„DER NEUE SOWJETMENSCH WAR EIN MISSLUNGENES EXPERIMENT“

Mein Geschichtsstück: Der Schriftsteller Wladimir Kaminer stellt sein Lieblingsobjekt im Deutschen Historischen Museum vor.

Mein persönliches Geschichtsstück ist die „Wandzeitung Der neue Sowjetmensch“ in deutscher Sprache aus dem Jahr 1947. Sie diente als Informationsquelle im Rahmen der staatlichen Erziehung der Menschen zu sozialistischen Persönlichkeiten. Vorrausetzung dafür war die Vergesellschaftung der Produktionsmittel.

Schon den Namen des Exponates „Wandzeitung Der neue Sowjetmensch“ finde ich kennzeichnend: Damals – nach der Revolution – war es den Führern der ehemaligen Sowjetunion klar, dass eine Gesellschaft, die auf gleiche Chancen für alle, Brüderlichkeit und Solidarität baut, nicht mit alten Menschen zu realisieren ist. Die Alten waren einfach zu verdorben, zu schwach, zu faul und voller Neid. Es musste also ein neuer Mensch kommen – einer der dieser besseren Welt auch gerecht werden kann.

MAN WOLLTE DEN SOWJETMENSCH – DIE GUTE SEELE – IN UNS WECKEN

In der ehemaligen Sowjetunion gab es dazu zwei Theorien: Die eine Theorie besagte, der neue Mensch komme von außerhalb, er müsse nur angelockt werden – so, als würde er irgendwo rumlaufen. Die Bilder der Wandzeitung von prächtigen Hochschulen mit drei Meter hohen Türen stehen für den neuen Sowjetmensch, weil er im Grunde genommen ein Übermensch sein sollte.

Die andere Idee war, dass dieser neue Mensch in uns, quasi im alten Wesen sitzt. Er muss nur erweckt werden. Man müsse nur das Umfeld des Menschen ändern beziehungsweise verbessern – dann findet er ganz alleine zu seinem wahren Ich, zu seinem guten Kern. Also wurde von staatlicher Seite versucht, unseren inneren Sowjetmenschen zu beschwören: mit Mitteln der Kunst, mit Literatur, mit wissenschaftlichen Thesen und vor allem mit Bildung.

Vor diesem Hintergrund sind ganze wissenschaftliche Fächer entstanden: Zum Beispiel wurde versucht zu beweisen, dass Kuckucke ihre Eier nicht in fremde Nester legen, sondern durch ihre speziellen Rufe bewirken, dass aus Eiern anderer Arten ihr Nachwuchs schlüpft. Das Geheimnis: Du musst nur richtig kuckucken, dann entwickeln sich auch die richtigen Vögel. Das Problem: Ein wissenschaftlicher Beweis konnte nicht erbracht werden, da die Vögel im Labor – also in Unfreiheit – ihre Rufe nicht aussenden. Das ist eine Metapher für sozialistische Systeme: Menschen in Unfreiheit bleiben einfach stehen. Die Kuckucke rufen nicht und die Menschen entwickeln sich nicht.

DER MENSCH IST VON GEBURT AN WEDER GUT NOCH SCHLECHT

Und noch ein Grund, warum das Konzept eines neuen Sowjetmenschen meiner Meinung nach gescheitert ist: Der Mensch ist jeden Tag anders, je nachdem mit welcher Laune er aufgewacht ist. Der Mensch ist kein Fünfziger, wie die Brandenburger sagen, weder ein falscher noch ein richtiger. Manchmal macht er etwas Gutes, manchmal macht er etwas Schlechtes, manchmal macht er gar nichts. Er ist schwer kalkulierbar, nach welchem Muster sich die Menschen verhalten.

Also ist dieser neue Sowjetmensch, trotz aller Mühe, trotz der Wandzeitung, trotz großen Revolutionen und Anstrengungen, nicht erschienen. Wo er geblieben ist, wissen nur die Kuckucke, aber sie sagen es nicht.