Leipzig ’89 – Revolution reloaded

Interview

25. Februar 2022

Bis zum 27. März 2022 können Besucher*innen des Deutschen Historischen Museums kostenfrei den Prototyp der Gamestation „Leipzig ’89 – Revolution reloaded” testen. Die digitale Anwendung wurde im Rahmen des Verbundprojekts museum4punkt0 seit Beginn des Jahres 2021 entwickelt. Mehr dazu erzählen DHM-Projektleiterin Elisabeth Breitkopf-Bruckschen und Game Producer Martin Thiele-Schwez von Playing History im Interview.

Geschichtsvermittlung und Gamedesign – wie passt das zusammen?

Elisabeth Breitkopf-Bruckschen: Digitale Spiele mit historischen Handlungen sind schon lange populär. Aus unserer Sicht bietet der spielerische Zugang spannende Möglichkeiten, komplexe historische Zusammenhänge besser greifbar zu machen. Digitale Interaktion kann die nachhaltige Auseinandersetzung mit Geschichte fördern. Die Digitalisierung wird für Museen und die Geschichtsvermittlung immer wichtiger. Wir glauben nicht, dass analog und digital sich gegenseitig ausschließen, sondern sehen die Chance, dass das eine das andere ergänzt. Konkret entwickelt haben wir einen Prototyp, der mit den Mitteln des Game Designs spielerisch und interaktiv die Offenheit geschichtlicher Prozesse sichtbar macht. Der Kerngedanke ist, dass der Geschichtsverlauf das Ergebnis konkreter Entscheidungen und Handlungen, aber teils auch von Zufällen ist. Wichtig ist uns dabei, die Inhalte auf solider wissenschaftlicher Basis zu recherchieren. Dies ist Ausgangs- und Bezugspunkt unserer Arbeit. Ebenso wichtig ist uns die Verknüpfung des digitalen Raums mit konkreten Sammlungsobjekten, den analogen Zeugen der Geschichte sozusagen.

Aus welchem Grund eignet sich der 9. Oktober 1989 in Leipzig für das Spiel? Gab es bei der Entwicklung auch Überlegungen, einen anderen historischen Zeitpunkt zu wählen? 

Elisabeth Breitkopf-Bruckschen: Am 9. Oktober 1989 gingen in Leipzig 70.000 Menschen auf die Straße und protestierten gegen den autoritären Staat. Erstmals ließ die Staatsmacht die Menschen passieren und griff nicht ein, was keineswegs absehbar war. In Form einer interaktiven Graphic Novel können die Nutzer*innen unserer Anwendung diesen Tag von historischer Tragweite durchlaufen und konkrete Entscheidungen treffen, wodurch sie den Verlauf der Ereignisse in Leipzig mehr oder weniger beeinflussen können. Mit dem inhaltlichen Fokus auf die Ereignisse in der DDR vom Herbst 1989, die weit über die Grenzen Deutschlands bekannt sind und auch heute noch hohe politische Relevanz haben, wollen wir ein breites Publikum ansprechen und eine Brücke in die Gegenwart schlagen. Im Vergleich zu anderen historischen Themen ist dieses Thema leicht zugänglich, da unsere Besucher*innen hier erfahrungsgemäß viel Vorwissen mitbringen.

Bevor sich unser Team für die friedliche Revolution 1989 entschieden hatte, stand die Idee im Raum, das Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 zu thematisieren. Dies wurde aber letztlich aus inhaltlichen Überlegungen verworfen. Über andere markante Ereignisse in der Geschichte, wie den Mauerbau 1961, wurde auch diskutiert, aber die friedliche Revolution 1989 erschien letztlich am besten geeignet.

Welche Rollen nehmen die Nutzer*innen in der interaktiven Graphic Novel ein?

Elisabeth Breitkopf-Bruckschen: Zur Auswahl stehen sieben teils fiktive, teils reale Personen, darunter der Kapellmeister des Leipziger Gewandhauses, Kurt Masur, und der damalige Generalsekretär der SED, Egon Krenz. Für jede Spielfigur wurden auf der Grundlage historischer Quellenrecherchen und mithilfe von Zeitzeug*innenberichten sogenannte Kollektivbiografien und jeweils ein individueller Tagesablauf mit Entscheidungssituationen definiert. Wichtig ist, die Ereignisse des Tages aus unterschiedlichen Blickwinkeln und auch Interessenlagen heraus darzustellen. Ziel ist es, dass die unterschiedlichen Perspektiven auf dieses Ereignis und die Konsequenzen sichtbar werden. Die Bürgerrechtlerin Sabine, die auf der Seite der Demonstrant*innen aktiv das Geschehen mitbestimmt, hat natürlich eine andere Agenda als der Bereitschaftspolizist Thomas, der trotz Zweifeln die Interessen der Staatsmacht verteidigt. Auch Almut, die auf der Suche nach ihrem Sohn eher zufällig in den Demonstrationszug gerät, sieht die Ereignisse aus ihrem Blickwinkel. Beim Entwurf der Charaktere ging es auch darum, alle Positionen menschlich und nachvollziehbar zu gestalten. Dabei war der Blick „von unten“, also das Erleben der „normalen Bevölkerung“, besonders wichtig, da dies in großen Geschichtsdarstellungen oft zu kurz kommt.

Martin Thiele-Schwez: Bei „Leipzig ´89 – Revolution reloaded“ war es das Ziel, eine multiperspektivische Erzählung zu schaffen, die mit spielerischen Mitteln erlebbar macht, dass das Handeln zahlreicher Akteur*innen den entscheidenden Verlauf der Geschichte formte. So werden die Spieler*innen immer wieder Entscheidungssituationen ausgesetzt: Welches Flugblatt druckt die Bürgerrechtlerin, wie harsch greift der diensthabende Polizist durch oder wie beteiligt sich Kurt Masur am Aufruf der Sechs? Diese und zahlreiche weitere Entscheidungen formten diesen Tag und damit den Verlauf der Geschichte. Bei der Auswahl der spielbaren Personen wurde Wert darauf gelegt, dass sowohl die „normale Bevölkerung“, als auch vermeintlich entscheidungsmächtige Personen wie Kurt Masur oder Egon Krenz abgebildet werden. 

Gab es bei der Realisierung von „Leipzig ’89 – Revolution reloaded“ besondere Herausforderungen reale Stories in einem Spiel einzubinden?

Martin Thiele-Schwez:
In der spielerischen Vermittlung von Geschichte geht es stets um die Frage, wie sich komplexe historische Zusammenhänge auf relevante Entscheidungen und spannende Narrative herunterbrechen lassen. Abstraktion und Reduktion sind relevante Methoden im Game Design. Gleichwohl bedarf es gerade hier der engen Abstimmung mit den Historiker*innen. Im Schulterschluss zwischen Historiker*innen und Game Designer*innen gilt es permanent auszuhandeln, wie die Geschichte(n) legitim erzählt werden dürfen, um sowohl spannend zu sein, als auch den Ansprüchen historischer Faktizität Rechnung zu tragen. 

Es ist die Eigenheit des Mediums Spiel, seinen Spieler*innen ein möglichst hohes Maß an Freiheit mit auf den Weg zu geben. Es muss möglich sein, wirkungsmächtige Entscheidungen zu treffen und somit die erzählte Geschichte zu beeinflussen. Gerade darum ist das Spiel ein herausragendes Medium zur Vermittlung von Geschichte – insbesondere wenn es darum geht, denkbare alternative Verläufe erlebbar zu machen. Das ist mit „Leipzig ’89 – Revolution reloaded“ gelungen, denn Spieler*innen erleben dort, wie die Vielzahl von Einzelentscheidungen einen Betrag dazu geleistet haben, dass der historische Glücksfall der „friedlichen Revolution“ eintreten konnte. 


Welche Probleme, Chancen und Perspektiven gab es bei der Zusammenarbeit zwischen Museum und Spielentwickler*innen?

Elisabeth Breitkopf-Bruckschen: Spiel- und Lerninhalte miteinander zu verbinden, ist das grundlegende Prinzip von Serious Games. Dieses Prinzip soll genutzt werden und über einen spielerischen Ansatz die ernsthafte Auseinandersetzung mit Geschichte fördern. Natürlich ist es eine besondere Herausforderung für Historiker*innen, komplexe historische Sachverhalte dramaturgisch verdichtet darzustellen. Deshalb waren wir froh, mit Playing History einen kompetenten Partner an unserer Seite zu haben.

Martin Thiele-Schwez: Geschichte in ein Spiel zu übertragen, ist eine Übersetzungsleistung. Gesprochenes oder meist geschriebenes Wort wird in multimediale und mithin multiperspektivische Szenen übertragen. Plötzlich wird Geschichte erlebbar, spielbar und sogar alternativ veränderbar. Hier ist es äußerst relevant, dass die Game Designer*innen aufmerksam mit den historischen Inhalten umgehen und diesen mit hoher Sorgfalt begegnen. Gleichzeitig erfordert es, dass sich Historiker*innen darauf einlassen, historische Ereignisse ins Spiel zu bringen und diese auf ihre spannendsten Momente zu konzentrieren und szenisch zu dramatisieren. Nur stetiger enger Austausch und gegenseitiges Vertrauen kann das Wagnis, historischer Inhalte in ein Spiel zu übersetzen, gelingen lassen. 

Entwickelt wurde der Prototyp im Verbundprojekt museum4punkt0. Das Projekt museum4punkt0 wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.