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Ingetraud Lippmann: Eine wunderbare Freundschaft nach 58 Jahren

Dieser Eintrag stammt von Ingetraud Lippmann (*1936 ) aus Hamburg , März 2003 :

Mit einem Leserbrief an unsere Tageszeitung fing alles an. Ein großer Bericht mit dem Bild über den Untergang der "Steuben", die 1945 in der Ostsee torpediert worden war, veranlasste mich, mit einem Leserbrief darauf zu antworten.

In der besagten Zeit waren auch wir aus Königsberg auf der Flucht. In Gotenhafen standen 4 Minensuchboote, die Mütter mit ihren Kindern mitnahmen. Im ersten Schiff durften wir einsteigen. Die Väter mussten dort bleiben. Wie viele andere, habe auch ich meinen Vater nicht mehr wiedergesehen.

Während wir nachts mit unserem Minensucher "Drache" unterwegs waren, bekam der Kapitän den Befehl, umzukehren und zur Unglücksstelle der torpedierten "Steuben" zu fahren. Wir Flüchtlinge mussten unsere Schwimmwesten anlegen und wurden dann in der Offizierskajüte eingeschlossen. Weil ich nötig zur Toilette musste, trommelte ich an die Tür, bis mir ein Matrose öffnete. Er begleitete mich zur Toilette, und auf dem Weg dort hin sah ich, wie ein toter Soldat an Bord gezogen und mit einer Decke zugedeckt wurde. Auf dem Rückweg zur Kajüte drückte der Matrose meine kleine Kinderhand ganz fest. Ich war damals fast 9 Jahre alt. Der Kapitän erklärte uns nach der Rettungsaktion alles ruhig und genau. Überhaupt war die ganze Mannschaft immer sehr lieb und nett zu uns. In Ostswine mussten wir wegen eines Motorschadens aussteigen. Einige Matrosen halfen uns, unser Gepäck durch den tief verschneiten Wald zu einem Barackenlager zu tragen. Unsere Väter waren ja nicht mehr bei uns.

Bis vor einigen Jahren war mein Wissensstand so, dass unser "Drache" später selbst auf eine Mine gelaufen ist und niemand überlebte. Jetzt weiß ich es anders und genau: Im Sommer 2002 wurde mein Leserbrief in der Zeitung abgedruckt. Er war der Auslöser für eine wunderbare, ganz besondere Freundschaft, denn es meldete sich ein Herr, dessen Bruder auf einem der vier Minensuchboote gefahren war. Ich erhielt die Telefonnummer und rief bei dem ehemaligen Matrosen an. Schnell merkte ich, dass wir viele Erinnerungen auszutauschen haben. Die Telefonate wurden häufiger und länger. Er erzählte mir, dass seine Mannschaft von der Kriegsmarine einige Monate in Königsberg stationiert war. Wenn sie im Königsberger Hafen einliefen, kamen sie immer bei der grünen Brücke an. Er verriet mir, dass sie ab und zu ausgegangen sind. Im Tiergartenrestaurant spielte die beste Tanzkapelle. So hatte er mir viel von meiner Heimatstadt vorgeschwärmt. Ebenso erfuhr ich von ihm, dass die meisten Minensuchboote auf der Schichauwerft gebaut wurden, denn nur diese Werft hatte eine zweite, hintere Ausfahrt. Ich erzählte ihm, dass mein Vater auf der Werft gearbeitet hatte. Wir tauschten traurige aber auch schöne Erinnerungen aus.

Während der Gespräche fiel Herrn F. der Name eines anderen Matrosen ein, den sein Minensuchboot später vom "Drache" übernommen hatte, als das Schiff einen Bombentreffer bekam und nur die halbe Mannschaft überlebte. Mit der Adresse fand mein Mann auch schnell die Telefonnummer.

Zwei Tage später rief ich dort an. Ich stellte mich vor. Da Herr F. dem Matrosen auch schreiben wollte, fragte ich, ob er schon Post aus Hamburg erhalten hätte. Er sagte: "Ja, ach sind Sie das kleine Mädchen, dass damals auf unserem Schiff war?" Eine rührende Frage für mich. Auch Herrn H. schilderte ich einige Einzelheiten. Er wunderte sich, was ich alles noch weiß. Für ihn ist der Jahresbeginn immer eine traurige Zeit. Wenn er im Freundeskreis den Anfang macht, aus der schrecklichen Kriegszeit zu erzählen, wird er meist missbilligend angesehen. Es hört einem niemand zu.

Ich habe Herrn H. aufmerksam zugehört, und er hatte viel zu erzählen. Wir hatten irgendwie gleich den richtigen Draht zueinander. Auch mit seiner Frau habe ich schon oft am Telefon geklönt. Ich erzählte beiden, dass ich unsere Flucht aufgeschrieben habe. Das Buch schickte ich als Geschenk an sie. Der Anruf als Dankeschön ließ nicht lange auf sich warten. Herr H. hatte noch einige Fragen, und seine Frau erzählte von der eigenen Flucht aus Stettin. Mich interessierte noch, wann beide Geburtstag haben. Dann versprach ich, sozusagen nachträglich, meinen Gedichtband zu schicken. In den meisten Gedichten ist "Heimat" der Hauptdarsteller. Nach und nach gingen viele Telefonate hin und her, und wir lernten uns immer besser kennen. Schon an der Strippe wurden wir schnell richtige Freunde.

Irgendwann war Herrn H. der Name eines weiteren Kameraden eingefallen. Mein Mann fand schnell die Telefonnummer. Auch dort rief ich an, stellte mich vor und erklärte, auf welchem Wege ich ihn gefunden habe. Außerdem schildert eich einige Einzelheiten, als wir auf dem "Drache" mitfuhren, um mich glaubhaft zu machen. Herr St. wunderte sich ständig und konnte es einfach nicht glauben, was er eben erfahren hatte. Auch ihm erzählte ich von meinem Fluchtbuch. "O ja, das würde mich sehr interessieren, wie Sie alles als Kind empfunden haben." Am nächsten Tag ging die Post weg. Eine weitere Freundschaft war geboren!

Einige Tage später rief Herr St. an und hatte viele Fragen. Auch das Gespräch verlief freundschaftlich und ein bisschen traurig. Er muss immer zu Anfang eines jeden Jahres an die schreckliche Zeit denken. Dann sieht er die Häfen voller Menschen und hört die Tiefflieger über sich. Er sieht die Bombe auf sich zufliegen, die den "Drache" zerstörte und die Hälfte seiner Kameraden tötete. Das ist die Zeit, wo er nachts überhaupt nicht schlafen kann. Ich musste ihm da leider zustimmen. Nach 58 Jahren geht es uns allen immer noch so. Auch das verbindet unsere Freundschaft. Zum Ende des Telefongespräches bedankte er sich bei mir, dass ich ihm so geduldig zugehört habe. Echte Freunde sind auch gute Zuhörer.

Ich bin so glücklich, dass ich drei Jungs vom "Drache" nach 58 Jahren gefunden habe, die mich als kleines Mädchen erlebt haben. Es ist eine wunderbare Freundschaft entstanden, und es wird für immer so bleiben. Nichts und niemand wird es je verhindern können.

lo