Aufmarsch unter roten Fahnen
Das Berliner Zeughaus als Schauplatz politischer Inszenierung am 1. Mai 1946
28. April 2023 | Lisa Sophie Gebhard
An der ersten Maidemonstration der Nachkriegszeit in Berlin nahmen, so die positive Bilanz im Neuen Deutschland am 3. Mai 1946, über 500.000 Menschen teil. Dem Zentralorgan der SED zufolge seien Werktätige aus allen Stadtbezirken zusammengekommen, um in Marschkolonnen zum Berliner Lustgarten zu ziehen. Der Fotograf Abraham Pisarek dokumentierte diese eindrucksvolle Einheitskundgebung, die als solche hochpolitisch war. Sein Foto vom Demonstrationszug, an dessen Spitze der erste Parteivorstand der SED vor dem Berliner Zeughaus aufmarschierte, stellt die Volontärin Lisa Sophie Gebhard vor.
Der 1. Mai 1946 sollte ein festlicher Tag in Berlin werden. Nachdem der Alliierte Kontrollrat den Ersten Mai als Feiertag bestätigt und Maikundgebungen unter Auflage zugelassen hatte, zog es hunderttausende Berlinerinnen und Berliner an diesem Mittwoch ins Zentrum der Hauptstadt.[1] Bei frühlingshaften 20 Grad fand ab 12 Uhr im Lustgarten die offizielle Kundgebung zur Maifeier statt. Auf dem Demonstrationsplatz an der Spree, wo vor 14 Jahren das letzte Mal unter roten Fahnen für sozialistische Werte demonstriert worden war, ehe das NS-Regime den Ersten Mai 1933 zum „Tag der nationalen Arbeit“ erhoben und für seine Propaganda missbraucht hatte, fanden sich tausende Menschen ein. Sie erwartete eine abwechslungsreiche Sportschau mit Volkstänzen und akrobatischen Darbietungen auf Rollschuhen und Rhönrädern. Auch für das leibliche Wohl war gesorgt: Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Maikundgebung standen 100.000 Würstchen zur Verfügung, die ihnen von „Wurstmaxen“[2] – für ihre Berliner Derbheit bekannte Wurstverkäufer – gegen Lebensmittelmarken ausgegeben wurden. Gleichzeitig lieferte man kistenweise Milch und Bier zu, während ein eigens eingerichtetes mobiles Postamt eine Sonderpostkarte mit Sonderstempeln ausgab.
Im Berliner Lustgarten fand so eine volksfestartige Versammlung der werktätigen Stadtgesellschaft statt, die ein Jahr zuvor noch undenkbar gewesen wäre. Bis zum 2. Mai 1945 hatten erbitterte Kämpfe in der Schlacht um Berlin stattgefunden: Stromsperren verdunkelten die Reichshauptstadt, Leichen bedeckten die Straßen, Menschen drängten sich verängstigt in Kellern. Ein Jahr später hatte sich das Leben in der Großstadt, deren Zentrum in weiten Teilen noch in Trümmern lag, allmählich normalisiert. „Die Berliner“, so ein Beobachter im Neuen Deutschland, „lachen wieder, echt und tief wie ein Mensch, der glaubt und hofft. […] Man plumpst in keinen Bombentrichter, keine Sirene reißt einem ein Dreiangel in die verdiente Nachtruhe und nirgends droht eine Luftmine das Dach vom Kopf zu pflücken.“[3]
Ein normaler Alltag wurde von den Menschen ersehnt und über die Kleidung gewissermaßen nach außen getragen. So zogen viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer der ersten Maifeierlichkeiten ihre beste Kleidung an, die ihnen nach dem Krieg geblieben war.
Der 1. Mai 1946 war allerdings nicht als ein unpolitisches Freudenfest von Äußerlichkeiten konzipiert. Vielmehr schloss er an die traditionellen Maiaufmärsche an, bei denen „Hand- und Kopfarbeiter“[4] seit 1890 weltweit für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit demonstrieren. Nach den Vorstellungen der kurz zuvor gegründeten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED, sollte 1946 am internationalen Kampftag der Arbeiterklasse die Wiedergeburt Berlins unter dem Banner der Arbeitereinheit zelebriert werden. Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien KPD und SPD sowie der Zusammenschluss von Einzelgewerkschaften zum Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, dem FDGB, galt es als geeinte Arbeiterklasse demonstrativ durch die Hauptstadt zu führen. Der Führungsanspruch der SED sollte dabei für alle sichtbar werden. So war es der erste Zentralvorstand der Partei, der den Marschkolonnen selbstbewusst voranging, die vom Brandenburger Tor zur Kundgebung in den Lustgarten zogen.
Als die führenden SED-Politiker*innen das Berliner Zeughaus passierten, zückte der 1901 bei Łódź geborene Fotograf Abraham Pisarek seine Kamera. Pisarek, der den Zweiten Weltkrieg als einer von nur ca. 1.700 jüdischen Verfolgten in Berlin überlebt hatte, dokumentierte zu dieser Zeit die politischen Umwälzungen in der Sowjetischen Besatzungszone und war als Pressefotograf, dessen Aufnahmen später im Neuen Deutschland gedruckt wurden, vor Ort.[5] Seine Fotoserie vom historischen Händedruck des Kommunisten Wilhelm Pieck und des Sozialdemokraten Otto Grotewohl am 21. April 1946 im Berliner Admiralspalast zählt zu Pisareks bekanntesten Arbeiten. Über Jahrzehnte fungierte der Handschlag, der den Zusammenschluss zur SED besiegelte, in stilisierter Form vor dem Hintergrund der roten Fahne der Arbeiterbewegung als Parteizeichen der SED.[6]
Das Schwarz-Weiß-Foto des Parteivorstands auf der Schlossbrücke mit dem Ostflügel des Zeughauses im Hintergrund, das wie viele andere Gebäude im Stadtzentrum Kriegsschäden davongetragen hatte, illustriert gleichsam den öffentlich inszenierten Herrschaftsanspruch der SED. In einer Reihe geeint zeigt es führende Männer und Frauen der Partei – auch sie alle in festlicher Kleidung –, die erhobenen Hauptes und kraftvollen Schrittes einer besseren Zukunft entgegengehen. Neben Pieck und Grotewohl sind Walter Ulbricht und Hermann Matern zu sehen, die später führende Positionen in der DDR bekleideten. Als Vorsitzender des Staats- und Ministerrats der DDR sowie des Nationalen Verteidigungsrates war es letztlich Ulbricht, der die junge Republik prägen sollte.
Das Foto, das in der Deutschen Fotothek archiviert und vom Deutschen Historischen Museum als Abzug verwahrt wird, zeigt auch drei weibliche Mitglieder des Zentralvorstands, darunter die Sozialdemokratin Käthe Kern. Mit Hut und Aktentasche ging die damals 45-Jährige sichtlich stolz an der Seite ihres Parteigenossen Otto Grotewohl, dem sie zeitlebens freundschaftlich verbunden blieb. Nachdem sich die führenden Männer und Frauen der SED und des FDGB auf der Tribüne im Lustgarten eingefunden hatten, hielten sie dort politische Reden. Auch Kern wurde als „Sprecherin der deutschen Frau“[7] das Wort erteilt. In ihrer Ansprache rief sie alle Frauen dazu auf, durch eine gleichwertige „Wiederaufbauarbeit“[8] zur eigenen Gleichberechtigung beizutragen. Als SED-Frauensekretärin und Co-Vorsitzende des Demokratischen Frauenbunds Deutschlands, dem DFD, gelang es Kern später, auf die Gründungsverfassung der DDR Einfluss zu nehmen. Ihre Forderung, Frauen auf allen Gebieten des staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens den Männern gleichzustellen, wurde in Art. 7 der Verfassung von 1949 festgeschrieben. Anders als in der Bundesrepublik erkannte man Frauen in der DDR von Beginn an nicht nur dieselben staatsbürgerlichen Rechte zu, sondern garantierte ihre Gleichberechtigung auch im zivilrechtlichen Bereich.[9]
Die Maifeiern von 1946 boten der neugegründeten SED ein geeignetes Forum, um ihren Machtanspruch erstmals volksnah zu demonstrieren. Ihr Ziel war es, eine kollektive Identität zu inszenieren, die es im Festakt dramaturgisch zu beglaubigen galt.[10] Dass die Gründung der marxistisch-leninistischen Partei kurz zuvor nicht allein unter Zustimmung, sondern auch unter Zwang und Täuschung erfolgt war, kam an diesem frühlingshaften Kampf- und Feiertag nicht zur Sprache.[11] Stattdessen beschworen politische Reden zur sozialistischen Einheitsidee und hunderte rote Banner mit dem neuen Wahrzeichen der verschlungenen Hände eine in Eintracht geeinte Arbeiterklasse. Aufnahmen von dem Großereignis, das mit Verköstigungen und sportlichen Unterhaltungsprogrammen in einer durch Mangel geprägten Nachkriegszeit lockte, hielten diesen machtpolitischen Anspruch fest und setzten ihn, wie Pisarek es tat, bildreich in Szene. So wurde auch das kriegsbeschädigte Berliner Zeughaus – Sinnbild des besiegten preußischen Militarismus – zur fotogenen Kulisse einer machtpolitischen Inszenierung.
Der Erste Mai fungierte in späteren Jahrzehnten als ein zentraler politischer Feiertag, an dem sich die DDR als das „bessere Deutschland“ präsentierte.[12] Forderungen nach besseren Arbeits- und Lebensverhältnissen waren auch dort nicht vorgesehen, dafür die ritualisierte und öffentlich zur Schau gestellte Loyalität des Volkes gegenüber seiner Staatsführung. Mit welchem Aufgebot diese Loyalität 1946 erstmals eingeübt wurde, zeigen eindrücklich Pisareks Fotografien. Als Jude und Überlebender des Holocaust hatte er große Hoffnungen in den Aufbau einer antifaschistischen DDR gesetzt, deren politische Führung jedoch frühzeitig antizionistische Kampagnen lancieren sollte. Pisarek arbeitete später als Theaterfotograf in der DDR, 1983 starb er in West-Berlin. Käthe Kern, die frauenbewegte SED-Politikerin in der ersten Reihe des Parteivorstands, wurde als Frau und Sozialdemokratin im Zuge der 1950er Jahre zunehmend auf ministerielle Ausführungsarbeiten von Parteibeschlüssen beschränkt. Frauenpolitische Themen waren in den Hintergrund getreten, Kern starb 1985 hochbetagt in Ost-Berlin. Der 1. Mai 1946 als zukunftsbejahender „Triumphtag der Einheitsidee“[13] und des demokratischen Aufbruchs, den Kern und Pisarek in Berlin hoffnungsvoll angeführt bzw. mit der Kamera begleitet hatten, ließ diese Entwicklungen noch nicht absehen.
[1] Das am 23. April 1946 erstmals als Lizenzzeitung überregional erschienene Neue Deutschland berichtete in seiner Ausgabe vom 3. Mai ausführlich über die Maifeierlichkeiten in Berlin.
[2] „Letzte Berliner Neuigkeiten. ,Wurstmaxe‘ am 1. Mai“, in: Neues Deutschland. Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 1. Mai 1946, S. 6.
[3] „Gesichter unter Fahnen. Augenblicksbilder von der großen Mai-Demonstration“, in: ebd., 3. Mai 1946, S. 4.
[4] M.N., „Mai-Erkenntnisse“, in: ebd., S. 2.
[5] Joachim Schlör (Hg.), Jüdisches Leben in Berlin 1933–1941. Fotografien von Abraham Pisarek, Berlin 2012, S. 29.
[6] Siehe hierzu das dazugehörige LeMO-Objekt „Foto Händedruck Pieck – Grotewohl“, online abrufbar unter: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/foto-haendedruck-pieck-grotewohl.html
[7] „Unter dem Banner der Arbeitereinheit“, in: Neues Deutschland. Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 3. Mai 1946, S. 1.
[8] Ebd., S. 2.
[9] Frank Rainer Dietze, Die Verfassung der DDR. Zur verfassungsgeschichtlichen Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949-1990, Hamburg 2018, S. 236. Zur Biografie und Bedeutung Käthe Kerns siehe Rita Pawlowski, „Katharina (Käthe) Kern“, in Renate Genth u.a. (Hg.), Frauenpolitik und politisches Wirken von Frauen im Berlin der Nachkriegszeit 1945–1949, Berlin 1996, S. 277-279; „Genossin Käthe Kern“ (Nachruf), in: Neues Deutschland. Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 17.4.1985, S. 2.
[10] Monika Gibas/Rainer Gries, „Die Inszenierung des sozialistischen Deutschland. Geschichte und Dramaturgie der Dezennienfeiern in der DDR“, in: dies. (Hg.), Wiedergeburten. Zur Geschichte der runden Jahrestage der DDR, Leipzig 1999, S. 11-40, hier S. 13.
[11] Zur Frühgeschichte der SED siehe u.a. Andreas Malycha/Peter Jochen Winters, Geschichte der SED. Von der Gründung bis zur Linkspartei, Bonn 2009.
[12] Die Maifeierlichkeiten im Zeichen des 40. Jahrestags der DDR wurden von der SED-Führung 1989 besonders stark vereinnahmt. Siehe „Viereinhalbstündiger Aufmarsch von über 700 000 Berlinern“, in: Neues Deutschland. Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 2. Mai 1989, S. 1.
[13] M.N., „Mai-Erkenntnisse“, S. 2.
Foto: DHM/Thomas Bruns |
Dr. Lisa Sophie GebhardDr. Lisa Sophie Gebhard ist wissenschaftliche Volontärin der Abteilung Sammlung. |