Hannah Arendt: Freiheit ist nur in den Grenzen der Natur möglich
Maike Weißpflug | 14. Mai 2020
Hannah Arendt ist die Denkerin des Neuen und der Freiheit. Darum wird sie in Zeiten des Umbruchs – seien es Krisen, seien es Revolutionen – gerne zitiert. In der gegenwärtigen Corona-Krise scheinen Arendts Überlegungen zum Totalitarismus wieder aktuell, um auf die politischen und gesellschaftlichen Gefahren eines fortgesetzten Notstands hinzuweisen. Doch ist dies eine einseitige Sicht auf politische Freiheit, wie nicht nur die aktuelle rechtspopulistische und verschwörungstheoretische Vereinnahmung des Begriffs zeigt. Der viel größere Freiheitsverlust droht dadurch, dass wir im planetarischen Maßstab die Grenzen der Natur überschreiten und so die Grundlagen unseres Zusammenlebens gefährden.
Eines der Arendt-Zitate, das in den sozialen Medien gerade häufig geteilt wird, ist der „Wunschtraum totalitärer Polizei“, von dem Arendt in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ berichtet: eine Karte, die „in riesenhaften Ausmaßen die Beziehungen und Querverbindungen der Bevölkerung eines ganzen Territoriums enthält.“ (S. 898) Arendt hielt dies für „etwas schwierig in seiner technischen Ausführbarkeit“ (S. 899), aber grundsätzlich für umsetzbar.
Das Teilen des Arendt-Zitats ist natürlich eine Anspielung auf den geplanten Einsatz von Tracking-Apps, die helfen sollen, die Pandemie bei weitgehender Aufrechterhaltung der Bewegungsfreiheit einzudämmen. In einem offenen Brief warnen über 100 Wissenschaftler*innen aus aller Welt vor der „groß angelegte Erhebung von Daten über die Bevölkerung“ und den „ungeahnten Überwachungsmöglichkeiten“. Auch Yuval Noah Harari wies jüngst in der Financial Times darauf hin, dass der Weg aus dem Ausnahmezustand immer schwerer ist als in ihn hinein. Er schlägt darum vor, der Überwachung durch Staaten die Ermächtigung der Bürger zum solidarischen Handeln entgegensetzen.
Ist die Freiheit bedroht?
Die politischen Versuche, die Krise zu bewältigen sind jedoch keineswegs die größte Bedrohung der Freiheit, der wir angesichts der Corona-Krise fürchten müssen. Vor allem ist es eine Gefahr, der wir politisch und gesellschaftlich recht gut und vor allem in überschaubarer Zeit begegnen können. Für Arendt ist der Wunsch nach totaler Kontrolle und Beherrschung tatsächlich nicht das Hauptmerkmal des Totalitarismus. Der Kern totalitärer Ideologie ist für sie vielmehr der Satz „alles ist möglich“, die Vorstellung, „daß alles Gegebene nur ein zeitweiliges Hindernis ist, das durch überlegene Organisation überkommen werden kann“ (Elemente und Ursprünge, S. 811), sogar die menschliche Natur.
Arendt setzt gegen diese totalitäre Phantasie grenzenloser Allmacht einen Begriff von Freiheit, der die Grenzen des Handelns berücksichtigt. Diese Grenzen können ganz unterschiedlich sein: die Unantastbarkeit eines Gegenübers, die Anerkennung von Fakten oder die „human condition“, die menschliche Bedingtheit, ein auf ein Leben auf dem Planeten Erde angepasstes Wesen zu sein. Arendt betont immer wieder, das politische Freiheit nur innerhalb dieser Grenzen, die uns unsere Mitmenschen und die Natur setzen, denkbar ist. Angesichts der Corona-Pandemie und ihrer tieferen Ursachen kann dies vielleicht sogar ein befreiender Gedanke sein.
Die Krise als das nie Dagewesene
Die Krise zeigt uns auf eine ziemlich eindringliche Weise, wie verletzlich unsere Gesellschaften sind und wie schnell gerade die Freiheit auf dem Spiel steht. Die Corona-Pandemie unterscheidet sich in einem Punkt sehr grundlegend von den Seuchen, die die Menschen seit jeher heimgesucht haben: Wir wissen, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit durch unser Eingreifen in die Natur verursacht wurde, durch das Eindringen in Wildnisgebiete, die Ausweitung industrieller Landwirtschaft und nicht zuletzt auch durch den menschengemachten Klimawandel. Die Corona-Krise steht also im Kontext einer viel größeren ökologischen Krise, für die eine nicht nachhaltige Wirtschaftsweise und Politik verantwortlich ist: „We did it to ourselves“.
Gegen den Weltuntergang denken
So ähnlich wie Arendt Kant und Kafka, Homer und Conrad las, um die totale Herrschaft zu verstehen, können wir heute Arendt lesen, um unsere Gegenwart zu deuten. Nicht, weil Schriftsteller*innen und Philosoph*innen gleichsam ewige Wahrheiten zu bieten hätten oder uns Leitsätze für die Gegenwart liefern können. Vielmehr können sie uns Denkanstöße liefern, als „fermenta cognitionis“, als Denkfermente, wie Lessing so schön sagte. Arendts wichtiger Anstoß scheint mir zu sein, dass die es gar nicht so sehr mit Weltuntergangszenarien hatte, obwohl sie eigentlich dauernd über Krisen der Moderne nachdachte. Sie suchte lieber nach Geschichten, die von der Freiheit berichten, nach den Wundern des Miteinander-Handelns und des Neuanfangs. Ohne diese Geschichten und ohne ein Gedächtnis, glaubte Arendt, geht die Freiheit ebenso verloren wie durch totalitäre Gewalt. Es kommt also darauf an, wie wir die Geschichte erzählen.
Natur und Freiheit
Das Virus lässt uns unsere Grenzen spüren. So schmerzhaft es ist, mit den gegenwärtigen Einschränkungen zu leben, kann die Situation auch dazu beitragen, dass wir sensibler werden für die Grenzen des Machbaren, gesellschaftlich, politisch und ökologisch gesehen. Für Arendt waren all diese Grenzen nicht die Grenzen der Freiheit, die wir wohl oder übel akzeptieren müssen, sondern ihre Voraussetzung. In ihren Augen handeln wir immer begrenzt, denn wir besitzen nicht die absolute Gestaltungsmacht, weder über die Natur, noch über andere Menschen. Dies ist eine gefährliche und vor allem unnötige Illusion. Die gegenwärtigen Rufe nach unbegrenzter Freiheit und die damit verbundene fixe Idee, das Coronavirus sei nur eine Verschwörung der Mächtigen, um das Volk zu kontrollieren, tragen also selbst deutlich die Züge totalitären Denkens.
Die Ressourcen des Planeten zu plündern ist kein Ausdruck von Freiheit. Wir können stattdessen beginnen, miteinander in den Grenzen dieses Planeten zu handeln. Die Naturzerstörung zu beenden hieße dann, auch künftigen Generationen ein Leben in Freiheit zu bewahren: nicht die Freiheit eines grenzenlosen Konsums, sondern die Freiheit, miteinander zu handeln und die Welt zu gestalten. Die Geschichte so zu erzählen, heißt dem im wörtlichen Sinne konservativen Zug in Arendts Denken zu folgen – und dem darin steckenden Aufruf zur Revolution.
Quellen
Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 10. Aufl., München 2005.
Maike Weißpflug: Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken, Berlin 2019.
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Maike WeißpflugMaike Weißpflug ist politische Theoretikerin und arbeitet als wissenschaftliche Referentin am Museum für Naturkunde Berlin. Ihr Buch „Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken“ ist 2019 bei Matthes & Seitz erschienen. |