Sturmfluten an der Nordsee
Dr. Sven Lüken | 16. August 2023
Ein Blick in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zeigt die große Vielfalt an Objekten, die im Bezug zu verschiedenen Epochen und Themen deutscher Geschichte stehen. Sie erzählen Geschichten von zurückliegenden oder aktuellen Lebenswelten, von berühmten und eher unbekannten Personen und Ereignissen. In unserer neuen Blogserie #Umweltsammeln stellen wir die Vielfalt unserer Sammlungsobjekte zum Themenfeld „Umwelt“ vor. Dabei eröffnen überraschende Fragestellungen der Sammlungsleiter*innen neue Perspektiven auf historische Objekte und oftmals erstaunliche Parallelen zu heutigen Fragestellungen.
Dr. Sven Lüken, Leiter der Militaria-Sammlung, nimmt eine der ersten Karten aus der DHM-Sammlung, auf der die Landveränderungen durch Sturmfluten dargestellt werden, zum Anlass, schlaglichtartig die Wahrnehmung katastrophaler Sturmfluten in ihrer Geschichte vom Mittelalter bis in heutige Zeiten zu erzählen.
Das Phänomen
Bei Überflutungen denkt man heute sofort an den Klimawandel. Freilich ist er keine Erscheinung allein unserer Tage. Das hohe Mittelalter, von 950 bis 1250, war in ganz Europa eine ausgesprochene Warmzeit, wenn auch regional unterschiedlich. Die Gründe und Ausprägungen sind ebenso wie Datenerhebungen nicht bekannt, doch ist eines klar: Menschen waren dafür nicht verantwortlich, davon gab es zu wenige. Aber die Folgen hatten damals schon Auswirkungen. Bis ins nördliche Schottland und in Grönland wie in Norwegen wurde Getreide angebaut, in Schleswig-Holstein reifte Wein, denn das Klima wurde feucht-warm.
Aufgrund der mittelalterlichen Warmzeit erhöhte sich der Meeresspiegel und die Stürme wurden stärker – wie heute. Als die Sturmfluten häufiger wurden, begannen die Küstenbewohner der südlichen Nordsee, die ursprünglich auf dem flachen Küstensaum des Meeres siedelten, künstliche Hügel, die Wurten oder Warften, für ihre Siedlungen aufzuschütten. Ende des 13. Jahrhunderts war eine erste geschlossene Deichlinie erreicht. Im 15. Jahrhundert zeigten die Vorboten der „Kleinen Eiszeit“ einen generellen Wandel hin zu einer Periode relativ kühlen Klimas an.
Immer dann, wenn ein steifer Nordwestwind tagelang auf der Deutschen Bucht stand, wenn eine besondere Sonne-Erde-Mond-Konstellation dazu noch eine Springtide mit extremeren Gezeiten brachte und schließlich Tau- oder Regenwasser der großen Flüsse Rhein, Weser und Elbe den Meeresspiegel beeinflusste, konnte eine Sturmflut kommen – der sogenannte „Blanke Hans“ zur Bedrohung werden. Dann kam es darauf an, ob die vom Menschen geschaffenen Deiche und Wurten hoch genug waren, ob die Schutzbauwerke wie Siele, Schleusen und Häfen in einem guten Zustand waren.
Bau und Unterhalt der Deiche war zunächst Pflicht der Anwohner, dann kommunale Aufgabe der Küstengemeinden Frieslands. Das friesische Land mit seiner Herrschaft in der Hand von Gleichen tat sich lange schwer mit der Akzeptanz des Adels, der sonst in Europa das Zepter führte. Doch gerade in Krisensituationen übernahmen dann eben doch herausragende Adlige den Deichbau. Im 14. Jahrhundert entstand auch in den meisten Küstenländern ein Adel, der oftmals seine bis dahin verbotenen Burgen auf neu-, also selbst eingedeichtem Land baute.
Zahlreiche Sturmfluten überzogen im Verlauf des Mittelalters das Land an der Deutschen Bucht. Über die meisten wissen wir nichts, weil kein Chronist Zeit und Gelegenheit fand, diese Katastrophen zu protokollieren. Meist kennt man nur die Daten, an den Heiligen des christlichen Kalenders orientiert – so beispielsweise auch bei der „Zweiten Marcellusflut“.
1362 – die „Grote Mandränke“ im Klimawandel
Am 15. Januar 1362, dem Tag des heiligen Papstes Marcellus, lief an der gesamten südlichen Nordseeküste eine Sturmflut auf, die verheerende Folgen haben sollte. Auch hier gibt es wenig Nachrichten, doch verdichtet sich die Quellenlage. Die „Zweite Marcellusflut“ genannte Katastrophe – die „Erste Marcellusflut“ hatte sich am selben Kalendertag des Jahres 1219 ereignet – veränderte die Küstenlinie nachhaltig. Inseln wurden zerstört, geteilt oder geschaffen und große Landstriche des Festlands gingen über Nacht verloren. In Ostfriesland wurden die Buchten Dollart, Leybucht, Harlebucht und Jadebusen entscheidend vergrößert, in Schleswig-Holstein ging die bisherige Küstenlinie vollständig verloren, die Halligen entstanden. Schätzungen gehen von bis zu 100.000 Toten aus. Die bis heute mythische Stadt Rungholt verschwand von der Bildfläche. Sicher ist, dass 30 Dörfer in einer Nacht vernichtet wurden, infolge der Sturmflut durch die zerstörten Deiche insgesamt 44 Dörfer. Viele andere wurden für viele Jahre von der Umgebung abgeschnitten und wurden zu Inseln. Dieser epochalen Bedeutung ist es geschuldet, dass die Marcellusflut ihren Beinamen „De grote Mandränke“ bis heute behalten hat.
Die Katastrophe war der Natur und dem Menschen geschuldet. Jahrzehnte waren seit der Schließung der Deichlinie vergangen. In der Zwischenzeit war der Meerespegel gestiegen, vermutlich um mehrere Dezimeter. Vor allem liefen die Fluten als Folge des Deichbaus jetzt höher auf, weil das Wasser weniger Platz fand. Das eingedeichte Land dagegen war nach Austrocknung und Erosion eingesunken. In manchen Gegenden wurden die Moore hinter dem Deich zur Gewinnung von Brennstoff abgetorft – eine ökologische Untat, die nach Meereseinbrüchen zu tiefen, schwarzfarbenen Gewässern führten, wie dem „Schwarzen Brack“ südwestlich von Wilhelmshaven. Und schließlich war es die Große Pest, die ab 1348 die überlebenden Menschen dazu verführte, den Deichbau zu vernachlässigen.
Waren bis dahin nur die ohnehin bewirtschafteten Ländereien umdeicht worden, so änderte sich jetzt die Strategie. Überall an der Küste ging man nach der Katastrophe der „Groten Mandränke“ dazu über, offensiv Neuland einzudeichen, um sich das Verlorene zurückzuholen. Mit der Entstehung des frühmodernen Territorialstaates seit der Reformation traten die neuen lokalen Adeligen in die Rolle des Deichbauers ein. Deichbau wurde eine herrschaftliche Aufgabe, die genossenschaftlichen Friesen waren nur noch Tagelöhner. Die neu gewonnenen Marschländer werden „Koog“ in Nordfriesland, analog dazu „Groden“ und „Polder“ in Ostfriesland genannt. Ihre Beinamen aus der Nomenklatur der Fürsten und Prinzessinnen verraten, wer hierbei das Sagen hatte.
Wenn die Menschheit Krieg führt – die Weihnachtsbescherung 1717
Die Weihnachtsflut des Jahres 1717 ist nicht nur eine der schwersten Sturmfluten überhaupt, sondern ist im Gegensatz zu früheren Sturmfluten in Schriftquellen und sogar im Bild gut fassbar. Die abgebildete Karte aus der Sammlung des DHM gab der Nürnberger Kartograph Johann Baptist Homann heraus. An der detailgetreuen und verlässlichen Karte von Norddeutschland lässt sich das Vordringen der Wassermassen gut ablesen. Die Karte gibt außerdem einen Bericht der Flut und zeigt auf einem Ausschnitt am unteren Rand, wie durch eindringende Wassermassen Gebäude überflutet werden und Dämme brechen. Im Gegensatz zu der „Zweiten Marcellusflut“ werden die Ereignisse nicht nur durch persönliche, meist mündliche Überlieferungen berichten, sondern man kann sich nun auch auf eine detailgetreue Schilderung auf der Karte verlassen.
Nach einer längeren Südwestwetterlage erfasste am 24. Dezember 1717 ein nordatlantisches Orkantief aus Nordwest die Küsten der Niederlande und Deutschlands. Nachdem der Wind gegen Abend zurückgegangen war, frischte er gegen Mitternacht noch einmal auf. Die Flut überraschte die Menschen im Schlaf. Bis weit ins Hinterland, bis an den Geestrand der Marschen strömten die Fluten. Schiffe segelten und strandeten dort, wo sie nichts zu suchen hatten.
Als das Wasser nach drei Tagen wieder abfloss, hielten sich die Landverluste in Grenzen. Aber allein an der deutschen Nordseeküste starben 9.000 Menschen, in den benachbarten Niederlanden noch mal 2.500. Das Statistik affine Zeitalter des Merkantilismus listete genau auf, was sonst noch verloren gegangen war: 2.300 Pferde, 9.500 Rinder, 2.800 Schafe und 1.800 Schweine. Allein in Ostfriesland waren 900 Häuser ganz weggespült und 1.800 beschädigt worden.
Die schlimmste Folge aber waren erneute Fluten im folgenden Jahr, die das Land erneut unter Wasser setzten, weil die erschöpfte Bevölkerung die Deiche nicht wieder schließen konnte. So versalzten die Böden und das gerettete Vieh konnte nicht mehr ernährt werden. Krankheiten brachen aus, die besser davongekommenen Bauern kauften den anderen das Land zu Schleuderpreisen ab, eine Besitzkonzentration war die Folge, ein Teil der Bevölkerung wanderte trotz Verbots aus.
Warum war das 1717 passiert? Am Klimawandel lag es nicht, inzwischen war man in der „Kleinen Eiszeit“, der Meerespegel war wieder gesunken. Aber etwas Anderes hatte zur Vernachlässigung der Deiche geführt. Die Republik der Niederlande hatte sich im Spanischen Erbfolgekrieg, der von 1701 bis 1713 weltweit geführt wurde, als Führungsmacht verausgabt. In der benachbarten Grafschaft Ostfriesland lagen Fürst und Stände seit Jahrzehnten im gewalttätigen Streit um Standesrechte und fürstlichem Absolutismus. In der Grafschaft Oldenburg war das angestammte Herrscherhaus nach Dänemark gewechselt und ließ das Land von landfremden Beamten regieren, deren Engagement und Durchsetzungsfähigkeit für landesherrliche Großprojekt wie den Deichbau nicht ausreichte. So verlor der Oldenburger Landesteil Butjadingen 30% seiner Bevölkerung durch die Flut. Schließlich tobte in Nordeuropa von 1700 bis 1721 der große Nordische Krieg zwischen Russland, Sachsen-Polen und Dänemark-Norwegen auf der einen gegen Schweden auf der anderen Seite. So waren unmittelbar vor der Weihnachtsflut das schwedische Herzogtum Bremen-Verden und das dänische Schleswig-Holstein Kriegsschauplatz gewesen. Bau und Unterhalt der Deiche war inzwischen allein Aufgabe des Fürstenstaates, der die Kommunen ausgebootet und die Bevölkerung direkt zu Abgaben gezwungen hatte. Aber wer kämpft gegen das Meer, wenn die Fürsten Kriege gegeneinander führen?
Ein Mann will nach oben – 1962 und der Beginn eines Mythos
Sturmflutgedenkmedaillen erschienen in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg. Sie wurden an Helfer verliehen. Die Freie- und Hansestadt Hamburg aber verleiht ihren Bürger*innen keine Orden- und Ehrenzeichen, wohl aber Dankmedaillen an auswärtige Helfer*innen.
Das 20. Jahrhundert sah aufgrund technischen Fortschritts Naturkatastrophen als überwunden an. Dass aber auch heute noch Sturmfluten an der Nordsee Auswirkungen haben, wird an der Sturmflut vom 16. und 17. Februar 1962, die in der traditionell benannten Reihe den Namen Zweite Julianenflut bekam, deutlich.
Seit Wochen hatten stürmische Wetterlagen das Wasser in die Deutsche Bucht wie in einen Trichter gedrückt, so dass das Hochwasser nicht mehr abfließen konnte, am 15. Februar schwoll der Sturm zum Orkan an und drehte auf westliche Richtung. Dazu regnete es. In Deutschland waren die rückwärtigen Flussmarschen, besonders die der Freien und Hansestadt Hamburg betroffen. Sie war im Zweiten Weltkrieg Ziel verheerender alliierter Bombenangriffe gewesen. Die dabei getroffenen Deiche waren zumeist nur provisorisch mit Trümmerschutt ausgebessert worden, ein Teil der Bevölkerung lebte noch immer in wackeligen Behelfsheimen, die schnell in Grünanlagen und Gartenkolonien errichtet worden waren und gegen Wasser erst recht keinen Schutz boten, deren Dächer nicht einmal als Plattformen für Evakuierungen taugten. Teilweise wurden Deiche gärtnerisch genutzt, waren also ohne Grasnarbe der Unterspülung schutzlos preisgegeben.
In der Millionenstadt Hamburg war die im Zweiten Weltkrieg erprobte, militärisch strukturierte Katastrophenabwehr nach 1945 aufgelöst worden. Während es in anderen, kleinteilig aufgebauten Regionen Norddeutschlands in Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein gelang, rasch mit Hilfe der amerikanischen und britischen Besatzungstruppen sowie der Bundeswehr Abhilfe zu schaffen, versank Hamburg nicht nur im Wasser, sondern auch im Chaos. Das Fernsehen weigerte sich zunächst, eine Sturmflutwarnung zu übertragen, um eine beliebte TV-Serie nicht zu unterbrechen. Der Bürgermeister war im Urlaub, wichtige Funktionsträger zuhause.
So konnte es dazu kommen, dass in Hamburg an mehr als 60 Stellen die Deiche brachen und 120 km² der Hansestadt unter Wasser standen. Es gab 315 Tote und 20.000 Obdachlose, später zählte man Tausende von toten Rindern, Schweinen und Hühnern, der Sachschaden belief sich auf etwa eine Dreiviertelmilliarde Mark.
Die Sache wäre noch schlimmer gekommen, wenn sich nicht der Hamburger Innensenator in sein Büro begeben und einen Krisenstab aufgebaut hätte. Es war der Sozialdemokrat Helmut Schmidt, der in der erlernten Attitude des Wehrmachtsoffiziers ohne verfassungsmäßige Grundlage, sich auf die Notlage berufend gehandelt und Hilfsorganisationen und Militär an sich gezogen hatte. Er kannte als Innensenator die Polizei- und Katastrophenbehörden, als Verteidigungsexperte die Generalität und ließ sie antreten. Freilich schuf er dabei einen Mythos, denn in den anderen Regionen der Flut war das, was er in Hamburg wortgewaltig aufbaute, schon längst still geschehen. Sein Handeln rehabilitierte nicht nur den tatkräftig eingreifenden Wehrmachtsoffizier. Eine Dankmedaille wie die auswärtigen Helfer hat Helmut Schmidt als Hamburger nicht erhalten. Aber der in Hamburg 1962 von ihm selbst geschaffene „Schmidt-Mythos“ brachte ihn 1974 ins Bonner Kanzleramt und später in die Herzen der West- und auch der Ostdeutschen.
Fazit
Die Region an der Deutschen Bucht ist durch ihre Geographie eines der am stärksten von Sturmfluten bedrohten Gebiete weltweit. Im Verlauf der Jahrhunderte, ob in ausgesprochenen Warmzeiten oder in Kälteperioden, hat die See Landverluste verursacht oder soziale, wirtschaftliche und politischen Entwicklungen beeinflusst. Nur konsequenter Deichbau verspricht Schutz vor Überraschungen durch die Elemente. Der durch Wind und andere natürliche Phänomene ausgelöste temporäre Anstieg des Meeresspiegels, die Sturmflut selbst, konnte durch Menschen bisher nicht beeinflusst werden. Das scheint sich durch einen aktuellen Klimawandel zu ändern.
© DHM/Thomas Bruns |
Dr. Sven LükenDr. Sven Lüken ist Sammlungsleiter Militaria, beinhaltend Waffen, Rüstungen und Militärisches Gerät, am Deutschen Historischen Museum. |