht anwesend waren: Einigkeit über Vorgehen und Prioritäten herrschte selbst im engsten Kreis der Verschwörung bis zuletzt also keineswegs. Dass am 15. Juli „Walküre“ bereits in Gang gesetzt wurde und nur notdürftig als Übung zurückgezogen wurde, kam erschwerend hinzu und zeigte, wie wichtig Stauffenbergs Anwesenheit in Berlin war. Somit musste er am 20. Juli 1944 nacheinander als Initiator des Attentats in der „Wolfsschanze“ und Organisator des Staatsstreiches in Berlin agieren, was seine Kräfte und Möglichkeiten überstieg. Um 12:42 Uhr detonierte der Sprengsatz zwar, doch Hitler war nicht unter den vier Getöteten.
Stauffenberg, der um 17 Uhr wieder in Berlin war, versuchte vergeblich die chaotischen Abläufe zu koordinieren und den Umsturz trotz des fehlgeschlagenen Attentats voranzutreiben. So zeigt eines der letzten Fernschreiben des Umsturzversuches Verzweiflung und Aussichtslosigkeit: Nachdem im Deutschlandsender das Überleben Hitlers gemeldet wurde, wollte Stauffenberg noch bis 21:05 Uhr die Wehrkreise vom Gegenteil überzeugen.
Etwa zwei Stunden später wurden er, Olbricht sowie Werner von Haeften (1908 – 1944) und Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim (1905 – 1944) verhaftet und kurz darauf erschossen.
Den ersten Opfern folgten bis zum Kriegsende viele weitere, die nach den Untersuchungen des Sicherheitsdienstes der SS (SD) zum Kreis der Verschwörer gerechnet und in entwürdigenden Schauprozessen vor dem Volksgerichtshof abgeurteilt wurden. Von den 600 bis 800 verhafteten wurden fast 200 NS-Gegner ermordet.
Zeichen des Widerstands
Die Gründe für das Scheitern von Attentat und Staatsstreich sind zahlreich. Vieles lag an den Unvorhersehbarkeiten der Abläufe jenes 20. Juli 1944. Und man verließ sich auf Seiten der Verschwörer zu sehr auf das Schema Befehl = Gehorsam, von dessen Erfüllung man überzeugt war. Entscheidend war natürlich, dass Hitler das Attentat überlebte. Der Tod des Diktators, über dessen Legitimität (Tyrannenmord) in den verschiedenen Widerstandszirkeln lange diskutiert wurde, hätte die Soldaten der Wehrmacht von ihrem Eid entbunden und etliche der unzufriedenen aber gleichsam unentschlossenen, zum Teil höchsten Generäle zur Mitwirkung am Putsch bewogen.
Eine irgendwie moralische oder technische Bewertung der Versuche der Militäropposition, die Herrschaft der Nationalsozialisten und damit Krieg und Mord in Europa zu beenden, verbietet sich hier. Es soll indessen daran erinnert werden, dass es vor 75 Jahren mutige Männer und Frauen gab, die bereit waren, gegen ein verbrecherisches Regime Widerstand zu leisten und mit welchen Mitteln und Möglichkeiten dieser Widerstand geplant und umgesetzt wurde.