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Der nach dem US-amerikanischen Außenminister George C. Marshall benannte „Marshall-Plan“ trug wesentlich zur wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung Nachkriegseuropas bei. Unter den „freien Völkern Europas“ profitierte insbesondere Deutschland von den Segnungen dieses „European Recovery Programs“ (ERP). Die Idee eines „neuen Europa“ ohne Handelsbarrieren, Seite an Seite mit den ehemaligen westlichen Kriegsgegnern, bedeutete nicht nur wirtschaftlichen Aufstieg, sondern vermittelte auch wichtige Identifikationsmöglichkeiten für eine „geistig obdachlos“ gewordene deutsche Gesellschaft. Die bisher kaum beachteten, propagandistisch angelegten Filme des Marshall-Plans sollten sicherstellen, dass nicht nur ein positives Demokratieverständnis, sondern auch ein bestimmtes Amerikabild in den Köpfen der Bevölkerung verankert wurde: die USA als verlässliche Supermacht, kultureller Impulsgeber und moralisches Vorbild. Der vorliegende Artikel geht der Frage nach, mit welchen ästhetischen Mitteln das Filmprogramm des Marshall-Plans die Vision eines neuen, demokratischen Europas lange vor seiner politischen Realisierung filmisch vermittelte. Welche kulturellen Transferprozesse kamen zum Tragen? Wie spielen Formen von oktroyierten Gesellschaftsentwürfen und kreativer Aneignung zusammen, um Europäern ein demokratisches Selbstverständnis zu vermitteln, das auch Raum zur Amerikakritik schafft?

1. Zwischen Entnazifizierung, Re-Education und Zensur

Der alte Kontinent lag in Trümmern, als die amerikanische Regierung ihm 1948 die Hand zu einem „European Recovery Program“ (ERP) reichte. Jenseits der Deklaration des ERP als ökonomisches Hilfsprogramm für das kriegsgeschädigte, paralysierte System der europäischen Industriestaaten stand tatsächlich weit mehr auf dem Spiel: Der Marshall-Plan wurde zum Kern der doppelten Eindämmungspolitik der Vereinigten Staaten gegenüber der UdSSR und gegenüber Deutschland. Im Zeichen des Kalten Krieges war er ein unverzichtbarer Bestandteil der antisowjetischen Offensive und sollte die vor allem der in Frankreich und Italien erstarkenden Linken entgegenzuwirken.2 Der Hungerwinter von 1946/47 mit der nachfolgenden Nahrungsmittelknappheit und Engpässen in der Energieversorgung führten zu massiven Demonstrationen und von Gewerkschaften initiierten Streiks. Mit ökonomischer Hilfe wollten die USA antikapitalistische Bewegungen und Bestrebungen marginalisieren und die westeuropäischen Länder in Frontstellung gegenüber der Sowjetunion bringen.3

Die Bürger Westeuropas sollten aber auch kulturell und ideologisch aufgerüstet werden. Darauf zielte ein mit Geldern des Marshall-Plans finanziertes Filmprogramm. Bis 1952 bescherte es den Europäern über 250 Filme, die Hilfeleistungen der Amerikaner dokumentieren, zur Selbsthilfe anregen und für transatlantische Freundschaft, Demokratie und Pluralismus werben sollten.4 Die Marshall-Plan-Filme konnten und sollten mit aufwändig produzierten Spielfilmen aus Hollywood konkurrieren. Die didaktischen, mitunter auch persönlichen Dokumentarfilme waren zwischen sieben und 40 Minuten lang. Sie trugen Titel wie „Es liegt an Dir!“ (1948), „Let`s Be Childish“ (George Freeland, 1950), „Freundschaft ohne Grenzen“ (Jacques Asseo, 1950) oder „Transatlantique“ (André Sarrut, 1953). Sie sollten die amerikanische Variante der Vision von den „freien Völkern Europas“ in anschauliche und allgemein verständliche Bilder fassen. Hierfür galt es, vor allem auf dem deutschen Markt eine neue Ästhetik für das dokumentarische Erzählen einzuführen. Stuart Schulberg, amerikanischer Filmproduzent und seit 1949 Leiter des Marshall-Plan-Filmprogramms in Paris, kannte die transkulturellen Herausforderungen des Filmprogramms, die vor allem in der deutschen Besatzungszone den Marshall-Planern Feinsinn, Einfühlungsvermögen und Weitsicht abverlangte.

The U.S. documentary program is designed primarily, of course, for the political, social, and economic reorientation of the German people. A secondary aim, however, has been the reorientation of German short-film producers. Here, as in so many other fields, we have bumped into the traditional German lack of political and social initiative. Too many of our licensed producers are still dedicating themselves to „Schönheit über alles,“ a propensity which brings forth „Kulturfilme“ rather than documentaries.5

Doch selbst Schulberg musste einige Lektionen lernen. So stellte sich heraus, dass amerikanische Modelle, die zur Propagandierung des eigenen Volks am Beispiel von Frank Capras Why We Fight-Dokumentarfilmserie so hervorragend funktioniert hatten, nicht ohne weiteres auf den deutschen und europäischen Kontext transferiert werden konnten. Capra montierte in der Zeit zwischen 1942 bis 1945 Propagandamaterial der Gegner neu, um mit einem didaktisch-aufklärerischen Kommentar und emotional manipulativer Filmmusik einen Kontrapunkt zum ursprünglichen Gehalt der Bewegtbilder zu setzen. Ähnliche Strategien verfolgten frühe Filme amerikanischer Regisseure zur Entnazifizierung und Re-Education. Ein Beispiel ist Schulbergs „Hunger“, den er 1948 für das Office of Military Government United States (OMGUS) anfertigte. Hier treibt das Bestreben, die Schuld am Elend der Nachkriegssituation bei der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie zu suchen, kuriose Blüten. Schulberg griff u.a. auf Material der „Deutschen Wochenschauen“ zurück. Doch wenn die Wehrmacht marschierte, tobte in den deutschen Kinos mitunter der Saal vor ungebrochener Begeisterung. Als in Schulbergs Film Hermann Göring seine Parole „Kanonen statt Butter“ ausrief, buhte das Publikum. Die Buhrufe galten allerdings nicht dem Feldmarschall, sondern dem Regisseur. „Nie hätte Göring uns verhungern lassen“, riefen dessen Bewunderer und skandierten: „Wir wollen Hermann!“6 Der Film wurde kurzerhand vom deutschen Markt genommen, und Deutschland erhielt von nun an nur noch Schnittfassungen, bei denen mit derartigen Reaktionen nicht zu rechnen war. Solche „Rücksichtnahme“ gab es nicht nur bei den Verantwortlichen des Marshall-Plans, auch Hollywood lieferte Varianten seiner Großproduktionen, die den speziellen deutschen Gemütszustand in Rechnung stellten.

2. Die filmische Personalisierung des Marshall-Plans

Die Nazis und die nationalsozialistische Vergangenheit verschwanden aus den Marshall-Plan-Filmen.7 An ihre Stelle rückten Geschichten, die vom erfolgreichen Miteinander beim Bau eines neuen Europas erzählten. Eine Erfolgsgeschichte par excellence zeigt das Doku-Drama „Die Brücke“ aus dem Jahre 1949. Panoramabilder schwelgen in der elliptischen Form des Rollfeldes von Tempelhof. Versorgungsflugzeuge sind wie an einer Perlenkette aufgereiht. Große LKWs stehen zum Entladen an den Rampen der Dakotas. Heerscharen von Arbeitern schuften Tag und Nacht auf dem Fluggelände. Sie verladen Nahrungsmittel, schleppen Säcke und Pakete. Großaufnahmen bringen immer wieder einen Berliner Arbeiter mit seiner charakteristischen Pfeife ins Bild, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird. Der Arbeiter verliert seine Pfeife. Sie fällt zu Boden und wird von den Rädern eines Lastwagens zermalmt. Ein amerikanischer Pilot beobachtet das Missgeschick und steckt dem traurigen Mann freundlich nickend seine eigene Pfeife in einem kostbaren Lederetui zu. Die Kamera folgt dem Piloten in einen Aufenthaltsraum der „US Air Force Station Tempelhof“. Vor einem Panoramafenster nimmt der „Ritter der Lüfte“ sein Frühstück ein, beobachtet das Geschehen auf dem Rollfeld und gönnt sich einen flüchtigen Blick in die Zeitung. Schon ist die Pause vorbei, und der Pilot eilt mit seiner Tasche unterm Arm zurück zur Dakota, um mit einem erneuten Flug die Versorgung Berlins sicherzustellen. In einer atemberaubenden Montage durchmessen nun Flugzeuge von rechts nach links, von oben nach unten das Bild. Der heroische Kommentar betont den selbstlosen, weitsichtigen Einsatz der stilisierten amerikanischen Befreier.

Berlin ist eine Insel mitten in der russischen Zone. Wir konnten diese Zone nicht mehr mit unseren Eisenbahnen und Autos passieren. Aber wir konnten darüber fliegen, durch drei 20 Meilen breite Luftkorridore. Und Abflughäfen gab es genug in Westdeutschland. Berlin am Ende der Luftbrücke hatte drei Flugplätze. Wir richteten unsere Flugzeuge in vier Gruppen innerhalb von 24 Stunden auf West-Berlin. Um 9:30 Uhr verließen unsere Dakotas Wiesbaden und flogen in Zwischenräumen von drei Minuten bis 11:30 Uhr. Um 12 Uhr starteten die Sky-Masters vom Rhein-Main-Flughafen.

In einer liebevoll gestalteten Animationssequenz fliegen weiße Flugzeuge vor einer Landkarte wie Zugvögel ihre jeweiligen Routen ab. Eine eingeblendete Uhr unterstreicht den straffen Arbeitsrhythmus. Die Grenze zur Sowjetzone ist hellsichtig mit einer durch ganz Deutschland verlaufenden hohen Mauer versinnbildlicht. Drei Flugkorridore durchbrechen sie pfeilförmig in Richtung Berlin. Der markante amerikanische Akzent des Kommentators und Übersetzungsfehler erhöhen den Eindruck der Authentizität. Damit leistet dieser bewusst eingesetzte vermeintliche faux pas einen Beitrag zur Selbstermächtigung des deutschen Kinopublikums.

Um 15:00 Uhr beendeten die Sky-Masters ihre Flüge, und die Dakotas übernahmen wieder. Und dazu kamen noch die vielen britischen Flugzeuge im Nordkorridor. Aber diese Flüge waren nicht nur ständig in Tätigkeit, sie waren auch sicher vor Zusammenstößen. Jedes Flugzeug war vom anderen durch drei Minuten Abstand und 300 Meter Höhe getrennt. So ging es vor sich, 24 Stunden täglich.

Zwischen dem Berliner Arbeiter und dem amerikanischen Piloten reift eine Freundschaft, die schließlich mit einem Berliner Bären als Geschenk für die Tochter des Amerikaners besiegelt wird. Am Ende verbinden sich Bilder eines drehenden Propellers, in alle Himmelsrichtungen fliegender Dakotas, von glücklichen deutschen Arbeitern und strahlenden amerikanischen Piloten zu einem Symbol der erfolgreichen Zusammenarbeit für ein freies Berlin. Solche mit Modellen, Animationen und dramatischen Szenen durchaus aufwendig inszenierten Erfolgsgeschichten sollten das neue Bündnis zwischen den einstigen Kriegsgegnern festigen und Vertrauen schaffen. Nicht nur in die wohlwollende Besatzungsmacht, sondern auch in das Leistungsvermögen der westdeutschen Wirtschaft.

Im gleichen Jahr kam Schulbergs Film „Ich und Mr. Marshall“ (1949) in das Vorprogramm deutscher Kinos. Das Doku-Drama eröffnet mit einer Montage, die das ganze Ausmaß der Zerstörung in Europa vor Augen führt. Aus der Perspektive eines arbeitslosen Ruhrarbeiters richtet „Ich und Mr. Marshall“ das Augenmerk auf die Kriegsfolgen und wirtschaftlichen Herausforderungen für den einzelnen Bürger. Schulberg nimmt in seinem Film ein umherirrendes deutsches „Hänschen klein“, den jungen Bergmann Hans Fischer, bei der Hand und wandert mit ihm durch die Trümmerlandschaften des Ruhrgebiets. Die Bildern suggerieren Hoffnungslosigkeit und allgemeine Paralyse. Aus dem Off kommentiert der Bergmann die Bilder. „Der Krieg hatte das ganze Getriebe der europäischen Wirtschaft lahm gelegt. Handel und Industrie waren überall aus den Fugen. Von Stalingrad bis Paris, von Kopenhagen bis Wien. Wenn nicht etwas dagegen getan würde, ginge Europa zum Teufel.“

Immerhin gibt es kleine Lichtblicke: Eine Zeche hat die Kohleförderung wieder aufgenommen, und Hans Fischer hat Arbeit gefunden. Den grossen Wendepunkt, so der Sprecher, bildet die Hilfe aus Übersee. „Und dann kam noch etwas. Es hatte natürlich schon monatelang in der Zeitung gestanden. Aber ich hatte mich nicht sehr darum gekümmert. Bis ich es eines Tages im Zusammenhang mit Kohle sah. Es ist ziemlich kompliziert, aber ich glaube, dass ich es kapiert habe.“ Doch bevor nun auch den Zuschauern gesagt wird, welche Chancen das amerikanische Wiederaufbauprogramm eröffnet, vertieft der Film die Darstellung der Zerstörung. Auf den Schutthalden suchen in Lumpen gehüllte Elendsgestalten nach Brennholz und Essbarem, Ausgebombte irren ohne Ziel und Perspektive umher. Hans Fischer sinniert über die Ausweglosigkeit, ruft sich Bilder von der Wirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit gegen Ende der Weimarer Republik in Erinnerung und weiß, wohin all das Elend führen kann. „Denn wenn die Menschen immer nur hungern und frieren und alle Hoffnung verlieren, dann fangen sie an, nach den so genannten einfachen Lösungen zu suchen: Uniformen, Schlagworte, Gewalt und Stacheldraht.“ Kaum sagt er es, da blendet der Film auch schon marschierende Truppen über die Bilder von den Stadtruinen. Die aus dem Off gestellte Frage nach dem Ausweg ist rein rhetorischer Natur, denn die „Rettung“ ist in Gestalt von Mr. Marshall bereits in Sicht. Die zentrale Hoffnungsbotschaft der am fünften Juni 1947 gehaltenen Rede verdoppelt Schulberg in Schrift und Ton.

Mr. Marshall schlug Amerikas Unterstützung vor, um es Europa zu ermöglichen, sich zu helfen. Er sagte: „Jede Regierung, die gewillt ist, bei dem Heilungsprozess mitzuwirken, wird dabei die vollste Unterstützung der Vereinigten Staaten finden. Dagegen werden Regierungen, politische Parteien oder Gruppen, die danach streben, das Elend der Menschen zu verewigen, mit der Gegnerschaft der Vereinigten Staaten zu rechnen haben. Es wäre weder gut noch nützlich, wenn unsere Regierung von sich aus ein Programm festlegen würde, in welcher Weise Europa wirtschaftlich auf die Beine zu stellen ist. Das ist Sache der Europäer. Die Rolle unseres Landes sollte darin bestehen, freundschaftlich zu helfen bei der Aufstellung eines europäischen Programms und anschließend bei dessen Verwirklichung“.

Mit dem Wiederaufbauprogramm können sich die Amerikaner als Wohltäter des westlichen Europas in Szene setzen und die Demontagepolitik des Sowjetstaates geißeln. Dass der die Hauptlast des Krieges getragen hatte, wird nicht erwähnt, und dass der Marshall-Plan die Spaltung Europas in verfeindete Lager beschleunigte und die Teilung Deutschlands vorwegnahm, wird als Folge sowjetischer Hegemonialpolitik abgetan. Rainer Rother, ehemaliger Kurator der Kinemathek des Deutschen Historischen Museums in Berlin und Mitinitiator der dreijährigen Marshall-Plan-Filmretrospektive auf der Berlinale (2004-2006) kontextualisiert das Marketingkonzept der Dokumentarfilme.

Es ist natürlich schon ein Lehrstück in Propaganda. Das muss man sagen. Und es ist eine sehr geschickte Propaganda. Es ist eine Propaganda für eine bestimmte Art von Zivilisation, eine bestimmte Art von Gesellschaft zu organisieren, die auf Freiheit, freiem Austausch und auf Demokratie beruht. Und es war etwas, das so gut verkäuflich war, weil das Verkaufsargument so gut war. Denn mit dieser Propaganda kam ja auch Geld. Das heißt, man hat mit den allerbesten Voraussetzungen für eine ganz bestimmte Sache geworben, und die, um die da geworben wurde, haben verstanden, dass es eine Sache ist, die sich auch für sie auszahlt. Nicht nur eine gute Sache, sondern auch eine, die sich lohnt.8

Schulbergs Film „Ich und Mr. Marshall“ führt die message des amerikanischen Außenministers mittels einer Europakarte vor Augen. Per Animation lässt Schulberg das östliche Lager, das dem amerikanischen Wiederaufbauprogramm eine Absage erteilt, schwarz anlaufen und platziert dort ein in Riesenlettern gesetztes „Nein“. Die Befürworterländer erscheinen in reinem Weiß und signalisieren: „Ja“. Hans findet sich glücklich unter der amerikanischen Einflusssphäre wieder und buchstabiert die Aufteilung des Kontinents in „Gut“ und „Böse“ treuherzig nach.

Na ja, jedenfalls, als sich die Marshall-Plan-Länder an den runden Tisch setzten, waren es 16. Welche? Lassen Sie uns mal die Landkarte ansehen. Die eigentliche Frage, die Amerika stellte, war: Wollt ihr unsere Hilfe für ein europäisches Wiederaufbauprogramm? Diese Länder folgten Sowjetrussland und sagten: NEIN! Diese Länder, einschließlich Westdeutschland, sagten: JA! Die Tschechoslowakei war unentschlossen. Das war die Situation, schwarz auf weiß sozusagen.

3. Lehrstücke über Wohlstand und Fortschritt American Style

Zu den jungen vielsprechenden Filmemachern, die im Rahmen des Marshall-Plans das Angebot Dokumentarfilme zu drehen dankbar annahmen, gehörte der Österreicher Georg Tressler. Tressler war Mitte 30, als ihn die Amerikaner Anfang der 50er Jahre in Wien als „Filmoffizier“ engagierten. Eigentlich sollte der spätere Regisseur von Spielfilmen wie „Die Halbstarken“ (1956), „Endstation Liebe“ (1958) oder „Das Totenschiff“ (1959) lediglich die Vorführung bereits fertiger Streifen organisieren, doch der ehrgeizige junge Mann konnte seine Vorgesetzten schnell von seinem eigenen Regietalent überzeugen; und er wusste, mit welchen Geschichten seine Landsleute zu erreichen waren.

Ich habe die Filme gesehen. Ich kannte sie seit dem Beginn des Programms. Es handelte sich um synchronisiertes Material. Diese Dokumentarfilme haben mich nicht sonderlich beeindruckt. Natürlich handelte es sich um Propagandafilme, aber nicht im negativen Sinn. Das Wort „Propaganda“ hat ja immer so einen Beigeschmack von nationalsozialistischen Manipulationstaktiken. Der Begriff ist als Schlagwort wenig hilfreich. Man hatte das Gefühl, hier schlagen sich die Macher selbst auf die Brust nach dem Motto „wir sind so tolle Leute!“ Ich habe diese Filme nicht besonders gemocht. Das war auch der Grund, weshalb ich eigentlich die Absicht hatte, meine Produktionen ein bisschen anders zu gestalten.9

Tresslers kritische Einschätzung deckt sich mit Angaben des Historical Division Office of the Executive Secretary Office of the U.S. High Commissioner for Germany, das auf solche kritischen Einwände reagierte und jungen, enthusiastischen Filmemachern größere Freiheiten einräumte. Denn der moralisierende Fingerzeig im Medium Film führte weniger zu einer geistigen Öffnung, sondern einer psychologischen Abwehrreaktion seitens der deutschen Bevölkerung.10 Es oblag Tresslers Spürsinn, Geschichten zu erarbeiten, die das jeweilige Publikum, in diesem Fall die Österreicher, ansprachen. Ihn interessierten innovative Techniken wie beispielsweise Rationalisierungsmassnahmen in der Linzer Papierindustrie in Linz oder ähnlichen Prozesse in der Landwirtschaft der Steiermark. Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um das Produktionsniveau zu steigern? Welche Gruppen und Unternehmen erprobten neue Methoden? Welche Chancen entstanden durch die Vermittlung von amerikanischem know how?

Der Titelheld von Tresslers „Hansl und die 200.000 Kücken“ (1952) avanciert zum Prototypus des neuen europäischen self-made-man. Hansl möchte sich den Traum vom eigenen Fahrrad erfüllen. Doch woher soll er das Geld nehmen? Der österreichische Bauernsohn übernimmt ein paar auf Leistung gezüchtete Marshall-Kücken, zieht sie nach dem Vorbild amerikanischer Massenhühnerhaltung auf und füttert sie mit amerikanischem Legemehl. Nach einem halben Jahr beginnen sie, jeden Tag ein Ei zu legen und brechen alle Rekorde. Als Ansporn bekommt der fortschrittliche Hansl noch mehr Kücken und Baumaterial für einen größeren Stall. Er verdient nun so viel Geld, dass er nicht nur seine Familie unterstützen, sondern auch das lang ersehnte Fahrrad kaufen kann.

Tresslers Story von „Hansl und die 200.000 Kücken“ ist ein Lehrstück. Die Legehennenaufzucht war der erste Schritt zur Massentierhaltung in Europa. Eier waren in den ersten Jahren nach dem Krieg teuer, und mit einigen hundert leistungsstarken Legehennen ließ sich schnell viel Bargeld machen. Der junge Unternehmer investierte das erwirtschaftete Kapital und baute jenen barackenartigen „amerikanischen“ Großraumstall, der jahrzehntelang für Wohlstand und Fortschritt in der Landwirtschaft stand. Tressler erzählt seine Geschichte mit Bildern und musikalischen Leitmotiven, die ein unterhaltsamer Kommentar einrahmt, den Tressler übrigens selbst mit viel Charme in der Wiener Intonation einsprach.

Der Eierhändler, wie schon der Name besagt, ist jener Mann, der die Eier später teurer weiterverkauft. Na ja, er muss ja von was leben. Und die Schwiegermutter auch. Wie sie sich gleich über die Eier stürzt! Und da ist der Hansl mit dem ersten Eierertrag seiner Hühner. Anscheinend interessiert das auch den Schwiegersohn. Denn wenn man die beiden Ergebnisse vergleicht, von den 35 Hühnern der Mutter und den 16 reinrassigen vom Hansl, die ja auf Pflegeleistung gezüchtet sind, kann man kaum einen Unterschied feststellen. Doch der Hansl hat alles genau aufnotiert, und außerdem zählt die Schwiegermutter die Eier beim Einlegen noch einmal genau nach. Also gibt’s keinen Schwindel. Mir scheint, die Eltern kapieren langsam, wie tüchtig ihr Bub ist. Ja, für diese Leistung gibt’s bares Geld. Und nicht wenig für den ersten Verdienst.

4. Demokratische Wertvorstellungen und Transatlantische Konfrontationen

Eines der anregendsten Beispiele für die kreative Interpretation und Vermittlung demokratischer Wertvorstellungen bildet Tresslers Doku-Drama „Wie die Jungen sungen“ (1954), das vom United States Information Service (USIS) finanziert wurde. Über die Interaktion von Kindern verschiedener Nationalitäten, wie sie in der internationalen Schule in Wien eingeübt wurde, glaubte Tressler, die Vorstellung eines vereinten Europas überzeugend und unterhaltsam vermitteln zu können. „Wie die Jungen sungen“ präsentiert sich als Hymne auf multiethnische und multinationale Vielfalt. Zwar lernen die Schüler eine gemeinsame Sprache, um sich miteinander zu verständigen. Gleichzeitig spielt ihr deutscher, englischer, französischer, österreichischer oder schwedischer Hintergrund eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der neuen europäischen Identität.

Tressler musste sich seine Geschichte nicht von der Marshall-Plan-Zentrale in Paris vorschreiben lassen, sondern konnte sie aus seinen eigenen Vorstellungen von einer demokratischen Gesellschaft entwickeln. Mit seinem Doku-Drama interpretiert er die kulturelle Heterogenität als Chance eines neuen europäischen Ideenmarkts um. Wie Berlin war auch Wien in vier Zonen geteilt. Die internationale Schule avanciert zum Spiegel dieser aufeinanderprallenden Kulturen. Anders als Robert Stemmle in „Toxi“ (1952) zeigt Tressler multikulturelle Interaktion nicht als Problem für die Gesellschaft. Er geht einen Schritt weiter und setzt die Perspektive der Kinder als ästhetisches Mittel ein, um die Chancen einer multikulturellen Integration vor Augen zu führen.

Doch die Freiheiten für die filmischen Botschafter der amerikanischen Demokratie besass durchaus ihre Grenzen. Bei deutschen Produktionen saß meist ein Vertreter der European Advisory Commission (ECA) im Schneideraum, und manchmal reiste auch ein Abgesandter aus Paris eigens an, um amerikanische Vorstellungen von political correctness durchzusetzen. Georg Tressler erinnert sich an eine heikle Situation in „Wie die Jungen sungen“ hinsichtlich einer Szene zwischen einem schwarzen „Besatzungskind“ und einem weißen Wiener Mädchen. Gemäß den Richtlinien für Filmproduktionen durfte der Inhalt von Dokumentarfilmen weder „die Sicherheit und das Ansehen der Besatzungsmächte gefährden, noch existierende moralische Normen verletzen oder rassistischen oder religiösen Hass erregen.“ 11

In meinem Film über eine internationale Schule kamen Kinder aus verschiedenen Nationen zusammen. Es gab zum Beispiel einen kleinen schwarzen Jungen mit einem lustigen Gesicht. Er spielte mit einem der anderen Kinder, einem kleinen blonden Mädchen von 6 oder 7 Jahren. Sie waren auf einem Schulausflug und besuchten ein Museum für österreichische Geschichte. Den kleinen schwarzen Jungen interessierten besonders die Masken an der Wand. Die Kinder machten ihrerseits Fratzen und hatten viel Spaß. So entwickelte sich eine Freundschaft. Auf der Rückfahrt im Bus spielte der kleine schwarze Junge wieder mit Susi oder Gerti, ich weiß nicht mehr genau, wie sie hieß. Der Fahrer beobachtet sie im Rückspiegel. Und es ist reizend, wie sie alle miteinander gut auskommen. Und Hemsing [Albert Hemsing, der vierte Leiter der Marshall Plan Motion Picture Section in Paris] sagte: „Also ich weiß nicht, Rassisten könnten Anstoß daran nehmen.“ Ich sagte: „Aber Al, ich bitte dich!“ „Ja, Georg, das ist ein Problem“. Und wir mussten den Film kürzen. Es durfte nicht allzu freundschaftlich zugehen. Also haben wir es gekürzt und verändert, bis er zufrieden war. Mir kam das ein bisschen seltsam vor. Ich sprach ihn darauf an. Er sagte „Ja, du kennst doch die Situation in den USA mit den Schwarzen“ und so weiter. Ich sagte: „Wenn du es möchtest. Aber ich finde das lächerlich!“12

Aus amerikanischer Perspektive brach Tressler mit der mutigen mise en scene der beiden Kinder im Bus ein amerikanisches Tabu, das in der Literatur und im Film bis weit ins 20. Jahrhunderts vorherrschte. Bei der New Yorker Aufführung von Eugene O`Neills Drama "All God`s Chillun Got Wings" musste 1924 auf Anordnung von Zensoren die Eröffnungsszene über die Freundschaft zweier Kinder unterschiedlicher Hautfarbe gestrichen werden. Ähnliche Vorschriften galten im Medium Film. Der Production Code of the Motion Picture Producers and Directors of America schrieb in den 1930er Jahren das Verbot aus, intime Kontakte zwischen Weißen und Schwarzen zu thematisieren – eine Vorschrift, die auch in den 1950er Jahren stark nachhallte.13

Die Kinder lernen, trotz ihrer unterschiedlichen nationalen Hintergründe und Muttersprachen einander näher zu kommen, sich zu verständigen. Sie erhalten so Vorbildcharakter für ihre Eltern und zeigen eindringlich, wie eine multikulturelle, multinationale Gesellschaft funktionieren kann.14 Dass der Film ein Vehikel des Marshall-Plans bildet, lässt sich u.a. an einer für diese Produktionen typischen Szene ablesen. Die ideologischen Lager werden anhand einer Weltkarte veranschaulicht. Zu sehen sind Länder auf beiden Seiten des Atlantiks, die kulturelle Kontakte zur internationalen Schule aufgebaut haben. Während die tricktechnisch animierte Landkarte in Stuart Schulbergs „Ich und Mr. Marshall“ den Kontinent Europa in Schwarz und Weiß teilt, hebt Tressler weniger die wirtschaftlichen Vorteile als vielmehr den Gewinn durch kulturelle Kontakte hervor: Der Schulinspektor bedauert bei einem seiner Besuche, dass die Kinder aus der Sowjetunion an solch progressiven pädagogischen Programmen nicht teilnehmen können. So besteht auch bei „Wie die Jungen sungen“ kein Zweifel über die (amerikanische) Botschaft, dass Anbindung an die Vereinigten Staaten nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch kulturellen Fortschritt beinhaltet.

Stuart Schulberg erläutert in einem Artikel „Making Marshall Plan Movies“ über die Arbeitsweise der Marshall-Plan-Filmemacher hinsichtlich der propagandistischen Mittel. Er erinnerte den amerikanischen Leser daran, dass die Deutschen äußerst empfindlich auf eine direkte Manipulation im Stil von Propagandaminister Joseph Goebbels reagierten. Ein ausschließlich indoktrinierender Stil musste um jeden Preis vermieden werden.15 Ralph Block von der Organization of International Information hebt die Strategie der Filmabteilungen des Marshall-Plans im Rahmen der Informationspolitik der deutschen Amerikahäuser als auf das jeweilige Publikum zugeschnittene Vermarktung von Ideen hervor: „Effective propaganda lies as much in the use of discretion as to what should not be done as to what is done. In the majority of the areas which may be viewed by the US as open to the grass roots approach, great care must be taken to avoid the appearance of US pressure or open propaganda.”16 Im Operationsbericht vom 21. März 1949 wurde das Ziel der Militärverwaltung in Deutschland (Bereich Film) so formuliert: „to foster the assimilation of the German people into the society of peaceful nations through the revival of international cultural relations“.17 Der Wechsel der Strategie von aggressiver didaktischer Re-Education, wie sie die sogenannten Gräuelfilme „Todesmühlen” („Death Mills,“ 1945) oder „KZ“ („Nazi Concentration Camps”, 1945) verfolgten,18 zu einem subtileren Ton freundschaftlicher Überredung ermutigte das deutsche (und europäische) Publikum zu einem optimistischeren Blick in die Zukunft, verlangsamte aber gleichzeitig den Prozess der Verarbeitung der Vergangenheit.19

Zusammenfassung

Das Filmprogramm des Marshall-Plans hat sich als erfolgreiche Strategie der Vereinigten Staaten zur Verbreitung demokratischer Strukturen, zur Werbung für die freie Marktwirtschaft und zum Aufbau mächtiger Verbündeter in Europa erwiesen. Auf den Punkt gebracht lautete die Botschaft des Marshall-Plans: „You, too, can be like us!“ – „Auch Ihr könnt werden wie wir“.20

Die Debatten über Propaganda, politische Bevormundung und den Anschub der Demokratisierung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich auf die These des Kulturimperialismus.21 Aber die Bemühungen zur (Neu-)Gestaltung der sozioökonomischen und politischen Zukunft Europas haben sich als komplexer erwiesen, als Begrifflichkeiten von einseitigen Kommunikationsströmen und Schlagwörter wie die „Cola-Kolonialisierung“ vermuten lassen. Vielmehr gleicht die amerikanische Kultur einer Ressource, aus der sich Neues entwickeln lässt. Im Kontext kultureller Interaktion übernahmen die Europäer bestimmte materielle Güter und Strategien. Der Kulturkritiker Winfried Fluck hebt hervor, dass sich das Phänomen der Amerikanisierung nicht durch bloße Identifizierung wirtschaftlicher und politischer Interessen analysieren lässt.22 Unterschiedliche Kontexte produzieren nämlich unterschiedliche und oft unvorhersehbare Effekte.

Im Falle des Marshall-Plans spielte das Medium Film bei der Vermittlung der Botschaft „You, too, can be like us!“ eine bemerkenswerte Rolle. Das kulturelle Angebot aus Amerika und das Marshall-Plan-Filmprogramm lässt sich jedoch besser als eine Art Ideenpool begreifen. Der Nutzen der in diesem Artikel besprochenen Dokumentarfilme ging weit über die ursprüngliche Strategie der freundschaftlichen Umerziehung und Umorientierung hinaus. Die Filme des Marshall-Plans haben Europa nicht im kolonialen Wortsinn amerikanisiert. Sie belegen vielmehr, wie komplexe, miteinander verwobene Prozesse der Aneignung und Hybridisierung die Selbst-Amerikanisierung Europas begünstigten.

Fußnoten

1 Meine Arbeiten zu den Filmen des Marshall-Plans basieren auf der exzellenten Vorarbeit von Linda Christenson und ihrer Marshall Plan Filmography (MPF). Ohne ihre nachhaltige Unterstützung und herzliche Gastfreundschaft in Arlington, VA während veschiedener Recherchereisen wäre die vorliegende Analyse undenkbar. Ebenso gilt mein Dank Eric Christenson, Ed Carter, David Ellwood, Esther Hemsing, Dieter Kosslick, Rainer Rother, Sandra Schulberg und Georg Tressler, die sich alle Zeit für Interviews mit mir zum Thema Marshall-Plan-Filme nahmen. Der hier publizierte Artikel beruht auf meinem Radiofeature “Propaganda für die Demokratie: Die Filme des Marshall-Plans”, das für den Deutschlandfunk entstand und am 8. Februar 2005 (19:15-20:00 Uhr) ausgestrahlt wurde. Die im Artikel verhandelten Fragestellungen gehen über den im Feature vorgestellten Überblick hinaus und vertiefen vor allem Aspekte der Selbst-Amerikanisierung. Der Artikel erschien in einer leicht abgewandelten Version bereits 2007 in der Online-Zeitschrift Glossen, Heft Nr. 25. Er kann unter der folgenden Internetadresse eingesehen werden: www.dickinson.edu/glossen/heft25/ Die Veröffentlichung der neuen Fassung auf den Seiten des Deutschen Historischen Museums geschieht mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber von Glossen. Der Artikel ist dem wunderbaren Georg Tressler gewidmet, dessen Charme, Witz und zupackende Lebensfreude ich vermissen werde.

2 Vgl. Charles P. Kindleberger, „The Marshall Plan and the Cold War“. Marshall Plan Days. Boston: Allen and Unwin, 1987. (92-105). Ebenso Rainer Brähler, Der Marshall Plan. Zur Strategie weltmarktorientierter Krisenentscheidung in der amerikanischen Westeuropapolitik 1933 bis 1952. Köln: Pahl-Rugenstein Verlag, 1983. 258. Zur detaillierten Auseinandersetzung mit der linken Gegenbewegung in Deutschland und John Gimbels Thesen seines richtungsweisenden Buches The Origins of the Marshall Plan (1976) siehe Manfred Knapp, „Das Deutschlandproblem und die Ursprünge des Europäischen Wiederaufbauprogramms“. Der Marshall-Plan und die europäische Linke. Othmar Nikola Haberl und Lutz Niethammer (Hg.). Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, 1986. (36-46).

3 Vgl. Stephan Bierling, „Geburt eines Mythos“. Der Marshall-Plan. Geschichte und Zukunft. Hans-Herbert Holzamer und Marc Hoch (Hg.). Landsberg/Lech: Olzog, 1997. (14-23): 14. Ebenso Barry Eichengreen, „The Market and the Marshall Plan“. The Marshall Plan: Fifty Years After. Martin Schain (ed.). New York: PALGRAVE, 2001. (131-146): 135. Ebenso Werner Abelshauser, „Die Rekonstruktion der westdeutschen Wirtschaft und die Rolle der Besatzungspolitik“. Marshall Plan und Westdeutscher Wiederaufstieg. Positionen-Kontroversen. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1990. (97-113). 111.

4 Nach der Währungsreform am 20. Juni 1948 überflutete die US-Regierung den Deutschen Markt auch mit abendfüllenden Abenteuerfilmen, Western und Thrillern. So erlangte Hollywood schnell eine Vorrangstellung auf dem westdeutschen Filmmarkt. Joseph Garncarz warnt jedoch davor, voreilige Schlüsse aus der großen Anzahl amerikanischen Filme im deutschen Kinorepertoire der Nachkriegszeit zu ziehen. Die Statistiken sollten nicht dazu verleiten, die ästhetischen Präferenzen des deutschen Publikums mit denen der Vereinigten Staaten gleichzusetzen ist. Hier müssten vielmehr Fragen nach der Beliebtheit als Bewertungsgrundlage herangezogen werden. Vgl. Joseph Garncarz, „Hollywood in Germany: The Role of American Films in Germany“. Hollywood in Europe. Experiences of a Cultural Hegemony. David W. Ellwood and Rob Kroes (eds.). Amsterdam: VU University Press, 1994. (94-138). 95. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass die amerikanischen Produktionen nicht selten „Re-importe“ von jenen deutschsprachigen Emigranten darstellten, die zu Beginn der 1930er Jahre ins Exil nach Hollywood gingen und sich dort etablierten. Hierzu gehören u.a. die Regisseure Fritz Lang, Robert Siodmark, Otto Preminger, Edgar G. Ulmer oder Billy Wilder. Den musikalischen Subtext lieferten ebenfalls europäische Emigranten wie die Filmkomponisten Friedrich Holländer, Erich Wolfgang Korngold, Max Steiner, Miklós Rózsa oder Franz Waxman. Vgl. in diesem Zusammenhang Hans-Bernhard Moeller, „German Hollywood Presence and Parnassus: Central European Exiles and American Filmmaking.“ Rocky Mountain Review of Language and Literature. 39.2 (1985): 123-136., Stuart Schulberg erkannte als scharfer Beobachter der deutschen Filmindustrie die spezifisch deutschen Präferenzen an Filminhalten als Chance und Gefahr. Nachdem sich die Filmproduktionen in Deutschland in der Zeit zwischen 1947 und 1954 wie „ein Phoenix aus der Asche“ erhoben hatten (die Anzahl stieg von neun deutschen Produktionen im Jahr 1947 auf geschätzte 150 im Jahr 1954) liefe, so Schulberg, der deutsche Film wiederum Gefahr durch seine ausgeprägte Regionalisierung nicht international Bestand zu haben. Vgl. Stuart Schulberg, „The German Film: Comeback or Setback?“ The Quarterly of Film, Radio and Television. 8.4 (Summer, 1954): 400-404. 401.

5 Stuart Schulberg, „Of All People“. Hollywood Quarterly. 4.2 (Winter, 1949): 206-208. 208. Das Filmprogramm des Marshall Plans wurde von einer Abteilung der Economic Cooperation Administration (ECA) in Paris gesteuert. 1949 übernahm Stuart Schulberg die Koordination der europäischen Filmprojekte. Der erst siebenundzwanzigjährige Amerikaner war in der Schweiz zur Schule gegangen und sprach fließend Deutsch und Französisch. Als Leiter der Dokumentarfilmabteilung der amerikanischen Militärregierung für Deutschland hatte er Filme gedreht, die auf Umerziehung zielten. In „Hunger“ montierte er 1948 Elendsszenen aus den europäischen Metropolen und wollte damit den Deutschen vor Augen führen, dass sie nicht die Einzigen waren, die unter der Not der Nachkriegszeit litten. Auch die in Zusammenarbeit mit seinem Bruder Bud Schulberg und Regisseur John Ford gedrehte große Dokumentation über den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher („Nürnberg und seine Lehren“, 1946) zielte auf Katharsis und sollte dem deutschen Publikum das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen vor Augen führen. Als Koordinator in Paris vernetzte Schulberg die Filmproduktion in den vom Marshall Plan begünstigten Ländern. War ein Projekt erst genehmigt, dann ließ man die jeweiligen Teams mitunter nahezu unabhängig arbeiten.

6 Brief von Barbara Schulberg an ihren Vater Dr. Carter Goodrich und an ihre Mutter vom 29. März 1948. Abgedruckt in Selling Democracy. Films of the Marshall Plan: 1947-1955. Magazin zu den 54. Internationalen Filmfestspielen (05.-15.02.2004) in Berlin. 23.

7 Neben der Selbstzensur griff die US-Regierung auch zu Zensurmassnahmen, wenn die „freundliche Überredung“ hinsichtlich des „American way of life“ keine entsprechende Wirkung zeigte. So entzog man beispielsweise 1947 der Zeitschrift Der Ruf die Lizenz, als Hans Werner Richter und Alfred Andersch darin einen dritten europäischen Weg jenseits der Konfrontation zwischen Ost und West skizzierten; der „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ wurde in den Westzonen verboten; zahlreiche Bücher in den Bibliotheken der Amerikahäusern fielen der Suche nach vermeintlich „un-amerikanischer Gesinnung“ während der McCarthy-Ära zum Opfer; bei Filmen wie Wilhelm Tell oder The Seventh Cross der MGM Studios zögerten die Zensurbehörden, um eine mögliche Auflehnung gegenüber Autoritäten schon im Vorfeld zu unterbinden. In diesem Zusammenhang Alexander Stephan (ed.), „A Special German Case of Cultural Americanization“. The Americanization of Europe. Culture, Diplomacy, and Anti-Americanism after 1945. New York and Oxford: Berghahn Books, 2006. (69-88). 73.

8 Interview von Frank Mehring mit Rainer Rother in Berlin am 23. Juni 2004.

9 Interview von Frank Mehring mit Georg Tressler in Berlin am 15. Februar, 2004.

10 „On the cultural side the early films had many defects from the standpoint of the German audience. There was poor acting, too rapid a pace for the German audience mostly accustomed to non-talking pictures, and poor balance between music and background noises. There was also the psychological effect of some ´finger of indictment´ at the Germans or eulogized the American way to the point of creating a psychological barrier between the audience and the desired message of the film”. Henry P. Pilgert, The History of the Development of Information Services Through Information Centers and Documentary Films. Historical Division Office of the Executive Secretary Office of the U.S. High Commissioner for Germany, 1951. 72

11 Document 23, Office of Military Government for Germany, United States (OMGUS), Motion Picture Branch, ‘Operation Report’, March 21, 1949. Box 242, Record Group 260, Records of the United States Occupation Headquarters, World War II, GAD-Suitland. Lawrence H. Suid (ed.), Film and Propaganda in America. A Documentary History. 4 vols. New York, Westport, London: Greenwood Press, 1991. Vol. 4. 58.

12 Interview von Frank Mehring mit Georg Tressler in Berlin am 15. Februar, 2004.

13 Vgl. Werner Sollors, Neither Black Nor White Yet Both. Thematic Explorations of Interracial Literature. Cambridge, MA und London, UK: Harvard University Press, 1997. 5.

14 Der Film nimmt für sich in Anspruch, ethnische und nationale Toleranz aus österreichischer Perspektive vorzustellen – gerade auch im Hinblick auf die Rassentrennung der amerikanischen Besatzungstruppen. Darüber hinaus belegen Quellen, die in einer Oral-History-Recherche zur Wahrnehmung Afro-Amerikaner in Österreich gesammelt wurden, dass Tressler auch in seinem Heimatland durchaus mit rassistischen Vorurteilen zu rechnen hatte. So machten während der Besatzungszeit wiederholt Anfeindungen von sogenannten „Negerhuren” die Runde. Vgl. Ingrid Bauer, Welcome Ami Go Home. Die amerikanische Besatzung in Salzburg 1945-1955. Salzburg und München: Anton Pustet, 1998. 167-171.

15 See Stuart Schulberg, „Making Marshall Plan Movies“. Film News. Special Civil Defense Section. (1951): 10-19. 19.

16 NARG 59 Ass. Secr. Barrett, LOT, Box 4: Ralph Block to Barrett, Dec. 1, 1950. Zitiert in Maritta Hein-Kremer, Die Amerikanische Kulturoffensive: Gründung und Entwicklung der amerikanischen Information Centers in Westdeutschland und West-Berlin 1945-1955. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 1996. 380.

17 Ibid. 66.

18 Vgl. Ronny Loewy, „Atrocity PICTURES: Alliierte Filmaufnahmen aus den befreiten Konzentrations- und Vernichtungslagern“. Lernen Sie Diskutieren. Re-Education durch Film. Strategien der westlichen Alliierten nach 1945. Reiner Roß (Hg.). Babelsberg: Cinegraph, 2005. (89-96). 91-93.

19 Dies gilt insbesondere für die die deutsche Rezeptionsgeschichte des Holocaust und den komplexen Funktionen des Mediums Film. Vgl. David Bathrick, „Cinematic Americanization of the Holocaust in Germany: Whose Memory Is It?” Americanization and Anti-Americanization. The German Encounter with American Culture After 1945. Alexander Stephan (ed.). New York: Berghahn Books, 2005. (131-147). 136. Im geschichtlichen Rückblick erfüllten die Filme des Marshall Plans insbesondere in Westdeutschland ihre propagandistische Zwecke. Sandra Schulberg warnt davor, die Vielschichtigkeit der Erzählstrukturen, die einer demokratischen Grundhaltung in den vom Marshall Plan begünstigten Ländern Vorschub leisteten, vorschnell als reine Propaganda abzustempeln. „I think one can talk about the use and the abuse of propaganda. The Marshall Plan films are I think an example of the best use of film as an instrument of social policy.“ („Man kann über den Gebrauch und Missbrauch von Propaganda streiten. Aber ich denke, dass die Marshall Plan Filme ein Beispiel dafür sind, wie Film auf die beste Art und Weise als Instrument der Sozialpolitik eingesetzt werden kann.“) Interview von Frank Mehring mit Sandra Schulberg vom 13. Februar.

20 David Ellwood in seinem Vortrag vom 16. Oktober 2004 auf dem Symposium über den Marshall Plan in New York. Vgl. ebenso David Ellwood, „Introduction: Historical Methods and Approaches”. Hollywood in Europe. Experiences of a Cultural Hegemony. David Ellwood and Rob Kroes (eds.). Amsterdam: VU University Press, 1994. (2-18). 8.

21 Vgl. Kaspar Maase, Bravo Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Hamburg: Junius Verlag, 1992. 23.

22 Winfried Fluck, „California Blue. Americanization as Self-Americanization”. Americanization and Anti-Americanization. The German Encounter with American Culture After 1945. Alexander Stephan (ed.). New York and Oxford: Berghahn Books, 2005. (221-237). 222.

Prof. Dr. Frank Mehring

Radboud University
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