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„Die handelnden Personen in unseren Filmen zerfallen (…) auf den ersten Blick in zwei Teile. In die Heldenspieler und die Chargenspieler.“ Der Berliner Filmkritiker Rudolf Arnheim meint damit 1931 auch die zahlreichen Tonfilmkomödien mit Stars wie Willy Fritsch und Lilian Harvey, Gustav Fröhlich, Renate Müller und Käthe von Nagy. Die blendend aussehenden und makellos frisierten Stars, die als Helden stets fröhlich, jugendlich und vital auftreten, findet Arnheim vollkommen austauschbar. Sie sind aus seiner Sicht bereinigt von all dem, was eine Persönlichkeit eigentlich ausmacht.

Ganz anders die Chargendarsteller in kleineren oder größeren Nebenrollen: Sie sind es, die für Aroma sorgen, für Witz und Würze; sie bringen Individualität und Wirklichkeit in die oft nach ähnlichem Muster gestrickten Geschichten. „Der Chargenspieler zeigt den Menschen, wie er ist, der Heldenspieler zeigt ihn, wie man ihn gerne möchte.“ Die Überschrift von Arnheims Artikel, der in der Fachzeitschrift Filmtechnik im Oktober 1931 erschien, heißt denn auch programmatisch: Lob der Charge.

Am Theater und im Film nennt man eine Nebenfigur mit übertriebenen Eigenschaften eine Charge. Ihre Rolle ist vielfach typisiert, lebt meist von der Körperlichkeit und zielt auf komische, ja groteske Wirkung ab. Chargen sind dick oder dünn, phlegmatisch oder hyperaktiv, sie sind beinahe stumm oder reden wie ein Wasserfall. Chargen sind vieles gleichzeitig: ein Typus und dessen individuelle Interpretation; eine Klischeevorstellung und deren Unterwanderung; eine Erwartung, mit der gespielt wird.

In den besten Fällen agieren die Chargen virtuos, eigensinnig, überraschend. Und die frühe Tonfilmzeit bietet ihnen dafür Gelegenheiten. Die vielfach an Bühnen, Kabaretts und Revuetheatern im turbulenten Berlin der 1920er Jahre sozialisierten Schauspieler, die nun im Film in Chargenrollen auftreten, werden zu Publikumslieblingen. Siegfried Arno und Felix Bressart bekommen sogar Hauptrollen, in denen sie ihre Marotten und Mätzchen auf die Spitze treiben. Immer sind sie unverwechselbar – und nie so dumm, wie sie vielleicht aussehen: ob die donnernde Despotin Adele Sandrock oder der blubbernde Otto Wallburg, der immer widersprechende Sprachkünstler Szöke Szakall oder die Chansonnière Lotte Werkmeister, ob Julius Falkenstein, den nichts erschüttert, oder Kurt Gerron, der trotz Riesenbauch wie eine Ballerina schwebt. Oder die autoritäre Senta Söneland im Duell mit dem rundlich-gewitzten Karl Huszár-Puffy.

Viele dieser Schauspieler waren Juden. Ihre Karriere im deutschen Film brach mit dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur und dem staatlich verordneten Arbeitsverbot abrupt ab. Sie wurden – wie auch der Kritiker Rudolf Arnheim – vertrieben und verfolgt. Die Publikumslieblinge Kurt Gerron, Otto Wallburg und Kurt Lilien starben in deutschen Vernichtungslagern. Sie alle trugen dazu bei, dass in den Tonfilmkomödien für eine Zeit lang die Hierarchien zu tanzen beginnen: Was wichtig ist und hell erstrahlt, das wendet sich mitunter, wenigstens im Blick der Zuschauer. Aus der Peripherie machen sich die Chargen auf ins Zentrum.

Mit besonderem Dank an Guido Altendorf, Rolf Aurich, Martin Erlenmaier, Florian Höhensteiger und Fabian Schmidt.

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