Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789
Ab dem 1. Juli 2022 im Deutschen Historischen Museum
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Dazugehören – oder nicht? Diese Frage löst starke, auch widerstreitende Gefühle aus. Sie kann von existenzieller Bedeutung sein. Die Staatsbürgerschaft bündelt als Gegenstand von Kämpfen um politische Mitbestimmung und staatliche Fürsorge viele dieser Gefühle. Der Pass garantiert den Bürgerinnen und Bürgern eines Staates grundlegende Rechte und verweist darauf, wer „dazugehört“. Als ein Rechtsstatus stiftet die Staatsbürgerschaft nationale und politische Gemeinschaft, aber sie markiert auch einen Vorrang gegenüber denen, die außerhalb dieser Gemeinschaft stehen.
Ihr ein- und zugleich ausschließender Charakter wird besonders in Zeiten von Krisen und Kriegen deutlich. Dass die Unionsbürgerschaft der EU keineswegs die nationalen Staatsbürgerschaften abgelöst hat, haben zuletzt die politischen Reaktionen auf die Corona-Pandemie oder das Brexit-Referendum gezeigt: Die aktuellen Tendenzen zur Renationalisierung innerhalb der EU beeinflussen erkennbar die nationalpolitischen Abschottungs-, Einbürgerungs- und Wanderungsdynamiken.
Mit seiner neuen Ausstellung „Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789” (1. Juli 2022 – 15. Januar 2023) thematisiert das Deutsche Historische Museum den Bedeutungswandel und die Mobilisierungskraft von Staatsbürgerschaft vom „langen“ 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart: Entscheidend für ihre Herausbildung war die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Sie schuf den citoyen – den Staatsbürger – und bestimmte, welche Rechte und Pflichten mit dieser neuen Rolle einhergingen. In der Folge stieg die Staatsbürgerschaft zur dominanten Form politischer Zugehörigkeit im Zeitalter des Nationalstaats auf, wurde von Diktaturen als Mittel ethnischer und politischer Selektion eingesetzt und nimmt in der Unionsbürgerschaft der supranationalen EU neue Gestalt an. Die Staatsbürgerschaft wurde somit zum zentralen Instrument der Verteilung von Lebens- und auch Überlebenschancen in den europäischen Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts.
Im Fokus der Ausstellung stehen drei Länder Europas – Frankreich, Polen und Deutschland –, die als Nachbarstaaten durch gewaltsame Auseinandersetzungen in Gestalt von Besetzung und Vertreibung sowie politische Kooperation eng miteinander verflochten waren und sind. Der Blick auf zwei Jahrhunderte geteilter Geschichte zeigt, wie stark die Konzepte und Praktiken der Staatsbürgerschaft nicht nur die politischen Beziehungen zwischen den drei Nachbarn abbilden, sondern diese in Abhängigkeit von politisch-sozialen Konstellationen und Interessen maßgeblich mitbestimmen.
Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum: „Unsere Ausstellung zeigt, dass es keine chronologisch gleichförmig positive historische Entwicklung von Staatsbürgerschaft hin zu jeweils offeneren und diskriminierungsfreieren Formen oder auch zu mehr transnationaler Durchlässigkeit gibt. Vielleicht könnte man sagen, es gibt so etwas wie eine Tendenz hin zu mehr Offenheit, weg von verschiedenen Formen von Diskriminierung. Aber diese ist immer fragil. Sie weist Brüche und Abgründe auf, wie etwa der Entzug von Staatsbürgerrechten belegt. In der Ausstellung wird besonders deutlich, welcher Gewinn daraus entstehen kann, wenn wir es schaffen, die Geschichte von Staatsbürgerschaften jenseits ihrer emotionalen und nationalen Aufladungen zu begreifen.”
Dieter Gosewinkel, Kurator der Ausstellung: „Staatsbürgerschaft ist eine Verheißung von Gleichheit – und sie produziert zugleich Ungleichheit, indem sie ein Innen von einem Außen trennt. Diese fundamentale Ambivalenz prägt die Staatenwelt seit der Französischen Revolution. Dies wird gezeigt anhand der Geschichte Frankreichs, Polens und Deutschlands, dreier Länder, die über ihre Grenzen und staatliche Zugehörigkeit existentielle Konflikte austrugen, bevor sie, symbolisiert durch die europäische Unionsbürgerschaft, zu politischer Kooperation fanden. Staatsbürgerschaften entstehen aus Kämpfen um Zugehörigkeit, die Emotionen wecken. Dafür will die Ausstellung den Blick schärfen.”
Sechs Themenräume vertiefen epochenübergreifend zentrale Aspekte und Mechanismen von Staatsbürgerschaft. Die Ausstellung macht dabei anhand von Gemälden, Zeichnungen, Grafiken, Statistiken, Umfragen, Dokumenten, Publikationen, Plakaten, technischen Geräten, Erinnerungsstücken, Filmaus-schnitten, Hörstationen und Interviews die elementare politisch-soziale Bedeutung von Staatsbürgerschaft bis auf die Ebene des Alltagslebens fassbar.
Der Themenraum „Akteure” beleuchtet das soziale Gefälle zwischen den staatlichen „Entscheidern“ und Menschen, die die Staatsbürgerschaft erlangen möchten. Erklärfilme zu den oft mehrjährigen Einbürgerungsverfahren der drei Staaten werden kontrastiert mit Aufnahmen der unterschiedlichen nationalen Einbürgerungszeremonien, die die emotionalen und symbolischen Dimensionen des Verfahrens verdeutlichen.
Staatsbürgerliches Wissen wurde im 19. und 20. Jahrhundert besonders durch zwei Institutionen vermittelt: die Schule und die Armee. Die Wehrpflicht war eng an die Definition des (männlichen) Staatsbürgers gebunden. Das Leitbild des „Soldaten-Staatsbürgers“ wurde in der Armee als „Schule der Nation“ oder durch Spielzeugsoldaten vermittelt. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland und Polen und ihrer Aufhebung in Frankreich wird Staatsbürgerschaft heute ganz überwiegend zivil definiert.
Wie ungleich das Staatsbürgerrecht für Frauen, Juden und in Kolonien gehandhabt wurde und wie es bis heute durch Rassismus unterlaufen wird, verdeutlicht das Kapitel „Diskriminierungen”. Vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, forderten Frauenrechtsbewegungen elementare politische und soziale Mitbestimmungs-rechte wie das Wahlrecht ein. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts waren Frauen in Frankreich, Polen und Deutschland gleichberechtigte Staatsbürgerinnen.
Juden erfuhren die schärfste Form der Ausgrenzung. Moritz Daniel Oppenheims Gemälde „Die Heimkehr des Freiwilligen aus den Befreiungskriegen zu den nach alter Sippe lebenden Seinen” (1833/34) bezeugt, dass sich zahlreiche jüdische Männer durch die Ableistung des Wehrdienstes dennoch aktiv zum Staat bekannten. Der NS-Staat definierte Staatsbürgerschaft völkisch: Demnach waren deutsche Juden keine „Reichsbürger“, sondern nur „Staatsangehörige“ mit immer weniger Rechten. Wie die 1935 in den Nürnberger Gesetzen geschaffenen Regelungen auch in den besetzten Gebieten angewendet wurden, verdeutlicht ein Lochstanzer Juif („Jude“): Mit ihm wurden ab 1940 in Frankreich Pässe irreversibel markiert. Das Recht der Staatsbürgerschaft wurde genutzt als Instrument der Ausgrenzung und Verfolgung im Holocaust.
Die Zweiteilung der Welt in Staatsbürger und koloniale Untertanen ohne volle staatsbürgerliche Rechte im Zuge des europäischen Kolonialismus und ihre postkolonialen Nachwirkungen demonstrieren unter anderem eine Passmarke zur polizeilichen Identifizierung aus Swakopmund sowie französische Dokumen-tationen zur Situation in Algerien und Indochina.
Neue Identifizierungsmethoden – wie Grenzkontrollsysteme, Identitätspapiere oder Statistiken – begleiteten die Entwicklung der Staatsbürgerschaft und waren Mittel zur ethnischen und ökonomischen Aussonderung. Bereits während des Ersten Weltkriegs galten Staatsangehörige des Gegners als „feindliche Ausländer“ und wurden in Lagern inhaftiert. Der rassistischen Selektion der Bevölkerung der annektierten polnischen Gebiete diente die 1941 eingeführte „Deutsche Volksliste“, die Menschen durch Ausweise kategorisierte und damit über ihre Lebenschancen bestimmte. Der restriktive Umgang mit Staatsbürgerschaft zeigt sich auch an der Behandlung politischer Gegnerinnen und Gegner: Ausbürgerungen waren im 20. Jahrhundert eine oft ergriffene Maßnahme autoritärer Regime, um unerwünschte Personen aus der Gesellschaft auszuschließen. Ein prominentes Beispiel ist der Liedermacher Wolf Biermann, der in einem Interview zu seiner Ausbürgerung 1976 aus der DDR zu Wort kommt.
Mit dem EU-Beitritt Polens im Jahr 2004 stehen sich Frankreich, Polen und Deutschland heute näher als je zuvor. Ihre Staatsbürgerinnen und -bürger sind durch die Unionsbürgerschaft überstaatlich vereint. Fragen der doppelten Staatsbürgerschaft und der politischen Mitspracherechte für Ausländerinnen und Ausländer bleiben in Zeiten wachsender Internationalität und gleichzeitiger Renationalisierungstendenzen hochaktuell. Am Ausstellungsende haben die Museumsgäste Gelegenheit, sich anhand von Statistiken, Videos und Statements von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mit den gegenwärtigen politischen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Zuletzt beschäftigt sich eine interaktive Station mit dem Thema Wunschstaatsbürgerschaft und den verknüpften Rechten und Pflichten.
Die Ausstellung ist inklusiv und barrierefrei. Begleitend erscheint im Piper Verlag ein bebilderter Essayband (256 Seiten, 22 Euro).