Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Die realen Freiräume waren größer geworden – trotz einer repressiven Kulturpolitik, die Anfang der 80er Jahre versuchte, längst verlorenes Terrain wiederzugewinnen. In den auf Abriß gestellten oder verkommenden Altstadtkernen von Dresden-Neustadt, Halle, Leipzig-Ost und im Prenzlauer Berg eröffneten sich Lebens- und Kunsträume, die vorherigen Generationen versagt geblieben waren. So vernetzten sich die einstigen Nischen zu Inseln der Unordnung, in denen die Kommunalen Wohnungsverwaltungen und die Polizei-Meldestellen den Überblick verloren. Mit Scheinwohnsitzen, vorgetäuschten Untermieterschaften und der illegalen Inbesitznahme von freistehendem Wohnraum entstand ein Hinterland, dessen selbstbestimmte Topographie von den staatlichen Organen toleriert wurde. Hinzu kam die bereits beschriebene ökonomische Unabhängigkeit, die es in den 80er Jahren die Entstehung einer subkulturellen Infrastruktur ermöglichte und die als Patchwork aus höchst unterschiedlichen Teilszenen, Aktivitäten und Gruppenbildungen erstmals in der DDR-Geschichte ein kulturelle Alternative bot. “Was die einen mit den anderen verband”, beschreibt Uta Grundmann treffend den Lebenskonsens jener Generation, “war das Zugehörigkeitsgefühl zu einer losen Solidargemeinschaft, die die Weigerung, gesellschaftliche Konventionen anzuerkennen, durch den Lebensstil von Bohemiens demonstrierte. Ihre Weltanschauung war insofern politisch zu verstehen, als sie einem transitorischen Zustand entsprach: Eindeutigkeit wurde als Falle enttarnt.”(47)

Diese neuartige Infrastruktur konstituierte sich aus verschiedenen Bestandteilen. Neben den zahlreichen Privatgalerien und Atelierausstellungen, die bereits ab Mitte der 70er Jahre enstanden, kamen nun auch literarische Lesereihen hinzu. Zwar hatte es bereits früher Lesungen in Privatwohnungen gegeben, neu waren jedoch der qualitative Anspruch, der öffentliche Charakter und die über mehrere Jahre anhaltende Kontinuität dieser Reihen. Die wichtigsten Lesezyklen fanden zweifellos im Prenzlauer Berg statt, etwa in der Wohnküche von Ekkehard Maaß in der Schönfließer Straße . “Für das erste Drittel der achtziger Jahre”, resümiert der Literaturwisenschaftler Klaus Michael die spezielle Situation in der Hauptstadt, “lassen sich in Berlin wöchentlich ein bis zwei Lesungen mit 50 bis 120 Besuchern nachweisen. Fast alle Autoren der zwischen 1950 und 1960 geborenen Autorengeneration debütierten in diesem Rahmen. Nach der allgemeinen Verschlechterung der kulturpolitischen Lage kamen die Autoren der vorhergehenden Generation hinzu. Diese Lesereihen schufen eine kleine, aber stabile Öffentlichkeit, entwickelten sich zu literarischen Meinungsbörsen, zu Kritikerseminaren und zu einer deutsch-deutschen ‘Autorenagentur’.”(48)

Ein qualitativer Sprung in der Boheme-Kommunikation waren desweiteren die ab 1981 und 1982 erscheinenen Untergrund-Zeitschriften. Kursierten in den 70er Jahren bereits Zitatsammlungen, mühsam mit der mechanischen Schreibmaschine abgetippte Nietzsche-Texte oder psychedelische Insight-Berichte aus der verspätet rezipierten Hippie-Welt, so bündelten die ersten drei Zeitschriften nun Grafik, Texte und einen editorischen Anspruch – so der von Uwe Warnke herausgegebene Entwerter/Oder, die in Dresden vom Jazzgitarristen Lothar Fiedler edierte “und” sowie die von Uwe Kolbe verantwortete Ostberliner Typoskriptsammlung “Der Kaiser ist nackt”, aus der wenig später die immerhin in einer 100er-Auflage konspirativ bei einem Drucker mittels dem aufwendigen Wachsmatritzenverfahren vervielfältigte Zeitschrift Mikado um Uwe Kolbe, Lothar Trolle und Bernd Wagner hervorging. “Die Zeitschriften gliederten sich in das Entstehen eines hintergründigen Netzwerks von Aktionen, Lesungen, Ausstellungen, Konzerten, Performances u.ä. in den 80er Jahren ein”, beschreibt Peter Böthig, der unter dem Pseudonym P. Poltrie selbst in einigen dieser Editionen veröffentlichte, den Zusammenhang. “Dieses Netzwerk wiederum war aufs engste verbunden mit einer veränderten Lebenspraxis.”(49)

Im Laufe der 80er Jahre entstanden insgesamt mehr als 30 kulturell dominierte Untergrundzeitschriften, von denen etwa der Berliner Schaden, der Leipziger Anschlag, die Dresdner “usw” sowie die späte Ariadnefabrik aus dem auch hier verbreiteten Mittelmaß an Moderne-Adaptionen, biederem Kunsthandwerk und exhibitionistischen Attitüden herausragten. Bei diesen Publikationen kam es auch meist zur einen redaktionellen Vorstufe, die nicht, wie in anderen Heften üblich, jeden eingereichten Beitrag zuließ, selbst wenn dieses demokratische Prinzip anfangs durchaus seine Berechtigung zu haben schien. So wurden bei Mikado die Texte in der Dreier-Redaktion diskutiert und nicht selten zurückgeschickt, bevor Renate Ziemer, Privatassistentin bei Heiner Müller, sich an das Abtippen der ausgewählten Arbeiten machte. “Freiwillige kollektive Arbeit war eine neue Erfahung für uns”, beschreiben die drei Mikado-Herausgeber retrospektiv ihre Erfahrungen. “Wichtigster Punkt bei der Entstehung jeder neuen Ausgabe war nicht das Sammeln von Texten, nicht der technische Ablauf – schwierig genug in einem Land, in dem angeblich jeder siebente ein Telefon besitzt (wir kannten nicht genug siebente Bürger). Wesentlicher Teil der Arbeit waren die Zusammenkünfte, bei denen die Texte in einen von uns gemeinsam akzeptierten, gegenseitigen Zusammenhang gebracht wurden, die Struktur des jeweiligen Heftes sich festlegte anhand des Materials. So unterschiedlich die Motive gewesen sein mögen, die uns zusammengeführt hatten – gemeinsam war uns die Suche nach einer erfrischenderen Form des Zusammenlebens, die hinausgeht über trostloses Zusammensitzen in Kneipen, über unnützes Herumdiskutieren hinter verschlossenen Türen. (...) Die Auflagenhöhe von hundert Exemplaren pro Heft mag in einer Umgebung, die in Glanzpapier unterzugehen droht, lächerlich erscheinen, doch sie stellt in einem Land, in dem es keine Kopiergeräte in privater Hand gibt, die Obergrenze dessen dar, was auf nichtlegale oder außerlegale Weise herzustellen ist.”(50)


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