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„Was ist Aufklärung?“, fragte der Berliner Pfarrer Johann Friedrich Zöllner 1783 in einem Beitrag für die Berlinische Monatsschrift. Diese griff die Frage auf und stellte sie ihren Leserinnen und Lesern. Damit begann eine Debatte um diesen Begriff, der die Philosophiegeschichte prägen sollte und unter anderem Moses Mendelssohn und Immanuel Kant zu ihren berühmten Antworten anregte. Vom 18. Oktober 2024 bis 6. April 2025 nimmt das Deutsche Historische Museum die Frage nach dem Wesen der Aufklärung in einer umfangreichen Ausstellung auf und stellt zugleich weitere „Fragen an das 18. Jahrhundert“, die aus ihr hervorgehen.

Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum: „Antimoderne Positionen und antiaufklärerische Haltungen zeigen sich gegenwärtig als Kritik an ‚westlichen aufklärerischen‘ Positionen, spiegeln sich in esoterischem Denken und antiuniversalistischen Haltungen. Viele Institutionen in Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft, die aus der Aufklärung hervorgegangen sind, geraten zunehmend unter Druck. Die Ausbreitung immer stärkerer antimoderner Bewegungen und Ressentiments in den letzten Jahrzehnten – die auch als eine Reaktion auf die Herausforderung der Gesellschaft durch multiple Krisen gesehen werden kann – ist für uns Anlass, die Frage ‚Was ist Aufklärung?‘ neu zu stellen. Mit ihr verbinden sich zahlreiche Begriffe, ohne die wir heute kaum denken können. Gleichzeitig haben teilweise dieselben Aufklärer, die für diese Begriffe stehen, auch Traditionen gestützt, die sich historisch als besonders zerstörerisch und menschenverachtend erwiesen haben. Dieser historische Blick auf die ‚Aufklärung‘ ermöglicht es uns, die sie von Anfang an prägenden Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten für heutige Betrachterinnen und Betrachter kenntlich zu machen und sie in diesem Sinne bestenfalls aufzuklären. Dank der großzügigen Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes können wir diese Fragen mit einem begleitenden Outreach-Programm besonders auch an junge Menschen herantragen.”

Liliane Weissberg, Kuratorin der Ausstellung: „Die Aufklärung als Epoche des sogenannten langen 18. Jahrhunderts wie auch als Sammelbegriff philosophischer Ideen ist voller Widersprüche und Probleme; viele ihrer Vertreter wollten eine neue Welt entwerfen und scheiterten dabei. Für die Philosophen des 20. und 21. Jahrhunderts bildete die Aufklärung mit all ihren Ambivalenzen den Beginn dessen, was wir als Moderne bezeichnen können. Für uns ist es heute wichtig, zweierlei zu verstehen: Zum einen, dass viele der Forderungen, die im 18. Jahrhundert formuliert wurden, auch für uns gelten müssen, wenn wir in einem demokratischen Land leben wollen. Zum anderen aber, dass gerade auch die Probleme jener Zeit unser gegenwärtiges Denken und Handeln bestimmen. Diese Thesen sind kein kleines Programm für eine Ausstellung, bei der es bereits als eine Quadratur des Kreises erscheinen mag, philosophische Fragen visuell und hörbar darzustellen. Für ein Museum, das sich der historischen Urteilskraft widmet, wird diese Aufgabe aber geradezu zur Verpflichtung.”

Claudia Roth, Kulturstaatsministerin: „Die Frage ‚Was ist Aufklärung?‘ ist immer noch hoch aktuell. Denn Immanuel Kants Antwort darauf ist nach wie vor eine Kampfansage an Despoten, Autokraten und Rechtspopulisten. Wer Kants Aufruf folgt und sich seines eigenen Verstandes bedient, riskiert nicht nur in Putins Russland, in China oder Nordkorea, sondern auch in vielen anderen Staaten Leib und Leben. Wer sich seines eigenen Verstandes bedienen will, braucht dafür gute, zuverlässige und seriöse Informationen. Nichts fürchten deshalb die Feinde der Aufklärung mehr. In einer Zeit, in der Desinformationen zur Wahrheit erklärt werden, in der Rechtspopulisten auch in Deutschland mit Lügen Angst und Schrecken verbreiten, steht nicht nur die Aufklärung auf dem Spiel, sondern die Demokratie überhaupt. Diese Ausstellung kommt daher genau zur richtigen Zeit: Sie zeigt, was wir aus dem 18. Jahrhundert lernen können, um heute eine gute, freie und gerechte Gesellschaft sein zu können.”

In aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussionen werden die universalen Werte der Aufklärung oft zitiert oder in ihrer Reichweite hinterfragt. Zugleich prägen die Widersprüche dieser Epoche das heutige Denken und Handeln. Die Ausstellung „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“ schafft einen historischen Rahmen für die Debatten unserer Zeit: Sie konzentriert sich auf die zentralen Auseinandersetzungen der Epoche und beleuchtet ihre Ambivalenzen, indem sie die Ideen der Aufklärung nicht als homogenes Fortschrittsprojekt präsentiert, sondern die Konflikte um Konzepte und Forderungen sichtbar macht. Dabei wird deutlich, dass damalige Vorstellungen von Gleichberechtigung oder Toleranz unseren heutigen Vorstellungen nicht entsprechen und oft in der Praxis nicht eingelöst wurden. So deklarierte Friedrich II. von Preußen eine religiöse Toleranz, die nicht verwirklicht wurde. Thomas Jefferson postulierte in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten die Gleichheit aller Menschen und war selbst Sklavenhalter. Im Zuge der Französischen Revolution wurden die Menschen- und Bürgerrechte ausgerufen, sie galten jedoch nicht für Frauen. Es war die Zeit der Kosmopoliten, aber auch eines Kolonialismus, in dem Menschen in den kolonisierten Gebieten versklavt und zur Handelsware degradiert wurden. Im Zuge populärer Entdeckungsreisen begegneten Europäer unbekannten Völkern, die sie mit großer Neugierde beschrieben. Zugleich bereiteten ihre Versuche, Menschen systematisch zu klassifizieren, auch die Grundlage eines wissenschaftlichen Rassismus.

Die Kuratorin Liliane Weissberg nimmt das sogenannte lange 18. Jahrhundert in einer internationalen Perspektive in den Blick und stellt die wesentlichen Fragen der Epoche in den Mittelpunkt: Nach einem Prolog zum Begriff der Aufklärung folgt der Ausstellungsrundgang auf 1100 Quadratmetern dem Prinzip des Kaleidoskops und ermöglicht den Besucherinnen und Besuchern fortlaufende Querbezüge zwischen den zwölf Kapiteln. Das Themenspektrum reicht dabei von der Suche nach Wissen und der Entstehung neuer Wissenschaften und Ordnungsprinzipien über Fragen nach der Religion, der Gleichheit und Freiheit der Menschen und der Forderung nach bürgerlichen Rechten bis hin zu Merkantilismus und Weltbürgertum. Sie beschäftigt sich mit den politischen und wirtschaftlichen Modellen der Zeit und dem neuen Begriff von Öffentlichkeit, der auch die populären Publikationsmedien, Akademien und Salons einschloss. Weitere Sektionen widmen sich dem hohen Stellenwert der Pädagogik und der Entstehung des modernen Individuums, zeichnen die vorherrschenden Geschlechtermodelle nach und blicken auf eine Moderne, die die Antike wiederentdeckte.

Die Ausstellung betrachtet Ereignisse, Probleme und Personen der Zeit in unterschiedlichen Konstellationen und bezieht sie gleichzeitig fortwährend aufeinander. Dabei wird sichtbar, dass die Aufklärung als politische, soziale und geistige Bewegung vor allem von europäischen Denkern und einigen Denkerinnen getragen wurde, die ihre Ideen nicht zuletzt aufgrund außereuropäischer Reisen, eines regen Austauschs von Büchern und Schriften und eines intensiven Handels mit Waren von anderen Kontinenten formulierten.

Die Ausstellung spannt den Bogen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart: In Videointerviews widmen sich bekannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Medien – unter anderem der Immunologe Drew Weissman, die Philosophin Martha Nussbaum und der Philosoph Kwame Anthony Appiah, die Historikerin Annette Gordon-Reed und der Historiker Neil MacGregor, die Publizisten Jens Bisky und Jürgen Kaube sowie die ehemals politische Geflüchtete aus dem Iran und heutige Bürgermeisterin von Frankfurt am Main Nargess Eskandari-Grünberg –Fragen der Aufklärung damals und heute. Neben den in der Ausstellung präsentierten Interviewauszügen ermöglichen die Langfassungen auf der DHM-Website eine Vertiefung über den Museumsbesuch hinaus.

Die Ausstellung präsentiert im Pei-Bau auf zwei Etagen Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Skulpturen, Modelle, Gipsabgüsse, Dokumente, Publikationen, Münzen und wissenschaftliche Geräte aus der DHM-Sammlung sowie von Leihgebern aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich, den USA und der Schweiz. Zu sehen sind rund 400 hochkarätige, teils noch nie gezeigte Objekte, darunter Originalmanuskripte von Isaac Newton, das silberne Mikroskop Georg III. von Großbritannien, eine französische Erklärung der Menschenrechte in Form einer runden Oblate, ein weltweit seltenes graviertes Straußenei oder ein französisches, mit Luftschiffen besticktes Ballkleid.

Die Ausstellung ist inklusiv und weitgehend barrierefrei gestaltet. Multimediale und interaktive Elemente ergänzen die Ausstellungsthemen und beziehen die Museumsgäste aktiv mit ein: So können die Besucherinnen und Besucher etwa die Wege des Raubdrucks von Schriften Voltaires oder Rousseaus nachverfolgen. Ein inklusives Ausstellungsheft stellt anhand einer Kinderspur Aufgaben, fördert selbstentdeckendes Lernen und verdeutlicht jungen Museumsgästen, dass sich die Fragen der Aufklärung auch an sie richten. Eine Hörführung in deutscher und englischer Sprache sowie mit Audiodeskriptionen bietet Hintergrundinformationen zur Ausstellung und zu ausgewählten Objekten sowie Interviewausschnitte mit dem Ausstellungsteam.

Zur Ausstellung erscheint im Hirmer Verlag eine reich bebilderte Publikation in deutscher und englischer Sprache mit Beiträgen von internationalen Wissenschaftlerinnen und Philosophen wie Roger Chartier, Robert Darnton, Peter E. Gordon, Jürgen Habermas und Emma Rothschild. Das digitale DHM-Format More Story führt auf Deutsch und Englisch in die Ausstellung ein und bietet ausführliche Hintergrundinterviews und -informationen. Ein breitgefächertes Begleitprogramm vertieft und ergänzt ab November die Themen der Ausstellung.

Umfangreiches Outreach- und inklusives Bildungsprogramm

Welche Bedeutung haben (Un-)Gleichheit, Toleranz, Bildung und Erziehung, Menschenrechte, Geschlechtermodelle, Individualität und Vernunft? Welche hatten sie im 18. Jahrhundert, welche haben sie heute und was verbinden junge Menschen mit diesen Themen? Im Rahmen der Ausstellung arbeitet das DHM – gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes – auf breiter Basis mit Jugendlichen und jungen Menschen aus der Berliner Stadtgesellschaft und inklusiven Schulklassen aus Berlin und Brandenburg zusammen. Ziel der Zusammenarbeit war es, in Workshops und mehrmonatigen Arbeitsprozessen die Perspektiven der Beteiligten zu erfassen und in die Ausstellung und deren Rahmenprogramm einzubetten. Mit dem Projekt möchte das DHM Barrieren gegenüber der Institution Museum abbauen und ein junges und diverses Publikum zum Mitmachen und Mitgestalten einladen.

Katarzyna Wielga-Skolimowska, Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes: „Museen können durch gezielte Vermittlungsarbeit Berührungsängste ihnen gegenüber abbauen und neue Menschen erreichen. Indem das DHM mit dieser Ausstellung nun erstmals in diesem Umfang mit Schulen und Jugendlichen gearbeitet hat, hat es aber noch mehr getan. Denn die komplexen Fragen, die die Aufklärung aufwirft, werden heute anders verhandelt als vor 300 Jahren: Wer hat Zugang zu Bildung? Wie universell gelten die Menschenrechte? Wie schaffen wir echte Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern? Diese Fragen in all ihren Ambivalenzen aus jungen Perspektiven zu betrachten, führt direkt hinein in aktuelle Debatten über Identität, individuelle Freiheit und Gleichbehandlung. Ein Prozess, aus dem wir im Idealfall alle klüger als zuvor hervorgehen.”

Innerhalb der Ausstellung ist ein eigener Raum dem Thema „Kinderbücher – damals und heute“ gewidmet: Ausgehend vom Elementarwerk des Reformpädagogen Johann Bernhard Basedow (1774) befassten sich angehende Pädagoginnen und Pädagogen des Berliner Pestalozzi-Fröbel-Hauses mit Darstellungen in Kinderbüchern der Epoche, ihrem langfristigen Einfluss und wie sie heute wahrgenommen werden. Durch Vergleiche mit aktuellen Bilderbüchern gelang es ihnen, den Wandel und die Kontinuitäten von Erziehungsmodellen sichtbar zu machen. Das Berliner Schattenmuseum, ein alternatives Jugendgremium, beschäftigte sich mit der Entstehung neuer Diskussionsräume während der Aufklärung. Im Fokus standen Fragen zum Verhältnis von Inklusion und Exklusion: Wer durfte an den Debatten des 18. Jahrhunderts teilnehmen und wer nicht? Wer darf es heute? Wie entsteht Wissen und wie wird es weitergegeben? Sind heutige Museen moderne Debattenräume? Der von ihnen kuratierte Raum bietet den Museumsgästen die Möglichkeit, die Ausstellungsthemen zu reflektieren und selbst zu Wort zu kommen.

Das Bildungszentrum Lohana Berkins als weitere Beteiligte befasste sich mit der Frage, welche Auswirkungen Merkantilismus und Kolonialismus auf die Biografien lateinamerikanischer Migrantinnen und Migranten in Berlin heute haben. Die entstandenen Texte widmen sich Themen der Aufklärung, die auch in der Gegenwart noch relevant sind und werden auf Deutsch und Spanisch in einer Broschüre veröffentlicht. Ein Wahlpflichtkurs der Alfred-Nobel-Schule produzierte gemeinsam mit der Kunstschule Young Arts Neukölln, der Regisseurin Anna Carolina Arndt und dem DHM den Film „(auf)geklärt“ zum Thema „Menschenrechte“, der im Museum zu sehen sein wird.

Darüber hinaus erarbeiteten Mitarbeitende des DHM gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern aus drei inklusiven Schulen in Berlin und Potsdam zu ausgewählten Exponaten kreative Zugänge zu multisensorischen und interaktiven Ausstellungsstationen, die sich gezielt an Kinder und Jugendliche richten.

Unter dem Motto „Aufklärung NOW˝ wird sich das Haus an drei Festivalabenden am 22. November 2024, 24. Januar und 21. März 2025 bei freiem Eintritt unterschiedlichen Fragestellungen der Aufklärung aus heutiger, junger Perspektive widmen: Ein wissenschaftlicher Slam, performative Rundgänge, ein Quiz mit Preisen, Performances auf der Bühne, Live-Musik, Improvisationstheater, kreative Angebote, Gespräche und weitere Programmpunkte versprechen informative und unterhaltsame Abende.

Ein Fachtag wird die Projektergebnisse am 21. Februar 2025 zusammenfassen und lädt nationale und internationale Wissenschaftlerinnen und Experten dazu ein, das Thema Outreach in Museen und Kultureinrichtungen zu diskutieren und Erfahrungen auszutauschen. Digitale didaktische Materialien werden die gewonnenen Ergebnisse auch nach Ausstellungsende dokumentieren und verbreiten.

 

                   

Das Vermittlungsprogramm wird gefördert durch:

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