Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Der gemeinsamen Arbeit steht nun nichts mehr im Wege – außer die staatlichen Behörden, die erst später aufmerksam werden, und die üblichen Materialbeschaffungsprobleme. Das erste Projekt setzt bereits Zeichen. “grafiklyrik 1” enthält fünf Aquatinta-Radierungen von Eberhard Göschel sowie fünf im Buchdruck hergestellte Texte Bernhard Theilmanns. Die Mappe ist weit mehr als Gruppen-Einstand und Talentprobe des Druckers. Von Beginn an verlangt die Obergrabenpresse von sich und ihren Gästen höchstes Niveau. “Man sollte den Mappen nicht ansehen”, so Bernhard Theilmann, “daß sie aus der DDR stammen.”(5)

Bei der gemeinsamen Arbeit an “grafiklyrik 1” gründet sich die Obergrabenpresse auch als konzeptioneller Verbund. Von Göschel stammt die Idee, der naheliegende Name fällt den Beteiligten allerdings erst nach wochenlanger Suche ein. In einem später veröffentlichten Gruppentext wird das Credo von den Mitgliedern folgendermaßen beschrieben: “Die Obergrabenpresse ist Werkstatt, Konzeption und Erfahrung. Ihre Gründung 1978 war gleichermaßen eine Erweiterung unserer Arbeitsmöglichkeiten wie auch eine Herausforderung, da es keine vergleichbaren Vorbilder gibt. Das künstlerische Programm und die soziale Struktur werden von der kollektiven Entscheidung getragen; das schließt die gleichberechtigte Nutzung der Werkstatt ein. Das Profil der Obergrabenpresse wird durch die Realisierung einzelner Grafiken und und Grafikfolgen ebenso bestimmt wie durch das Anregen künstlerischer Projekte und das Edieren grafischer Werke. Die Mappenfolge ‘grafiklyrik’ ist dafür charakteristisch, gleichzeitig dokumentiert sie die Einbeziehung von Texten als einen wesentlichen Teil der Konzeption.”(6)

Zur Vernissage lädt die Obergrabenpresse in ihr Domizil am Obergraben 9. Die erste “grafiklyrik”-Mappe, von der die ersten 20 Exemplare auf edlem Hahnemühlebütten gedruckt sind, ist schnell vergriffen. Bei einer Auflage von 50 Stück und einem Preis von 150 Mark scheint das aus heutiger Sicht auch kaum verwunderlich, zumal bald schon institutionelle Käufer zu den regelmäßigen Erwerbern gehören; so das von Werner Schmidt geleitete Dresden Kupferstichkabinett. Später kauft auch die Sächsische Landesbibliothek, das Berliner Kupferstichkabinett sowie die Wiener Albertina die begehrten Mappen an – ein Erfolg, der zur Weiterarbeit animiert. Bereits ein Jahr später entsteht “grafiklyrik 2”. Diesmal ist das Künstler-Doppel mit Peter Herrmann und dem Dresdner Lyriker Michael Wüstefeld besetzt. Herrmann steuert sieben farbige Holzschnitte zu sechs Gedichten bei, die jeweils auf einer Doppelseite präsentiert werden. Gegen die verordnete Anonymität schützt nur selbstgeschaffene Öffentlichkeit: Die Arbeitsergebnisse können in der Werkstattgalerie besichtigt werden, jeweils dienstags nachmittags und an jedem ersten Sonnabend von neun bis zwölf Uhr. Das betrifft nicht nur die Werke der Obergrabenpresse-Künstler. Auch die zahlreichen Gäste, für die Lorenz bald schon Lohn- und Gefälligkeitsarbeiten übernimmt, kommen auf diese Weise in den Genuß einer Exposition.

Trotz des unbehelligten Beginns muß sich die Obergrabenpresse vor der drohenden Kriminalisierung hüten. Ihre Existenz als kollektiv verantwortetes Projekt ist weder durch die Statuten des Künstlerverbandes noch durch die DDR-Gesetzgebung abgesichert. Allenfalls als künstlereigene Druckwerkstatt könnte sie offiziell firmieren. Das hätte allerdings zur Folge, daß sie nur Aufträge von Verbandsmitgliedern oder vom Staatlichen Kunsthandel realisieren dürfte. Bei jeder Arbeit von A.R. Penck, dem eine Verbandsaufnahme bis zu seiner Ausbürgerung verweigert wird, müßte dann eine Sondergenehmigung eingeholt werden. Auch der Name Obergrabenpresse würde zur puren Dekoration verkommen, da er an eine konkrete Person gebunden bliebe, die bei unausbleiblichen Verstößen zur Rechenschaft gezogen werden könnte – eine Farce ohne Ende also, auf die sich das eingespielte Team erst gar nicht einläßt.

Die Obergrabenpresse-Mitglieder beharren vielmehr auf ihrem Maximal-Anspruch. Wenn man nicht alles fordert, haben sie im realsozialistischen Künstleralltag gelernt, wird man überhaupt nichts bekommen. Ihr forsch eingefordertes und präzise formuliertes Credo, selbstbestimmte Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, in denen Eigenverantwortlichkeit und größtmögliche künstlerische Freiheit möglich werden, ist in der DDR nicht gerade alltäglich. Anfangs scheint ihr verwegenes Programm in der Grauzone zwischen Vorschrift und Auslegung mit taktischem Geschick auch ohne größere Widerstände durchzusetzen zu sein. So holt Bernhard Theilmann für die beiden ersten “grafiklyrik”-Mappen eine Druckgenehmigung in der zuständigen Stelle im Rathaus ein. Sie wird ihm erstaunlicherweise auch nicht verwehrt, nachdem er die Texte zur Prüfung vorgelegt hat. Später stellt der alarmierte Rat des Bezirkes die erteilte Lizenz zum Drucken als menschliches Versagen eines Funktionsträgers hin. “In Unkenntnis erteilte Druckgenehmigungen rechtfertigen den Verstoß gegen die Honorarordnung Bildende Kunst nicht.”(7)

Auch eine feste Organisations-Struktur geben Göschel, Herrmann, Penck, Theilmann und Lorenz ihrer Neugründung nicht. Aus gutem Grund: Wo kein Kopf die Verantwortung übernimmt, kann man ihn auch nicht abschlagen. Nach außen scheint am Obergraben 9 alles ganz zufällig zu geschehen. “Die Räume gehörten dem Göschel. Die erste Druckmaschine dem Herrmann. Gedruckt hat der Lorenz, die Organisation habe ich gemacht, und gearbeitet hat sonstjemand dort. Es gab nie einen Verantwortlichen”, erörtert Bernhard Theilmann. “Die hatten also niemand, den sie festnageln konnten. Deswegen haben sie die Obergrabenpresse nicht in den Griff bekommen. Es war alles nicht verboten, und es war auch alles nicht erlaubt.”(8)


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