Karl Marx und der Kapitalismus
Eröffnungsrede von Sabine Kritter
10. Februar 2022
Die Ausstellung „Karl Marx und der Kapitalismus” wurde am 8. Februar 2022 eröffnet. In diesem Rahmen sprach die Kuratorin Sabine Kritter über den Aufbau der Ausstellung.
Hätte jemand vor 20 Jahren gesagt, im Deutschen Historischen Museum würde demnächst eine Ausstellung mit dem Titel „Karl Marx und der Kapitalismus“ gezeigt, hätte das wahrscheinlich ungläubiges Erstaunen hervorgerufen.
Nach dem Scheitern des Realsozialismus, der den Marxismus zur Staatsdoktrin erklärt hatte, schien nicht nur der Marxismus, sondern mit ihm auch Marx selbst erledigt zu sein. Zudem war der Begriff „Kapitalismus“ in der wissenschaftlichen Diskussion, vor allem in der Deutschen, diskreditiert, weil er als ideologisch, als polemisch und als Kampfbegriff galt.
Heute ist dagegen ein gewisses Marx-Revival zu beobachten. In der Öffentlichkeit, aber auch in den Sozialwissenschaften, in der Philosophie und im Kulturbereich findet eine rege Auseinandersetzung mit den Theorien von Marx statt. Und auch der Kapitalismus gilt heute wieder als legitime deskriptive und analytische Kategorie. Jürgen Kocka konstatiert sogar, das Konzept Kapitalismus sei „in“, insbesondere unter englischsprachigen Historikerinnen und Historikern. Die Diskussion um Marx und um den Kapitalismus ist also im Mainstream angekommen. Und so auch im Deutschen Historischen Museum.
Was ist in den letzten Jahren passiert? 2007/2008 hatte die Finanz- und Wirtschaftskrise die Welt erschüttert und damit auch viele der bis dahin gültigen Gewissheiten in Frage gestellt. Marx, der die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus untersucht hat, war plötzlich wieder in aller Munde. Selbst der dem Marxismus unverdächtige Ökonom Hans-Werner Sinn formulierte, dass man, um die jüngsten Krisen zu verstehen, an Marx nicht vorbeikomme. Und die Krise hinterlässt Spuren.
Angesichts zunehmender sozialer Ungleichheiten, der enormen Vermögenskonzentration, aber auch angesichts der Klimakrise, stellt sich für viele heute die Frage, ob der Kapitalismus in seiner aktuellen Verfasstheit in der Lage ist, Antworten auf diese drängenden gesellschaftlichen Probleme zu finden. Und damit rückt Marx, der als erster die Mechanismen und die Zusammenhänge des Kapitalismus zu ergründen versuchte, als Sozial- und Gesellschaftskritiker wieder in den Vordergrund.
Das zeigt auch eine repräsentative Umfrage, die das Deutsche Historische Museum im Vorfeld der Ausstellung in Auftrag gegeben hat und mit der wir in die Ausstellung einsteigen. Die Frage, ob Marx‘ Kapitalismuskritik heute noch dazu beitragen kann, die aktuellen ökonomischen Probleme besser zu verstehen, beantworteten 44 Prozent mit „Ja“ oder „Eher ja“. Bei den unter 22- und über 55-Jährigen waren es jeweils sogar über 60 Prozent. 22 Prozent sahen das nicht so und ein Drittel hatte dazu keine Meinung. Gleichzeitig ergab die Umfrage, dass ein Drittel der Befragten in Marx einen Wegbereiter von Diktatur und Gewalt im 20. Jahrhundert sieht. Ein weiteres Drittel verneinte das und wiederum ein Drittel hatte dazu keine Meinung.
Was Marx eigentlich ausmacht und wofür er steht, wird heute also recht unterschiedlich gesehen und ist umstritten. Viele sind zudem heute unschlüssig, wie sie Marx bewerten sollen. Gleichzeitig ist Marx für viele aktuell. Und all das macht aus meiner Sicht auch die Relevanz deutlich, sich heute mit Marx selbst, also mit dem historischen Marx, zu beschäftigen.
Den einen, den eigentlichen, Karl Marx gibt es allerdings nicht. Vielmehr gibt es viele Marxe bzw. ein umfassendes, heterogenes und teilweise widersprüchliches Theoriekonglomerat von Marx, das in vielem fragmentarisch und unvollendet geblieben ist. Diese Überlegung war wesentlich für die Herangehensweise der Ausstellung, in der wir einen historisierenden Blick auf Marx und den Kapitalismus werfen.
Wir werfen einen Blick auf Marx als Philosophen, Journalisten, Ökonomen und politischen Aktivisten des 19. Jahrhunderts, dem es um die Analyse der sozialen Wirklichkeit seiner Zeit und um deren Veränderung ging. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen sieben Themen:
– Themen, die das 19. Jahrhundert mit seinen Umbrüchen in Europa geprägt haben
– Themen, die Marx analysierte und die er verstehbar und veränderbar machen wollte und in die er auf unterschiedliche Weise intervenierte
– Themen, anhand derer deutlich wird, dass Marx facettenreicher und widersprüchlicher war als das, was in den Marxismen des 20. Jahrhunderts aus ihm gemacht wurde
– Und Themen, die Fragen aufwerfen, die sich in veränderter Form heute immer noch oder wieder stellen
Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt also nicht auf der Biografie von Marx, sondern auf Themen, die mit Marx verbunden sind. Die Themen werden aber immer wieder mit Marx‘ Leben in Beziehung gesetzt. Die Themen sind: Religions- und Gesellschaftskritik, Judenemanzipation und Antisemitismus, Revolution und Gewalt, neue Technologien, Natur und Ökologie, Ökonomie und Krise, Kämpfe und Bewegungen. Das alles sind Themen, die für Marx im Kapitalismus zusammenflossen und die er zusammendachte. Dieses Denken in Zusammenhängen war entscheidend für seinen Blick auf den Kapitalismus, auch wenn er den Begriff Kapitalismus selbst kaum verwendete, sondern von der kapitalistischen Produktionsweise sprach.
Bei den sieben Themen der Ausstellung verdeutlichen wir jeweils die Wechselwirkungen zwischen historischem Kontext und dem Denken und Handeln von Marx. Dabei geht es um Ereignisse, um ökonomische und technische Entwicklungen, um Konflikte und auch um Debatten, in denen Marx stand. Wir zeigen dabei, wie Marx seine Überlegungen immer wieder überdacht und auch revidiert hat, wo er nicht fertig wurde, wo er widersprüchlich blieb und wo er bereits zu seiner Zeit kritisch gesehen wurde. Und, wo er uns vielleicht auch überrascht.
Im Epilog thematisieren wir schlaglichtartig, dass die teilweise widersprüchliche und fragmentarische Kritik von Marx zu einer ganz unterschiedlichen Wirkungsgeschichte und zu unterschiedlichen Bezügen auf Marx geführt hat.
Indem die Ausstellung eine Historisierung von Marx und seinen Ideen vornimmt, will sie gleichzeitig jedoch auch zu einer Auseinandersetzung mit deren Aktualität anregen. Denn das 19. Jahrhundert, das lange zu Unrecht in weite Ferne gerückt worden ist, bietet aus meiner Sicht Anknüpfungspunkte zur Gegenwart. Einerseits etwa dadurch, dass die Umbrüche im Zuge der Industrialisierung die Arbeitsverhältnisse so enorm veränderten, wie wir das in ähnlicher Form im Übergang von einer industriellen in eine postindustrielle Gesellschaft erleben. Andererseits wurden im 19. Jahrhundert mit der Globalisierung, mit der Einführung immer neuer Technologien, mit der exzessiven Nutzung fossiler Brennstoffe und mit einer Wirtschaft, die auf permanentes Wachstum angelegt ist, Weichen gestellt, die bis heute nachwirken. Und so hoffe ich, dass die Ausstellung mit dem Blick auf das 19. Jahrhundert auch zum Verständnis der Gegenwart etwas beitragen kann.