„Wozu das denn? Wolf Biermanns Tagebücher im „Suppenkübel“

Dirk Schreiber | 9. August 2023

Vergraben unter einem Holzschuppen im beschaulichen Dörfchen Brodowin in Brandenburg schlummerte in den 1980er Jahren ein Schatz, auf den viele Augen in der DDR gerne einen Blick geworfen hätten – allen voran die Augen des Ministeriums für Staatssicherheit. Denn das, was dort versteckt unter der Erde lag, waren die intimsten Aufzeichnungen des wohl lautesten Staatskritikers der DDR: die Tagebücher Wolf Biermanns, vergraben in einem alten Essensbehälter aus Wehrmachtszeiten. Dirk Schreiber, Projektassistent der Ausstellung „Wolf Biermann. Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland“ über das vielleicht skurrilste Objekt der Ausstellung.

Photo: Eric Tschernow

Tagebuch zu schreiben, gehört für Wolf Biermann seit 1954 zu den Konstanten seines Lebens. Wie ein „Elektrokardiogramm der Seele“ sind Biermanns Tagebücher vor allem Chroniken des täglich Erlebten.1 Und als solche enthalten sie Anekdoten, Beobachtungen und Anmerkungen zu persönlichen und politischen Ereignissen. Vor allem enthalten sie aber auch Namen. Die Namen von Bekannten, Freund- und Feind*innen. Und gerade diese Namen machten die Tagebücher umso brisanter, je radikaler Biermanns Auseinandersetzung mit der SED-Führung wurde. In den Händen der Staatssicherheit hätten die Bücher zu einer echten Gefahr für Biermanns Wegbegleiter*innen werden können. Sie belegten, in welch engen Beziehungen sie zum Liedermacher standen und was bei den zahllosen gemeinsamen Treffen besprochen wurde.

Kurz vor seinem berühmten Konzert in Köln, auf das Biermanns Ausbürgerung aus der DDR am 16. November 1976 folgte, befürchtete er: „Ich hab Angst, dass ich verhaftet werde und dass sie mir dann meine vielen Tagebücher klaun.“2

Doch Biermanns Freund Reimar Gilsenbach wusste Rat. Gilsenbach, 1925 bei Wesel am Niederrhein geboren, hatte als passionierter Umweltaktivist seinen ganz eigenen Dissens mit der DDR-Führung. Schon während des Prager Frühlings 1968 hatte er Biermann geholfen, kurzzeitig unterzutauchen, als dieser wegen der angespannten Lage seine Verhaftung fürchtete. Nun, im Herbst 1976, nahm Gilsenbach Biermanns 50 Tagebücher in einer sprichwörtlichen Nacht-und-Nebel-Aktion an sich. Als Versteck wählte er sein Grundstück in Brodowin, wo er später mit den „Brodowiner-Gesprächen“ eines der ersten Diskussionsforen zum Thema Umweltschutz in der DDR gründete.3

Reimar Gilsenbach 1983 © Deutsche Fotothek / Barbara Morgenstern

Um die Tagebücher dauerhaft zu verstecken und vor Feuchtigkeit zu schützen, wählte Gilsenbach einen Thermobehälter aus Wehrmachtszeiten.

Thermobehälter dieser Art sind ein Produkt der Grabenkämpfe des Ersten Weltkrieges. Zuvor waren die militärischen Planer davon ausgegangen, dass Kriege in erster Linie durch große Feldschlachten entschieden werden. Mit Blick auf die Verpflegung der Soldaten hatte das den Vorteil, dass vor oder nach der Schlacht gegessen werden konnte. Bis ins 19. Jahrhundert hinein existierte außerdem in vielen Armeen noch keine zentrale Küche im Feld. Jeder Soldat kochte sich seine Mahlzeit über einem Feuer oder mittels eines Kochers selbst. Das war nach langen Marschtagen oder auslaugenden Kämpfen eine zeit- und energieraubende Tätigkeit. Abhilfe schafften die ersten mobilen Feldküchen, die zuerst in den Streitkräften Russlands und der Schweiz um 1890 eingeführt wurden.4 Das Kochen im Feld wurde jetzt an Feldköche und Feldbäcker ausgelagert.

Doch die Realitäten des Stellungskrieges ab 1914 erforderten eine Anpassung des Verpflegungssystems. Die Schützengräben an allen Frontabschnitten mussten durchgehend bemannt sein. Gleichzeitig konnte die Feldküche aus Sicherheitsgründen nicht an die vorderste Kampflinie herangefahren werden.

Wenn also die Soldaten nicht mehr zur Küche kommen konnten, musste das Essen – zu jeder Jahreszeit möglichst warm – zu ihnen gelangen. Das Ergebnis war der Speisen- oder Essenträger: Ein doppelwandiger Metallbehälter mit Korkisolierung und einem herausnehmbaren Einsatz, der bis zu 12 Liter Speisen oder Getränke fassen konnte. Der Deckel war aufklappbar und an seiner Innenseite war eine kleine Schöpfkelle befestigt. Mittels zweier Lederriemen konnte der Behälter wie ein Rucksack auf dem Rücken getragen werden. Jede Feldküche besaß bis zu sechs solcher Behälter, die an Soldaten der zu verpflegenden Einheit ausgegeben wurden.5 Sie trugen das Essen dann zu ihren Kameraden in den Frontstellungen.

„Essenträger auf dem Marsch in die vorderste Linie“. Propaganda-Postkarte aus dem Zweiten Weltkrieg. Berlin, Deutsches Historisches Museum: PK 2008/261

Die ersten Behälter dieser Art wurden im Deutschen Heer gegen Ende des Ersten Weltkrieges eingeführt.6 Ihr Design war so zweckmäßig, dass es nahezu unverändert von der Wehrmacht weitergenutzt wurde. Auch die Rote Armee sowie einige Streitkräfte Osteuropas adaptierten das Design und nutzten es in der Zeit des Kalten Krieges weiter.

Vermutlich aus diesem Grund bezeichnete Wolf Biermann den Behälter, der seine Tagebücher konservierte, lange auch als „NVA Suppenkübel“. Gilsenbachs Behälter ist jedoch älter, wie es die eingeprägte Markierung „bmc 41“ auf der Oberseite des Deckels verrät. Die 41 verweist auf das Modelljahr 1941 und „bmc“ auf das Emaillierwerk Gräßler & Schmidt im sächsischen Geithain als Hersteller.7

Der Essensbehälter in dem Reimar Gilsenbach Wolf Biermanns Tagebücher versteckte. Foto: Eric Tschernow

Im Jahr 1988 besuchte Gilsenbach bei einer Westreise seinen Freund Biermann in Hamburg und erinnerte ihn an die Tagebücher. Biermann hatte die Bücher laut eigener Aussage schon längst vergessen. Tagebuch hatte er aber auch nach seiner Ausbürgerung routiniert weitergeschrieben. Gilsenbach hob den Schatz in seinem Garten nach dem Fall der Mauer und übergab die Bücher ihrem Verfasser.8 Das Tagebuchwerk war wieder komplett. Auch der Essensbehälter als Zeugnis der Versteck-Aktion gelangte später in Biermanns Besitz.

Ohne Gilsenbachs Engagement hätte ein großer Teil der Tagebücher Biermanns Ausbürgerung vermutlich nicht überstanden. Spätestens mit der Räumung der Wohnung in der Chausseestraße 131 hätte die Staatssicherheit die Bücher entdeckt – mit unabsehbaren Konsequenzen für Biermanns Freund*innen und seine Familie. Heute bilden die Tagebücher den Kern von Biermanns Vorlass an der Staatsbibliothek zu Berlin. Dazu hat nicht nur sein guter Freund Gilsenbach beigetragen, sondern auch ein ganz profaner „Suppenkübel“.


1 Vgl. dazu: Roland Berbig: „Wie ein Buchhalter, wie ein Geschichtsschreiber, wie ein Elektrokardiogramm der Seele“ Wolf Biermanns Tagebuch-Werk, in: Wolf Biermann. Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland, Berlin 2003, S. 184 – 195.

2 Wolf Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten!, Berlin 2017, S. 480f.

3Carl Jordan: Ein freiheitlicher Ökologe. Zum Tod von Reimar Gilsenbach, in: Horch und Guck. Historisch-literarische Zeitschrift des Bürgerkomitees „15. Januar“ e.V. (37) 2002, S. 76f.

4Barbara Maiwald: Feldküche und Co. Verpflegung und Ausrüstung im deutschen Heer, Stuttgart 2018, S. 12.

5H.Dv. 476 / 3: Das allgemeine Heeresgerät, Berlin 1937, S. 37.

6Feldküchen-Vorschrift für die große Feldküche, Berlin 1918, S. 10.

7Liste der Fertigungskennzeichen für Waffen, Munition und Gerät, Berlin 1944 (Nachdruck: Nürnberg 1977), S. 130.

8Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten!, S. 482.


 

 

Dirk Schreiber

Dirk Schreiber ist seit 2022 als Projektassistent an der Ausstellung „Wolf Biermann“ beteiligt. Er studierte Militärgeschichte und Militärsoziologie in Potsdam und absolvierte sein Volontariat in der Luft- und Raumfahrtabteilung des Deutschen Technikmuseums, Berlin.