Von Luther zu Twitter. Medien und politische Öffentlichkeit
Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 10. September 2020 bis 11. April 2021
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Die politische Öffentlichkeit ändert sich seit dem Siegeszug von Smartphones und Social Media tiefgreifend und mit offenem Ausgang: Präsidenten twittern, virtuelle Mobs hetzen, Wahlen werden manipuliert. Gleichzeitig gibt es große Hoffnungen, die sich mit diesen Medien verbinden, gerade auch in der Kritik an autoritären Regimen. Angesichts der aktuellen Debatte um die Bedeutung dieses Wandels thematisiert das Deutsche Historische Museum ab dem 10. September 2020 in der Ausstellung „Von Luther zu Twitter. Medien und politische Öffentlichkeit“ den Zusammenhang von Medien, Politik und Öffentlichkeit in Geschichte und Gegenwart.
Die Ausstellung zeigt, wie es zum aufklärerischen Ideal demokratischer Öffentlichkeit und freier Meinungsäußerung gekommen ist: Ausgehend vom Buchdruck und seiner Bedeutung für die Reformation beleuchten Kurator Harald Welzer und Kuratorin Melanie Lyon die Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit im Zuge der Pluralisierung der Presselandschaft im 19. Jahrhundert über die Erfindung des Rundfunks und seine Bedeutung für das totalitäre NS-System bis hin zu den Bilderwelten des Fernsehens der Nachkriegszeit. Die Kontinuitäten und Brüche eines immer auch medial bewegten Strukturwandels der Öffentlichkeit werden dabei bis in die Gegenwart verfolgt. Dieser folgt der Technikentwicklung jeweils in einigem Abstand: Es bedarf medial besonders intuitiver Personen und Gruppen, die das politische Potenzial eines neuen Mediums erkennen und es für den eigenen politischen Erfolg einsetzen.
Rund 200 kulturhistorische und zeitgenössische Objekte aus Deutschland, Österreich, Spanien, Großbritannien und China veranschaulichen, wie sich neue mediale Räume im Spannungsverhältnis von Öffentlichkeit und Gegenöffent-lichkeit, Zensur und Protest, Überwachung und Emanzipation entwickelten. Am Beispiel zentraler Momente der deutschen, aber auch der internationalen Medienevolution wird sichtbar, wie sich das, was wir heute als demokratische Öffentlichkeit kennen, formiert hat und auch, wie es vielleicht in Auflösung begriffen ist. Auf 1000 Quadratmetern entfalten sich dabei anhand von Originalobjekten wie den Flugschriften Martin Luthers, einer preußischen Zensurakte, einem Großlautsprecher aus der NS-Zeit oder der zerstörten Hauptplatine der von Edward Snowden geleakten Dokumente die Besonderheiten und Ambivalenzen der jeweiligen Medieninnovation.
Prof. Dr. Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum: „Die Ausstellung ist auch ein Versuch eines neuen Umgangs mit historischen Objekten: Sie stellt Medien in den Mittelpunkt, die nicht nur ,Überbleibsel’ historischer Ereignisse sind – vielmehr haben sie politisch-gesellschaftliche Umwälzungen angestoßen oder sogar erst ermöglicht. Gleichzeitig bleiben zentrale Funktionsweisen des Medienwandels oft eigentümlich unsichtbar. Gerade mit Blick auf die Digitalisierung zeigt sich diese Verflochtenheit von materiellen Voraussetzungen und immateriellen Prozessen sehr deutlich. Deshalb war es mir besonders wichtig, keine technikgeschichtliche Ausstellung zu präsentieren, sondern gezielt auf das Verhältnis von medialer Entwicklung und Veränderung der politischen Öffentlichkeit zu schauen.“
Die Kuratoren Prof. Dr. Harald Welzer und Melanie Lyon: „Neue Medien verändern nicht nur Kommunikation, sondern schaffen neue Lebenswelten, über die sich politische Öffentlichkeit im Alltag entfaltet. Das wollen wir durch unsere Inszenierung der einzelnen Abschnitte der Mediengeschichte fühl- und erfahrbar machen.“
Fünf Epochen der Mediengeschichte
Die Ausstellungsarchitektur inszeniert die Epochen der Mediengeschichte auf eine Weise, die die Umgestaltung der medialen Umwelten auch sinnlich erfahrbar macht. Die Reformation wird so auch als Mediengeschehen erlebbar, die anschließende Epoche der Flugschriften, Zeitungen und Manifeste als eine Phase umkämpfter Öffentlichkeit zwischen Aufbruch und Zensur. Neben den Möglichkeiten, die die Presse verschiedenen Emanzipationsbewegungen wie der Arbeiter- und Frauenbewegung bot, wurde bereits damals deutlich, dass sie auch zur Lenkung öffentlicher Meinung im Sinne des Obrigkeitsstaats genutzt werden konnte.
Rundfunk und Fernsehen sind dagegen Echtzeitmedien und erlauben ganz neue Möglichkeiten der politischen Kommunikation, die sich in Spannungsverhältnissen von Unterhaltung und Propaganda, Aufklärung und Formierung entfalten. Ereignisse der Radiogeschichte, besonders die von Joseph Goebbels erkannte formative Kraft des Rundfunks werden genauso dargestellt wie der politische Schlüsselmoment des ersten Fernsehwahlkampfs der Geschichte, aus dem John F. Kennedy als Sieger hervorging, weil er das neue Medium weit besser beherrschte als sein Konkurrent Richard Nixon. Kunstwerke wie Harry Walters „Eichmann, Fleischmann, Neckermann“ verhandeln die Wirkmacht des Fernsehens auf das subjektive Erinnern an die bundesdeutsche Vergangenheit.
Zuletzt blickt die Ausstellung in die Gegenwart und Zukunft einer digitalen, sich nochmals pluralisierenden, aber auch polarisierenden Öffentlichkeit. Vor dem Hintergrund des Aufstiegs autoritärer und populistischer Strömungen und der Sorge um das Überwachungs- und Manipulationspotenzial digitaler Medien fragt sie, was aus dem Versprechen einer demokratischen, vernetzten Weltgemein-schaft wurde. Die Ausstellungsmacher stellen dazu drei Szenarien nebeneinander: Per Zufallsprinzip betreten die Besucherinnen und Besucher einen von drei Ausstellungsgängen zur hochdynamischen Jetztzeit, zu den utopischen Hoffnungen, die in das Internet gesetzt wurden, oder den Gefahren, die mit
einem digital gestützten politischen Totalitarismus einhergehen. Künstlerische Positionen wie Florian Mehnerts Fotoprojekt „Smartphone Stacks“ machen die Kehrseite digitaler Partizipation sichtbar: Der Mensch wird hier zum berechen-baren Datenmaterial. Die Ausstellung verabschiedet die Besucherinnen und Besucher mit 30 konkreten Utopien für eine digitale Zukunft, die Transparenz und Bürgerbeteiligung in den Mittelpunkt stellen.
Die Ausstellung ist inklusiv und barrierefrei. Inklusive Kommunikations-Stationen, die jeweils mindestens zwei Sinne ansprechen, sind neben einem taktilen Bodenleitsystem, Gebärdensprachvideos, Ausstellungstexten in Braille, kontrastreicher Großschrift und Leichter Sprache Teil der Ausstellungsgestaltung.
Zur Ausstellung erscheint ein Begleitbuch in deutscher Sprache im S. Fischer Verlag (320 Seiten, 18 Abbildungen, 18 €).