Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Biermann und die Folgen.
Zum politischen Selbstverständnis der Boheme

“Dieser Drang, es müßte doch möglich sein, dieses Verhärtete, diesen geistigen Moloch aufzubrechen, stellte sich nach der Ausweisung Biermanns ganz deutlich als Illusion heraus. Von da an konnte sich keiner mehr bescheißen, in dem Sinne, kämpferisch im Politischen Demokratie einzufordern.”
Dieter Kraft
“Nach Biermann war es vor allem ein ‘Trotzdem!’”.
Hans Scheib
“Mit Biermann fing es an, daß man offen über die Ausreisemöglichkeit redete. Das wurde früher überhaupt nicht ausgesprochen. Von Biermanns Ausbürgerung an war die Ausreise ein zeitgeschichtlicher Fakt in der DDR.”
Gabriele Stötzer

Als der Liedermacher Wolf Biermann am 16. November 1976 im Autoradio eines IG-Metall-Dienstwagens bei Tempo 160 auf der Fahrt nach Bochum von seiner Ausbürgerung erfuhr, wenige Tage nach dem erfolgreichen Konzert vor 6.500 Zuhörern in der Kölner Sporthalle, endete eine maßgeblich von der Hoffnung auf eine kulturelle Erneuerung geprägte Periode. Dabei war das Ausbürgerungsdatum eher zufällig gewählt, in den Maßnahmeplänen der Staatssicherheit existierten Szenarien, die, wie man heute weiß, diesen folgenreichen Schritt schon seit 1973 ins Kalkül gezogen hatten.

Bereits einen Tag nach der rigiden Ausweisung des schnauzbärtigen DDR-Villons begann eine Protestwelle, mit der die Initiatoren wohl nicht gerechnet hatten. Den “Einspruch Einzelner gab es gelegentlich”, konstatiert der Literaturwissenschaftler Horst Domdey, “aber diesmal hat das Widersprechen eine neue Qualität, es ist kollektiv.”(34)

Mehr als 100 Literaten, Musiker, Maler, Schauspieler und Intellektuelle schlossen sich einer Protesterklärung an, in der zwölf prominente Schriftsteller – unter ihnen Heiner Müller, Stefan Heym, Volker Braun und Christa Wolf – sowie der Bildhauer Fritz Cremer ihrem Unmut über diesen Schritt geäußert hatten. “Biermann selbst hat nie, auch nicht in Köln”, hieß es in der als Topmeldung in der ARD-Tagesschau verlesenen Erklärung, “Zweifel darüber gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken.”(35)

Unter den Künstlern und Intellektuellen, die sich in zahlreichen Unterschriften-Aktionen mit dieser Petition solidarisch erklärten, waren längst nicht nur Protagonisten der sozialistischen Hochkultur, die durch ihre herausragende Stellung und Reputation relativ abgesichert schienen. Die Protestwelle brach auch Konkurrenz-Dämme und mentale Schranken – in ihrem Sog bezogen auch viele Bohemiens ungeschützt Stellung, die in Wolf Biermann zwar einen Verfechter bohemischer Lebensformen, aber nicht gerade einen politischen Wahlverwandten sahen. Für den in seiner Heimatstadt Halle stark angefeindeten Maler Wasja Götze kam die Unterschrift unter die Erklärung beispielsweise eher “einer moralische Pflichthandlung”(36) gleich, nicht aber dem Eintritt in das Fanlager eines Barden, der wie viele den DDR-Sozialismus besser machen, ihn jedoch nicht gänzlich abschaffen wollte. Ganz ähnlich argumentiert die Erfurter Dichterin Gabriele Stötzer, die mit einer Unterschriftenliste auf dem Weg nach Berlin aus dem stehenden Zug heraus verhaftet und kurze Zeit später wegen “staatsfeindlicher Hetze” zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, die sie in der berüchtigten Frauenhaftanstalt Hoheneck verbüßte. “Somit steht Biermann als Außenseiter am Schnittpunkt zweier Subkulturen”, diagnostiziert der Subkultur-Theoretiker Rolf Schwendter, “einer politisch reflektierten Boheme (auf die ihn z.B. Helmut Kreuzer in seiner großen Monographie über Boheme beschränkt) und einer aktivistisch-bürokratiekritischen sozialistischen Bewegung (etwa im Sinne Rosa Luxemburgs).”(37)

Neben dem oft beschriebenen kulturpolitischen Kurswechsel war eine wichtige Folge der Biermann-Ausbürgerung auch die einsetzende Diskussion und Selbstverständigung in den Boheme-Kreisen über den Zustand der politischen Kultur, den eigenen Standort und die generelle Reformfähigkeit des DDR-Systems – eine interne Debatte, die vorher und auch wenig später mangels Hoffnung auf relevante Folgen kaum wirklich verfolgt wurde. Der lebensweltliche Konsens der Boheme bezog sich zwar unter anderem aus einem gemeinsamen Feindbild, einer als unzulänglich, kunstfeindlich und kleinbürgerlich empfundenen Administration, über reelle Alternativen zum Sozialismus ostdeutscher Provenienz disputierte man in den Gruppen, Zirkeln und Kreisen aber kaum. Ein wichtiges Motiv für diese thematische Ausblendung war die im Vordergrund stehende Festigung der Binnenstruktur, deren Haltbarkeit und Resistenz gegenüber der ‘feindlichen’ Außenwelt man nicht durch folgenlose Planspiele zerstören wollte. Aus dieser Haltung heraus ist auch zu erklären, warum sich nach der politischen Wende plötzlich so viele langjährige Weggefährten auf verschiedenen Seiten der Barrikade wiederfanden: die einen als engagierte Reformsozialisten, die mit der frühen Utopie von einem ‘menschlichen Sozialismus’ die DDR und das eigene Wohlbefinden in die 90er Jahre retten wollten, und auf der anderen Seite jene Bohemiens, die ihrem Lebensentwurf treu blieben und als Einzelgänger nun ihren Weg in den Quartieren der einst als dekadent verschrieenen spätbürgerlichen Welt fortsetzten.


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