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Letzte Tage im Niemandsland.
Die Boheme zwischen Ausreise, Agnonie und Allianzen
Das Standesamt im Prenzlauer Berg in der Fröbelstraße 17 hatte in
den letzten Jahren der DDR einen enormen Zulauf. Die Eheschließungszeremonie
unter dem unvermeidlichen Porträt Erich Honeckers, mit dem in der
DDR jeder öffentliche Raum bestückt war, geriet bei einer Vielzahl
von Paaren allerdings zunehmend zur inszenierten Farce, die sich zur anfänglichen
Verärgerung der Standesbeamten vor allem darin zeigte, daß die Brautpaare
dem vorschriftsgemäßen Procedere kaum Achtung zollten und die
Aufmachung der Hochzeitsgesellschaften zumeist alles andere als für
diesen Anlaß üblich war. Auffällig war weiter, daß
jeweils einer der Brautleute, meist der Bräutigam, aus dem nicht-sozialistischen
Wirschaftsgebiet stammte, so daß es keiner geschärften
Beobachtungsgabe bedurfte, hinter dem Hochzeitsboom eine Methode zu vermuten.
Die Liebe war in der Tat nicht das zentrale Motiv für jene staatsübergreifende
Paarbildung, die sich da im Halbstundentakt zu ehelichen Gemeinschaften
formierte. Viel eher war das Ja-Wort ein konkretes Nein zu einem Staat,
dem man mithilfe dieser relativ unaufwendigen Methode verlassen konnte,
ohne jahrelang auf die Bewilligung des Ausreiseantrages zu warten oder
das erhebliche Risiko eines unerlaubten Grenzübertritts einzugehen.
Diese pro forma geschlossenen Schein-Ehen erlaubten die gefahrlose
und relativ zügige Ausreise in die Bundesrepublik, von der vor allem
viele Frauen Gebrauch machten. Die staatlichen Organe ließen meist
gewähren, sogar in Fällen, wo körperliche Neigungen aufgrund
offen gezeigter homosexueller Vernanlagung offensichtlich nicht zueinander
paßten. Aus vielen Akten der Staatssicherheit geht hervor, daß
das MfS diese weiche Ausreise-Variante durchaus als Möglichkeit
betrachtete, zumindest einigen Druck aus dem zum Ende der DDR bedrohlich
pfeifenden Kessel zu ventilieren. Auch wenn die Partnersuche aus heutiger
Suche recht grotesk anmutet oft wurden die sich zur Verfügung
stellenden West-Bräutigame von Freunden angesprochen und motiviert,
einige sollen ihre Einwilligung auch von einer später im Westen abzustotternden
Honorar-Summe für ihre Liebesdienste abhängig gemacht haben
, war die Liste der auf diese Weise in den Westen gekommenen DDR-Bürger
aus den unangepaßten Kulturmilieus beträchtlich. Die Dresdner
Malerin Christine Schlegel heiratete etwa einen Griechen, die Ostberliner
Designerin Sabine von Oettingen einen Amerikaner und die Autoperforationsartistin
Else Gabriel noch kurz vor dem DDR-Bankrott den Westberliner Kultautor
Max Goldt. Zwar existieren keine milieubezogenen Erhebungen, aber der
Exodus machte sich vor allem in einer Vielzahl von Hochzeitsfeiern bemerkbar,
die gemäß ihres eigentliches Anlasses zu mitunter exzessiven
Ausreise-Parties wurden.
Nicht nur auf diesem Weg verlor die ostdeutsche Boheme substantiell zunehmend
an Masse. Bereits in der großen Ausreisewelle von 1984 hatten viele
dem Staat den Rücken gekehrt ein Trend, der sich vor allem
in den letzten beiden DDR-Jahren nochmals verstärkte. Wurden 1987
insgesamt noch 18.958 Übersiedler und Flüchtlinge gezählt,
so stieg deren Zahl ein Jahr später bereits auf 39.832, darunter
eine Vielzahl von Bohemiens, die in der sich ausbreitenden Agonie und
dem zunehmenden Sinnverlust keine Perspektive mehr erkennen konnten. Der
mächtige Sog in den Westen zerstörte viele subkulturelle Infrastrukturen,
die seit den 70er Jahren gewachsen und in der ersten Hälfte der 80er
einen tragfähigen Untergrund für ein differenziertes Netzwerk
an selbstbestimmten Räumen und Aktivtiäten abgegeben hatte.
Allein aus der Hallenser Boheme der frühen Jahre, gibt der Maler
Wasja Götze zu Protokoll, verließen nach und nach fast 80 Prozent
der einstigen Mitstreiter das Land. Ein typisches Beispiel für jenen
qualitativen und quantitativen Schwund ist etwa der Künstlerkreis
um den 1. Leipziger Herbstsalon, von dem nur Günther Huniat in der
Messestadt blieb. Alle anderen fünf Künstler verließen
den Staat oder zogen aufs Land. So entstanden erhebliche Leerstellen in
den abgetrotzten Freiräumen, die auch von der nachwachsenden Generation
nicht aufgefüllt wurden. Deren Orientierung an kurzzeitigen Spaßrevolten
und der ausgeprägten Unlust, verpflichtende soziale Kontakte einzugehen,
ging nicht konform mit der vor allem auf unentfremdete Gemeinschaft ausgerichteten
Aktivitäten ihrer Vorgänger. Zudem wurzelten die ästhetischen
Leitbilder der jungen Bohemiens in einer gänzlich anderen Ziellandschaft
ein Panorama, das nicht mehr vordergründig von dem sentimentalen
Traum eines frankophilen Künstlerlebens aus dem 19. Jahrhundert bestimmt
war, sondern sich gleichzeitig auf amerikanische Kunstkonzepte, die postmodernen
Philosophien der französischen Meisterdenker und auf eigenständige
Mixturen aus dem Moderne-Archiv verfügbarer Gesten, Mittel und Posen
stützte. Diese Loslösung von den einstmals imagebestimmenden
Formen kulturellen Widerstehens machte sich auch in einem rapiden Verlust
des Stellenwertes der literarischen Boheme im Subkultur-Kontext bemerkbar,
die noch im Anfang der 80er Jahre eine für die gesamte Szene eine
haltungsprägende Funktion behauptete. Für den Dichter Jan Faktor
markierte die Ausstellung und Leseveranstaltung Wort und Werk
1986 in der Samariterkirche eine entscheidende Wende hin zu einem Wirkungsverlust
der sich unabhängig definierenden Literaten: Bei den Lesungen
war die Kirche nur noch zu einem Drittel voll, selbst bei Gert Neumann,
der sonst ganze Säle gefüllt hätte. Aber die Zerfallserscheinungen
waren schon fortgeschritten, kurz darauf habe ich in der Umweltbibliothek
eine Ausstellung von de Loch gesehen, die aus seiner Wohnung dorthin verlegt
wurde. Das war eine ganz andere Atmosphäre, da war es voll, da war
eine ganz andere Kraft drin.(68)
Ein entscheidender Grund für diese Akzentverschiebung war zweifellos
die Öffnung der zahlreichen Jugendklubs und Kulturhäuser ab
Mitte der 80er Jahre für die bis dahin aus den staatlichen Veranstaltungsmechanismen
ferngehaltene künstlerische Subkultur. Fortan mußten Punkbands,
Theatergruppen und Literaten nicht mehr auf das eingespielte Veranstalternetz
von Wohnungen, Ateliers und Kirchenräume ausweichen und bekamen sogar
noch Honorar von den Veranstaltern. Das führte zur Herausbildung
einer nun auch offiziellen Nachfrage für die künstlerischen
Leistungen der Boheme, die sich allerdings weniger auf die in den 70er
Jahren so wichtige Bildende Kunst oder die Anfang der 80er Jahre wesentliche
Literatur zentrierte, sondern auf Angebote setzte, die in den neuartigen
Räumen und Mechanismen auch die veränderten Erwartungshaltungen
des Publikums abdeckte. Der Trend zu einer auf große Ereignisse
setzenden Programmpolitik, die später etwa im Potsdamer Kulturhaus
Lindenpark, im Ostberliner Haus der jungen Talente oder der Insel der
Jugend zum Teil auch an personelle, räumliche und künstlerischen
Grenzen stieß, war vorprogrammiert.
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