> Helmut Liedtke: Flucht aus Koenigsberg 1945

Helmut Liedtke: Flucht aus Königsberg 1945

Dieser Eintrag stammt von Helmut Liedtke aus Leonberg (helmutdr.liedtke@gmail.com), Oktober 2014

Letzte Tage in Königsberg

Wir wohnten in Königsberg, Luisenhöh 5. Es war eine kleine Straße, eine Nebenstraße der Hufenallee, die in den Park "Luisenwahl" hineinging. Unsere Wohnung lag sehr günstig. Im Park konnten wir nach Herzenslust spielen. In der Hufenallee fuhr die Straßenbahn, mit der wir in zehn Minuten zum Nordbahnhof kommen konnten mit der Möglichkeit, in kurzer Zeit die Ostsee zu erreichen mit den berühmten Bädern der Samlandküste, der "Bernsteinküste". Dort gab es bekannte Bäder, Cranz, Rauschen, Palmnicken und andere. Wir waren im Sommer regelmäßig dort für einige Wochen. Es gab herrlichsten Sandstrand und wenn wir morgens früh zum Strand kamen, fanden wir im Sand am Wasser kleine Bernsteinstückchen, die in der Sonne funkelten. Zu der Zeit gab es noch kaum Autos. Der kleine Zug zur Ostsee fuhr auf einem einzelnen Gleis. Die Natur war verhältnismäßig ursprünglich und ohne die heutigen Gifte. Landwirtschaft wurde mit Pferden betrieben und Maschinen gab es kaum. Noch kannte niemand das Wort Stress im Alltag. Aber Anfang 1945 in sehr kaltem Winter war der Krieg für uns in der letzten entscheidenden erbarmungslosen Phase. Meine Mutter hatte mit meiner Schwester und mir versucht, mit dem Zug aus Königsberg wegzukommen. Wir fuhren ab. Der Zug fuhr eine Strecke und blieb irgendwann stehen. Eine lange quälende Zeit begann. Im Zug waren Soldaten. Sie sangen das bekannte Soldatenlied: "Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod ..." Der Zug fuhr ein Stück weiter und blieb wieder stehen. Sehr lange. Dann fuhr er schließlich zurück nach Königsberg. Die Russen waren durchgebrochen und hatten die Bahnstrecke besetzt. "Heute Abend kommen wir raus. Abends nimmt ein Schiff im Hafen Flüchtlinge an Bord." Meine Mutter glaubte nicht wirklich, was sie sagte. Es waren nur wenige Tage seit unserer vergeblichen Zugfahrt vergangen. Mein Vater war als Soldat in Frankreich. Wir waren ohne aktuelle Nachricht von ihm. Am späten Nachmittag kamen wir mit "Tante" Erika, einer Freundin, in den Hafen von
Königsberg. Es war sehr kalt, der Himmel und die ganze Welt waren grau, düster und trostlos. Wir sahen alte Schuppen und den Hafenkai. Nichts bewegte sich. Kein Mensch war zu sehen, kein Schiff. Die Dämmerung hatte begonnen. Es war nur noch kaltes Grauen in uns. Wir gingen zurück zur Straßenbahn und fuhren wieder nach Hause. "Tante" Erika sagte, sie würde sich Gift besorgen. Sie wolle nicht den Russen in die Hände fallen. Einige Tage später wurde sie bei Fliegeralarm im Luftschutzkeller vermisst. Sie hatte eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Sie wurde gerettet.

Aufbruch zu Fuß

Im Januar 1945 gingen wir immer zu Fuß zu unserer Großmutter, der Mutter unserer Mutter, die nicht sehr weit von uns "Auf den Hufen" wohnte. Eines Tages kam unsere Mutter von einem Einkauf sehr empört zurück. Sie berichtete, Gauleiter Koch würde alle aufrufen, Königsberg nicht zu verlassen. Es würden in Kürze neu entwickelte Wunderwaffen eingesetzt. Offenbar glaubte niemand an die Existenz dieser Wunderwaffen - am allerwenigsten Gauleiter Koch. Nach dem Krieg erfuhren wir, dass er als einer der Ersten geflohen war. Wir brachen im Januar mit unserer Großmutter auf, um zu Fuß nach Pillau zu kommen in der Hoffnung, von dort aus mit einem Schiff nach Westdeutschland zu gelangen. Meine Erinnerung an die Flucht zerfällt in einzelne Abschnitte, die sich mir eingebrannt haben. Wir waren am Westrand von Königsberg. Wir wanderten auf einem Feldweg in verschneiter Landschaft. Rechts waren Felder und dahinter in der Ferne Wald. Links war Gewerbegebiet. Von rechts vor uns kam ein Flugzeug angeflogen. Es warf eine Bombe in eine Fabrik etwa zwei bis drei Kilometer links von uns. Wenige Meter neben uns schlug ein Bombensplitter oder ein Stein in den Schnee. Wir kauerten uns hin, aber es war schon alles vorbei. Wir gingen weiter. In der Ferne hörten wir gelegentlich Maschinengewehrfeuer und manchmal auch Explosionen von Einschlägen von rechts aus der Richtung des fernen Waldes. Wir fühlten uns sehr bedrückt und gefährdet, obwohl der Kampflärm weit genug weg war. Nach kurzer Zeit kam mit hohem Tempo ein Pferdekarren aus Richtung Königsberg. Der Mann nahm uns ein Stück mit, bis wir zu einem Wald kamen. Am Waldrand stand eine kleine Hütte. Einige deutsche Soldaten hatten dort Zuflucht gefunden. Sie hatten nichts dagegen, dass wir hereinkamen. Mutter sagte, dass der Krieg ja wohl offensichtlich zu Ende sei. Da fing einer der Soldaten an, fürchterlich zu schimpfen. Sie hätten ihr Leben und ihre Knochen eingesetzt und jetzt käme sie daher und würde große Töne spucken. Wir sind - so schnell wir konnten - wieder weiter gezogen.

Das Fischerhaus und die Russen

Unser erstes Ziel war ein Fischerhaus. Von dort hatte unsere Großmutter immer Kartoffeln bezogen. Das Haus war entweder in der Nähe von Groß Heydekrug oder es gehörte dazu. Wir erreichten es noch am ersten Tag. Das Haus war fast bis zum Erdboden mit Schilf gedeckt. Man kam an einer Giebelseite hinein in einen kleinen Vorraum, der bis zum Dach reichte. Von oben hing im Abstand von der Wand ein geräucherter Schinken von der Decke herab. Aus dem Vorraum ging es in den Wohnraum, der fast den Rest des Hauses einnahm und ebenfalls bis zum Dach reichte. Er war Wohnraum und Küche zugleich. Rechts davon war noch ein kleiner Schlafraum. Am nächsten Morgen kam ein Nachbar, um uns zu warnen. Es seien russische Soldaten im Ort. Wir sollten auf keinen Fall das Haus verlassen. Die Nachricht über die Russen im Ort hatte uns natürlich sehr erschreckt. Wir blieben im Haus und warteten. Nach meiner Erinnerung waren es zwei oder drei Tage, bis wir die Nachricht an einem Morgen erhielten, dass die Russen weiter gezogen waren.

Übernachtung im Wald und Russen

Es wurde beschlossen, dass wir noch am gleichen Tag nach Pillau aufbrechen sollten. Wir durften keine Zeit verlieren, da zu befürchten war, dass die Russen mehr und mehr Truppen heranbringen würden. Noch am gleichen Tag am Nachmittag brachen wir auf, meine Großmutter, Mutter Schwester und ich. Ein älterer Mann hatte sich bereiterklärt, uns nach Pillau zu führen. Er wollte von dort aus wieder in sein Dorf zurückkehren. Neben dem Dorf auf der Seite zum kurischen Haff war ein schmaler Kanal, der in der Mitte eisfrei gehalten war. Unser Begleiter brachte uns mit einem kleinen Boot über die Fahrrinne. Auf der anderen Seite befand sich Wald, der uns Sichtschutz gab. Es wurde angenommen, dass dort keine Russen zu erwarten wären. Ein Irrtum, wie sich in der Nacht herausstellte. Solange es hell war, waren wir durch den Wald Richtung Pillau gewandert. Es wurde früh dunkel. Wir erreichten schließlich ein Schutzgebilde aus Holz, das aus vier Pfosten, einem Dach und einer Wand bestand. An drei Seiten war diese Hütte also völlig offen. Der Boden der Hütte war unbefestigter Waldboden. Ich fand einen Stahlhelm, in dem sich eine einfache Armbanduhr befand. Als Finder durfte ich sie behalten. Die Uhr ging nicht und ist wohl irgendwann untergegangen. Wir richteten uns für die Nacht ein. Wir hatten Wintermäntel an, Mützen, Handschuhe und lange Wollstrümpfe. Einen anderen Schutz gegen die eisige Kälte gab es nicht. Zu der Zeit waren die Nächte in Ostpreußen sehr kalt, wohl sicher unter zwanzig Grad minus, eher dreißig Grad oder mehr. Wir hatten keine Vorstellung, ob wir die Nacht unter diesen Voraussetzungen überstehen würden. Wir drängten uns am Boden möglichst eng zusammen, um uns gegenseitig zu wärmen. Noch bevor wir eingeschlafen waren, warnte uns plötzlich unser Begleiter, es seien russische Soldaten in der Nähe. Wir trauten uns kaum hinzusehen, bemerkten aber doch zwischen den Bäumen einige Soldaten in uns fremder Uniform, die offenbar nur Russen sein konnten. Wir versuchten, uns alle am Boden so klein wie möglich zu machen. Das hatte natürlich seine Grenzen. Die Russen sahen uns, bewegten sich aber sehr ruhig und zogen sich so weit zurück, dass wir sie nicht mehr sehen konnten. Wir waren natürlich sehr erleichtert. Wir haben sie auch später nicht mehr gesehen.

Nach Pillau und Gotenhafen

Am Morgen brachen wir früh auf. Wir wollten so schnell wie möglich nach Pillau kommen. Allerdings hatten wir über die Fluchtmöglichkeiten von Pillau aus nur die schlechtesten Meinungen gehört. Angeblich waren die Chancen, dort weiterzukommen, gleich null. Es seien Leute wieder zurückgekommen, die vergeblich versucht hatten weiterzukommen. Wir waren also voller Ängste, umgeben von Krieg und fast ohne Hoffnung. Unter Führung unseres Begleiters zogen wir aber weiter. Wir wanderten durch den Wald und gelangten auf einen einfachen Weg, der an dem bereits genannten Kanal entlang führte. Wenn ich mich recht erinnere, war der Kanal inzwischen weitgehend eisfrei trotz der Kälte. Nach einiger Zeit hörten wir vor uns auf dem Kanal die Geräusche eines Schiffes, das sich uns näherte. Wir waren natürlich vorsichtig, stellten aber bald fest, dass es ein nicht sehr großes deutsches Marineboot war. Das Schiff stoppte die Fahrt, nachdem die Mannschaft uns gesehen hatte. Ein Matrose rief uns mit Megaphon zu, wir sollten bis zu einem Anlegesteg weiter gehen. Das Boot würde in Kürze zurückkehren und uns aufnehmen. Wir zogen erwartungsvoll weiter und kamen - wie angekündigt - an einen Anlegesteg. Das Boot kam nach einiger Zeit wieder zurück. Wir stiegen hinüber. Ich nehme mangels eindeutiger Erinnerung an, dass unser Begleiter an dieser Stelle umkehrte, da er ja in seinem Dorf sein wollte. Das Boot war zu unserem Glück unterwegs gewesen zur Aufnahme von Kohlen. Es brachte uns nach Pillau, musste uns dort aber an Land setzen. Wir waren im Hafen und hielten Ausschau nach einem Schiff zur Weiterfahrt. Noch einmal hatten wir unwahrscheinliches Glück. Wir sahen eine Menschenansammlung am Ufer bei einem Frachtschiff, das gerade anfing, Flüchtlinge zur Weiterfahrt nach Gotenhafen aufzunehmen. Da in solchen Fällen Mütter mit Kindern immer zuerst versorgt wurden, waren wir sehr bald an Bord. Wir mussten eine lange Leiter hinabsteigen und kamen in einen geräumigen Frachtraum. Um uns herum standen mit Zwischenräumen große Kisten. Wir richteten uns zwischen den Kisten ein wie die Menge der anderen Flüchtlinge. Mit der Zeit fing es an zu riechen. Die Gerüche wurden stärker. Aber was bedeutete das schon. Ich nehme an, dass wir am folgenden Tag in Gotenhafen ankamen. Ich sehe noch in meiner Erinnerung das Bild eines Hafens, in den unser Schiff einlief. Inmitten des Hafens lag ein Frachtschiff vor Anker, das Schlagseite hatte und uns damit gleich die Stimmung nahm, besonders durch die Erzählungen über das versenkte Flüchtlingsschiff, von dem wir gehört hatten. Wir konnten nur per Schiff weiterkommen und befanden uns mitten im Kriegsgebiet.

Von Gotenhafen nach Sassnitz

Wir waren im Marinehafen gelandet und wurden von der Marine betreut. Nach einer Wartezeit kamen wir auf ein Minensuchboot. Wir wollten nach Sassnitz auf der Halbinsel Rügen. Wir fuhren zur Minensuche vor einem Marine-Geleitzug mit einigen Schiffen. Vorn an unserem Bug hing ein Minensuchgerät an einer Stange im Wasser. Es sollte Minen auffischen, die unter der Wasseroberfläche nicht sichtbar waren. Durch den Wellengang schlug das Gerät von Zeit zu Zeit gegen den Bug. Da die Seeleute nicht darauf reagierten, meinte ich, dass alles in Ordnung war. Meine Mutter erzählte später einmal, sie hätte jedes mal Angst gehabt, eine Mine könnte gegen das Schiff gestoßen sein. Sie habe jedes Mal befürchtet, dass eine Mine explodieren könnte. Es entwickelte sich ein Sturm, der nach und nach immer stärker wurde. Zuerst fingen einige Flüchtlinge an zu spucken. Nach und nach wurden es immer mehr. Mir ging es anfangs noch ganz gut. Aber mit der Zeit wurde auch ich seekrank. Immerhin war ich sehr stolz, dass ich der Vorletzte war, der spucken musste. Zuletzt kam meine Großmutter an die Reihe. Aber es ging uns schließlich allen sehr schlecht und immer schlechter. Die Fahrt dauerte an und damit unser furchtbares Elend. Als ich schon glaubte, wir würden sterben, kam eine Durchsage. Im Geleitzug sei auch ein Hausboot, es sei in Seenot und unser Boot müsse Hilfe leisten. Für uns brach die Hölle los. Wir wurden kreuz und quer durch die Wellen gefahren, die somit wechselnd von allen Seiten unser Schiff hoben und abgleiten ließen. Wie furchtbar so etwas ist, kann sich nur vorstellen, wer das einmal erlebt hat. Es waren Höllenqualen. Es kam später die Durchsage, wir müssten das Hausboot zum nächsten Hafen bringen. Der Schrecken nahm kein Ende und gipfelte schließlich in der Mitteilung, unser Schiff würde ohne den Geleitzug nach Gotenhafen zurückkehren. Schrecken ohne Ende. Als wir in Gotenhafen ankamen, sagte man uns, wir seien als abgereist in der Liste ausgetragen und damit könne man nichts mehr für uns tun. Meine Mutter wurde sehr böse und fragte, ob wir uns aufhängen sollten. Schließlich wurden wir doch wieder im Lager aufgenommen, bis ein neuer Transport möglich wurde. Wir kamen wieder auf ein Minensuchboot und fuhren wieder an der Spitze eines Geleitzuges. So schrecklich die Fahrt vorher war, so herrlich wurde die zweite. Unser Boot war aus Dänemark zurückgekommen und die Matrosen hatten sich dort mit Lebensmitteln gut versorgen können. Es war wie ein Wunder. Es gab gebratene Eier! Gutgelaunte Seeleute gaben uns Kindern Hände voll Bonbons. Es war kaum zu fassen. Wir durften auf einer kleinen Kanone spielen. Sie war kinderleicht drehbar und wir richteten sie im Spiel auf die anderen Schiffe des Geleitzuges. Es war eine unbeschwerte Fahrt bei ruhigem Wetter. Wir Kinder fühlten uns gut, spielten auf dem Deck und genossen die Schiffsfahrt. Wir kamen schließlich ohne besondere Ereignisse in Sassnitz an und fuhren mit dem Zug nach Kitzingen am Main, unserem Ziel. An die Zugfahrt kann ich mich nicht mehr erinnern. Sie verlief offenbar ohne besondere Ereignisse.

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