Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

In den Boheme-Festen bündelte und vertiefte sich ein Lebensgefühl, das im Alltag vielen Widerständen ausgesetzt war. Gegen die genormte und diktatorische Welt von Anmaßung, Borniertheit und kleinbürgerlich-proletarischer Etikette behauptete die Boheme in ihren Festen eine selbstbestimmte Sphäre. Die häufig überlieferten Gruppenbilder – vom Foto der jungen Dichter in der Keramikwerkstatt von Wilfriede Maaß über die Künstlerrunde um den Bildhauer Hans Scheib bis zur Gruppen-Aufnahme des Malerfestes an der Keppmühle 1976 – machen noch im Nachhinein den Stellenwert dieser gemeinschaftlich zelebrierten Höhepunkte deutlich. “Es war schon ein Flagge setzen”, erinnert sich der heute in Ettlingen lebende Filmemacher Heinz Wittig, der mehrfach jeweils dreitägige Künstlerfeste mit 100 bis 120 Personen in Graupa ausrichtete, “es war eine Demonstration, da sind noch Andersdenkende im Land. Diese für heutige Verhältnisse kaum nachzuvollziehende Dimension bei den Festen war unser Schutz und gleichzeitig war es dem Staat ein Dorn im Auge.”(33)

Von Problemen mit den staatlichen Organen wissen viele Festveranstalter zu berichten. Zum einen war die Raumbeschaffung äußerst schwierig, da nur wenige private Kneipeninhaber bereit waren, das Risiko der vom Staat als ungesetzlich Feierlichkeiten zu tragen. Die zahlreichen Kulturhäuser und HO-Gaststätten schieden wegen ihrer Weisungsabhänigkeit von staatlichen Stellen ohnehin meist aus. Zum anderen mußten auch private Feierlichkeiten ab einer gewissen und stets unterschiedlich ausgelegten Größenordnung polizeilich angemeldet werden, was den als Veranstalter fungierenden Bohemiens in vielen Fällen verweigert wurde. So blieb oft nur der Rückzug in die Natur oder auf private Grundstücke, und selbst dort konnten die Festgäste wegen der fehlenden Veranstaltungsgenehmigung nicht völlig sicher sein. Dennoch kam es kaum zu durchgestzten Verboten oder gar zu polizeilichen Auflösungen von Festgemeinschaftten. Dafür wurden die Boheme-Feste offen von der Staatssicherheit observiert. Wie man heute weiß trugen auch viele der meist kostümiert erscheinenden Gäste zur Verbesserung der Informationslage bei. Das vom Ehepaar Rüth im Juni 1983 ausgerichtete Sommerfest auf dem Karolinenhof beispielsweise bewegte sich mit Straßenabsperrungen und einem Großeinsatz ziviler Geheimdienstler an den Rand einer direkten Konfrontation.

Waren die Boheme-Feste anfangs inspiriert von einer frankophil geprägten Sehnsucht nach spürbarer Künstlergemeinschaft und vom Versuch getragen, zumindest zeitweise der weitverbreiteten Lethargie und Militanz eine gelöste mediterrane Heiterkeit entgegenzusetzen, änderte sich die Festkultur in den 80er Jahren, auch wenn einzelne Traditionen fortgesetzt werden konnten. An die Stelle der langwierig vorbereiteten Feste traten nun spontane Parties, vor allem im Umfeld der sich bildenden Subkultur-Biotope in den verfallenden Gründerzeitvierteln. Zudem entstand neben den Jugendklubs ein sich stetig veränderndes und dichtes Geflecht von privaten Wohnzimmer-Bars und Keller-Kneipen. In Berlin behauptete sich Mitte der 80er Jahre sogar eine Zeitlang ein inoffizielles Cabaret. In dieser von der Endzeit-Agonie der DDR entrückten Partywelt stand nicht mehr der zelebrierte Gemeinsinn im Vordergrund, sondern einfach die Parole Spaß, aus dem jeder seinen indviduell höchst unterschiedlichen bestimmten Nutzen zog. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang die ab Mitte der 80er Jahre fast auf der Tagesordnung stehenden Abschieds-Parties von Bohemiens, deren Übersiedlung in die Bundesrepublik genehmigt worden war. Schon der Anlaß markiert die Distanz zur inszenierten Gegenwelt der frühen Jahre.


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