Fred Stein – Hannah Arendts Lieblingsfotograf

Ulrike Kuschel | 25. Mai 2020

Wenn wir heute an Hannah Arendt denken, haben wir oft die ikonisch gewordenen Porträts des Fotografen Fred Stein vor Augen. Mehrfach fotografierte er die politische Theoretikerin, manchmal stundenlang in ihrem eigenen Wohnzimmer, und fing Arendts besondere Ausstrahlung meisterhaft ein. Was seine Bilder so besonders machen und wie sich die Lebenswege der beiden überhaupt kreuzten, davon berichtet Ulrike Kuschel, Projektassistentin unserer aktuellen Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ auf dem DHM-Blog.

“Hannah Arendt ist mir zum ersten Mal als – ich würde sagen – Pop-Ikone begegnet, als intellektuelle Person, als Foto tatsächlich. […] Die intellektuelle Frau, die bekommen wir ja nicht so oft zu Gesicht in unserer Bilderwelt. Und das, was sie da sozusagen dargestellt hat – die Intellektualität – ist verkörpert in der Art, wie sie da sitzt, in der Art, wie sie die Zigarette hält.“

Welches Foto genau die Kulturwissenschaftlerin Stefanie Lohaus im Gespräch mit der Kuratorin unserer Ausstellung Monika Boll meinte, lässt sich anhand dieser kurzen Beschreibung nicht feststellen. Es liegt jedoch nahe, dass sie sich auf eines der ikonisch gewordenen Portraits des Fotografen Fred Stein bezieht, der es meisterhaft verstand, Arendts besondere Ausstrahlung festzuhalten.

Selbstporträt mit Rolleiflex, Fred Stein, New York, 1941 © Stanfordville, New York, Fred Stein Archive

Selbstporträt mit Rolleiflex, Fred Stein, New York, 1941 © Stanfordville, New York, Fred Stein Archive

Fred Steins Fotografien von Hannah Arendt vermitteln ein Image und einen Look, die heute unverkennbar sind. Die ersten Porträts entstanden 1944.

Hannah Arendt, Fred Stein, New York, 1944 © Stanfordville, New York, Fred Stein Archive

Hannah Arendt, Fred Stein, New York, 1944 © Stanfordville, New York, Fred Stein Archive

Danach saß sie ihm 1949, 1960 und 1966 für Aufnahmen Modell. Ein weiterer undatierter Kontaktbogen mit Porträts, der sich im Fred Stein Archiv befindet, verweist auf weitere Bilder, die am selben Ort wie die Fotos von 1944 aufgenommen wurden, vielleicht in der 95. Straße, 317 West?1 Hier lebte Arendt bis 1951 in zwei möblierten Zimmern mit ihrem Ehemann Heinrich Blücher und ihrer Mutter Martha Arendt Beerwald (1874-1948). Dass Hannah Arendt Fred Stein mehr als nur einmal engagierte, zeigt, dass sie mehr als zufrieden war mit der Art, wie er sie inszeniert hat.

Fred Stein – Fotograf mit Methode

Peter Stein berichtet über die Arbeitsweise seines Vaters, dass er „drei Methoden [hatte], um Porträts aufzunehmen. Die erste bestand darin, die Personen, die um ein Porträt baten, zu Hause aufzusuchen. So konnte er sie in ihrer gewohnten Umgebung aufnehmen, wo sie sich am wohlsten fühlten. Wenn dies nicht möglich war, kamen sie in sein Studio, also zu uns nach Hause. Die dritte Methode war eine rein dokumentarische, bei der er zu öffentlichen Veranstaltungen […] ging und dort fotografierte“.2 Während die Arendt-Porträts in den 1940er Jahren zumeist vor einer hellen, kahlen Wand aufgenommen wurden (und eine räumliche Zuordnung schwierig machen), sind die Porträts ab 1960 eindeutig bei Arendt zu Hause entstanden. Im Dezember 1959 war Hannah Arendt, inzwischen eine erfolgreiche Autorin und Dozentin an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten, in eine große 4,5-Zimmer-Wohnung am Riverside Drive 370 umgezogen.

Dass die Chemie zwischen Modell und Fotograf gestimmt hat, belegen vor allem die Kontaktbögen (Arendt contact 7, 8, 9) und Fotos von 1960. Bei dieser Fotosession gerät das großzügig eingerichtete und mit zahlreichen Gemälden ausgestattete Wohnzimmer ins Bild, an den Wänden sicher auch Bilder des Künstlerpaares Alcopley (Alfred Lewin Copley) und Nína Tryggvadóttir, beide enge Freunde des Ehepaares Arendt-Blücher. Neben Arendt nahm dieses Mal auf dem Sofa auch ihr Ehemann Heinrich Platz.

Hannah Arendt und Heinrich Blücher in ihrer Wohnung in New York, Fred Stein, New York, 1960 © Stanfordville, New York, Fred Stein Archive

Hannah Arendt und Heinrich Blücher in ihrer Wohnung in New York, Fred Stein, New York, 1960 © Stanfordville, New York, Fred Stein Archive

Hannah Arendt, elegant gekleidet und mit Perlenkette, posierte im Lauf der Fotosession auf verschiedenen Sofas und Sitzmöbeln. In einer Sequenz hat Fred Stein Arendt halb liegend mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa aufgenommen. Anhand der Anzeige auf Blüchers Armbanduhr lässt sich ablesen, dass die Sitzung mindestens von sechs Uhr bis halb sieben gedauert hat. Doch anstatt einer angestrengten Atmosphäre ist eine zunehmend lockere Stimmung zu erkennen. Die letzte Aufnahme auf contact 8 zeigt Blücher lachend in der Zimmermitte mit einem leeren Tumbler in der Hand. Eine Flasche Marquis de Caussade Fine Grand Armagnac, die in einem Regal in Griffweite neben dem Sofa bereitsteht, ist allerdings noch in Zellophan verpackt. Kann man diese Aufnahmen der erfolgreichen „Doppelmonarchie“3 nicht schon als homestory bezeichnen?

Flucht nach Paris

Die Biografien von Hannah Arendt und Fred Stein wie die vieler anderer, die nach 1933 Deutschland aus politischen Gründen oder wegen ihrer jüdischen Herkunft verlassen mussten, weisen einige Parallelen auf, auch wenn sie sich wohl erst in New York kennenlernten. Arendt war nach einer kurzen Inhaftierung durch die Gestapo aus Berlin nach Paris geflohen. Fred Stein flüchtete nach Paris zusammen mit seiner Frau Liselotte (Lilo), nachdem er wegen seiner „nicht arischen Abstammung“ in Dresden aus dem Justizdienst entlassen und durch einen Bekannten, den bereits erwähnten Alfred Lewin Copley,4 vor einer drohenden Verhaftung gewarnt worden war.

Während Arendt in Paris Arbeit bei der Youth Aliyah fand, einer jüdischen Organisation, die versuchte, Kinder und Jugendliche aus dem Deutschen Reich vor allem nach Palästina in Sicherheit zu bringen, machte Fred Stein mithilfe einer Kleinbildkamera der Marke Leica, die sich Lilo und Fred zur Hochzeit geschenkt hatten, sein Hobby notgedrungen zum Beruf. „Dresden vertrieb mich; so wurde ich Fotograf,“ fasste Fred Stein kurz und knapp seinen Werdegang zusammen. In Paris richtete Fred Stein in seiner Wohnung in Montmatre das „studio stein“ ein. Auf einer Visitenkarte bot er „portrait – publicité – reportage – photo industrielle“ an. Lilo Stein datierte in einem Lebenslauf von ca. 1976 (Archiv Leo-Baeck-Institut New York) den Beginn von Fred Steins fotografischer Tätigkeit auf das Jahr 1934 und ergänzt „esp. doing portraits“ und Steins Mitgliedschaft in der „German antinazi Journalist Asso“. In Paris porträtierte Fred Stein deutsche Emigrant*innen, wie z. B. den späteren Bundeskanzler Willy Brandt, Klaus Mann, Alfred Döblin, Bertolt Brecht sowie Anna Seghers, aber auch Léon Blum, Ministerpräsident von Frankreich, oder den Schriftsteller André Malraux. Außerdem fotografierte er in den Straßen von Paris. Dabei setzte er einfache Arbeiter*innen, spielende Kinder, Straßenmusiker*innen und Obdachlose mit der gleichen Würde ins Bild wie Intellektuelle und Künstler*innen.

Gemeinsames Ziel – New York

Nach der Besetzung Frankreichs und einer zeitweiligen Internierung als „feindliche Ausländer“ mussten die deutschen Emigranten erneut fliehen. Mit Unterstützung durch das Rettungsnetzwerk von Varian Fry gelang sowohl Stein als auch Arendt die Ausreise in die USA. Arendt und Heinrich Blücher erreichten New York am 22. Mai 1941; das Ehepaar Stein mit der kleinen Tochter Marion am 13. Juni 1941– sie waren zwischenzeitlich in Trinidad interniert.

Fred Stein hatte seine Leica in Frankreich in einem Lager abgegeben müssen, konnte in New York mit der Unterstützung von Verwandten jedoch eine neue kaufen. Bald kam noch eine Mittelformatkamera hinzu und er nahm die Straßenfotografie wieder auf. Im quadratischen Sucher der Rolleiflex erkundete er mit großem Interesse und Empathie die neue urbane Umgebung und ihre Bewohner*innen.

Aus gesundheitlichen Gründen konnte Fred Stein nach 1950 nur noch als Porträtfotograf arbeiten. Im Laufe seines Lebens hat er über tausend Personen porträtiert, ein posthum verfasstes Dokument aus dem Fred Stein Archive listet unter den von ihm Porträtierten 24 Nobelpreisträger auf. In seinen letzten Lebensjahren arbeitete Fred Stein an einem Buch mit dem Titel „Das war nicht unser Deutschland. Ein Lesebuch für die Kommenden“. Für die geplante Anthologie mit seinen Fotos und Texten antifaschistischer Autoren hat er auch Hannah Arendt um einen Beitrag gebeten.5 Arendt, die ihm bescheinigte, dass er „einer der besten zeitgenössischen Porträtfotografen“ sei, antwortete: „Was Sie nun wollen, das ich für die Veröffentlichung schreiben soll, weiß ich nicht so gut. Geben Sie mir einen Tip.“6 Fred Stein starb überraschend 1967. Das Buchprojekt blieb unvollendet.

Verweise

1 Zu dieser Serie gehört höchstwahrscheinlich auch jene Aufnahme von Hannah Arendt in dunkler Jacke und auf eine Stuhllehne gestützt, die im „Literaturkalender 1960“ eine Anzeige für Arendts Buch „Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin in der Romantik“ illustriert. Ein vintage print dieser Aufnahme ist mit der Schenkung Brocke in die Sammlung des DHM gelangt. Ein Kontaktbogen zu diesem Foto ist uns nicht bekannt.
2 Peter Stein: Ein persönlicher Blick auf meinen Vater. In: Fred Stein Dresden–Paris–New York, 2018, S. 18.
3 Eine Formulierung des befreundeten Dichters Randall Jarrell (Siehe Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt, Frankfurt a. Main 1991, S. 372.) „Als ich sie kennenlernte, bemerkte ich, dass er kaum etwas tat, um sie zu besänftigen, zu beschwichtigen oder sie daran zu hindern, dass sie sich Sorgen machte oder aufregte, und so entschied ich, dass sie der Herr im Hause war, aber nach einer Weile stellte ich fest, dass sie sich ihm gegenüber ebenso verhielt: Sie waren eine Doppelmonarchie.“
4 Alfred L. Copley (1910-1992), Arzt, Hämatologe und Künstler.
5 Brief vom 18. Februar 1964, Fred Stein Archive.
6 Hannah Arendts Antwort vom 9. März 1964, Fred Stein Archive.