documenta. Politik und Kunst

Raphael Gross | 18. Juni 2021

Auf unserem Blog veröffentlichen wir die Rede von Prof. Dr. Raphael Gross, Präsident des Deutschen Historischen Museums, die er bei der Eröffnung der Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ am 16. Juni 2021 hielt.

Als ich 2017 ans Deutsche Historische Museum kam, überlegte ich zunächst sehr allgemein, was es eigentlich bedeutet, Objekte in einem historischen Museum zu zeigen. Und dann: in welcher Weise Kunstwerke in einem historischen Museum sich verändern, zu Quellen werden. Es war wirklich ein reiner Zufall, dass ich mich auf diesem Weg unserem heutigen Thema, der documenta in der Zeit von 1955 bis 1997 zugewendet habe. Und zudem gab es auch nicht wenige, die der Meinung waren, das sei gar kein Thema für ein historisches Museum. Ich konnte damals in die USA fliegen und in Los Angeles mit den Hütern des Harald Szeemann Nachlasses – in New York mit den Kuratoren des MoMa – darüber diskutieren, wie sie die Wirkung der documenta eigentlich einschätzen. Es dauerte über ein Jahr, bis ich sukzessive vier Forscherinnen und Forscher gewinnen konnte, als Kuratoren, resp. wissenschaftliche Mitarbeiterin dieses Projekt zu betreiben. Ein erster Schritt war, dass wir uns in einem internationalen Symposium unter dem Titel „Historische Urteilskraft“ zum einen der Geschichte der documenta und dem Verhältnis von Kunst und Politik widmeten und zum anderen einem komplementären Thema – nämlich dem Fortwirken der bildenden Künstler aus der von Hitler und Goebbels zusammengesetzten Liste der sogenannten Gottbegnadeten.

Sie sehen also, es ging mir nie darum, eine Geschichte der documenta zu schreiben. Sondern es ging mir um die Frage, wie man über Kunst in einem historischen Museum nachdenkt und was man damit bewirkt, sie hier zu betrachten. Und jetzt haben wir das Problem:

Als am 15. Juli 1955 in der Ruine des Fridericianum in Kassel erstmals die Tore zu der „Weltkunstausstellung“ öffneten, traten die federführenden Initiatoren um den Künstler und Kurator Arnold Bode und den renommierten Kunsthistoriker Werner Haftmann mit nicht weniger als dem Anspruch an, die in der NS-Zeit verfemte Moderne zu rehabilitieren. Über das Wiederanknüpfen an die Moderne sollte der Bruch „gekittet“ und die Kontinuität der Kunst markiert werden, um sodann einen künstlerischen und ästhetischen Neubeginn zu postulieren. Tatsächlich stellte sich die documenta mit dieser Konzeption gegen die kulturpolitischen Leitlinien der Adenauer Ära, die an konservativen kulturellen Werten orientiert, der Moderne wenig aufgeschlossen gegenüberstand. Hinter der Fassade der Abgrenzung von der NS-Kunst verbargen sich allerdings in mehrfacher Weise NS-Kontinuitäten. Und der zeitgenössische kritische Gestus gegenüber den bundesrepublikanischen Verhältnissen verblasst.

Das Jahr 1955 markiert einen entscheidenden politischen Wendepunk in der westdeutschen Geschichte. Mit dem Inkrafttreten der Pariser Verträge waren die letzten Fesseln des alliierten Besatzungsstatus nahezu gänzlich gefallen: Die Bundesrepublik hatte ihre nationale Souveränität (weitgehend) zurückerlangt. Zudem war die junge Westrepublik mit der Aufnahme in das atlantische militärische Bündnis der NATO und als Teil der neu ins Leben gerufenen Westeuropäischen Union in die westliche Staatengemeinschaft integriert und auf die internationale politische Bühne zurückgekehrt. Jenseits der außenpolitischen Rehabilitation, die ganz wesentlich aus der Dynamik des Kalten Krieges resultierte, bestanden zu zahlreichen ehemals von Nazi-Deutschland besetzten westeuropäischen Ländern durchaus noch Spannungen. Gebiets- und Reparationsansprüche standen teils nach wie vor ungeklärt im Raum, das Verhältnis zum wieder aufstrebenden Deutschland blieb teils, gelinde gesagt unterkühlt.

Die international viel beachtete Schau sendete positive Signale ins Ausland, die nötig und politisch passgenau waren. Mit dem Ausschluss des sozialistischen Realismus, der laut Haftmann das Gegenbild der Moderne verkörpere, hatten die Ausstellungsmacher eine dezidierte Grenzmarkierung gen Osten gezogen. Und sie hatten – einem Aushängeschild gleich – die außenpolitische Leitlinie der Bundesrepublik, die Westintegration, ideologisch unterstrichen.

Auch was den innerdeutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit anging, stellte das Jahr 1955 eine nicht unwesentliche Etappe dar. Die Vergangenheitspolitik Konrad Adenauers war zu einem Abschluss gekommen. Das letzte Amnestiegesetz war 1954 verabschiedet worden, die Rehabilitierung der sogenannten 131er, sprich der NS-belasteten Beamten, war vollzogen, und Adenauer hatte just im Abschlussmonat der documenta, im September 1955, die Heimkehr der letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion erreicht.

Selbstkritische Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit drangen kaum in politische Diskurse und öffentliche Debatten durch. Es dürfte in den 1950er Jahren praktisch niemandem aufgefallen sein, dass der Holocaust auf der documenta in keiner Weise ein Thema darstellte, noch nicht einmal durch das Zeigen von Werken ermordeter jüdischer Künstlerinnen und Künstler. Denn damit lag die documenta genau auf der Linie der damaligen Diskussion beziehungsweise Nicht-Diskussion.

Zwischen dem Selbstbild der documenta und ihrer Rezeption herrschte lange Jahre hinweg große Einhelligkeit: Die documenta verstand sich als Gegenmodell zur Kunstauffassung des Nationalsozialismus und des Kommunismus.  Und so wurde sie in den vielen Darstellungen auch immer wieder geschildert. Im Zuge unserer Recherchen wurde dagegen deutlich: Die documenta steht – genau wie die Bundesrepublik insgesamt – sowohl in Bezug auf die Biographien ihrer Kuratoren als auch auf die Semantik ihrer Inhalte in einem komplizierten Verhältnis von Kontinuität und Bruch zum Nationalsozialismus. Während sich auf der einen Seite die Kuratoren um eine kunsthistorische Distanzierung vom NS bemühten und die Moderne ins Zentrum ihrer Ausstellungen rückten, wurden auf der anderen Seite jüdische Künstler mit Ausnahme von Chagall auf der ersten documenta nicht gezeigt. Und noch bis vor einigen Tagen war unbekannt, dass der intellektuelle Kopf der ersten documenta-Ausstellungen, Werner Haftmann, nur wenige Jahre zuvor in Italien wegen Folter und Mord an italienischen Partisanen gesucht worden war. Was bedeuten diese Erkenntnisse für unser heutiges Bild der documenta? Was ändert sich, wenn wir sie in unserer Erzählung der Geschichte der documenta in Betracht ziehen?

Zunächst ist dies für uns heute wohl schwer zu beantworten. Sicher wird die Forschung weitergehen. Ein Stück haben wir hier in der Ausstellung schon geleistet. Sie wird beitragen, die Kluft zwischen dem Selbstbild und der Perzeption der documenta zu vergrößern. Und das, so können wir bereits aus den aktuellen Reaktionen sehen, ist nicht ohne Gefühle von Schmerz und Kränkung zu haben. Und ich möchte dies auch gar nicht nur abstrakt nach außen hin delegieren. Auch wir, die wir uns in den letzten Jahren so intensiv mit der documenta beschäftigt haben, sind natürlich beeindruckt und geprägt von dem was Co-Kuratorin Dorothee Wierling so schön auf den Begriff gebracht hat: Sie war ein „großes, wildes Ding“. Und entsprechend ist es sogar für uns, mit unserem historischen Ansatz, nicht belanglos, wenn als Resultat unserer Bemühungen, uns mit Mitteln der Geschichtsforschung diesem Mythos zu nähern, dieser natürlich auch ein Stück weit entzaubert wird. Vor diesem Hintergrund sind Reaktionen, die erstmals den neuen Forschungsstand negieren oder die Flucht in recht allgemeine und unverbindliche Zeitdeutungen antreten, verständlich. Trotzdem erwarten wir von der historischen Forschung Genauigkeit und Quellentreue, wie wir von der Kunst Authentizität erwarten. Ich muss mich also vielleicht nicht zu sehr dafür entschuldigen, dass ich gerade dieses Thema hier am DHM aufgegriffen habe. Ich denke aber wir haben damit doch etwas über die Bedeutung von staatlich geförderter Kunst für die deutsche Geschichte gelernt und darüber hinaus über die Politisierung von Kunst und die Ästhetisierung von Politik.


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Pressekonferenz zur Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ am 16. Juni 2021

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