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"Polkokow, Kaffka, Höderlein"Bürgerliche Literatur als Staatsverbrechen: Peter Bohleys Lesekreis in Halle von 1973 bis 1983Peter Bohley wirft seinen linken Fellhandschuh vom Balkon. Zielsicher, geübt, mit kurzem Schwung aus dem Handgelenk. Zuvor vergewissert er sich mit einem skeptischen Blick aus dem gardinenlosen Fenster, ob auch wirklich die erwarteten Gäste vor dem Mietshaus in der Friedensstraße 31 stehen. In seinem Lieblings-Fäustling, der sonst beim Wintersport gute Dienste leistet, steckt der Schlüssel für die Eingangstür, mit dem sich die vertrauten Besucher Einlaß verschaffen. Drei Treppen höher, im zweiten Stock, beginnt pünktlich um halb neun die wöchentliche Zeremonie. Eine Lesung literarischer Texte. Und zum intellektuellen Spaß werden die verschiedenen Rollen auf die rund zwanzig Gäste verteilt. Auf der basisdemokratisch abgestimmten Lektüreliste steht diesmal Franz Kafkas "Brief an den Vater". Ansonsten liest die Gruppe Proust, Shakespeare, Robert Walser. (1) Dramen, Lyrik, Prosa. Eine Reise durch die in der DDR schwer erhältliche bürgerliche Weltliteratur, deren Vortragsritual sich wie im Fall der "Josephs"-Trilogie von Thomas Mann schon mal über zwei ganze Jahre ziehen kann. 60-70 Seiten an einem Abend sind für die Runde ein guter Schnitt. Da die Frauen überwiegen, lesen sie vorwiegend Männerrollen, was den erotischen Reiz des Abends noch erhöht. Neben kontinuierlicher Anwesenheit setzen solche subtilen Genüsse eine ungestörte Atmosphäre voraus. Wer nicht spätestens um halb neun erscheint, muß deshalb geduldig sein. Säumige Leserunden-Mitglieder dürfen erst nach zwei Stunden in das behagliche Wohnzimmer hinein, wenn die gerade beendete Lesung, zu der ein guter Tee gereicht wird, in einen offenen Diskussionsabend mit Wein und Musik mündet. Nur eine Ausnahme ist erlaubt: Schwangere Damen dürfen früher gehen und später kommen. Ohne Zustimmung des Hausherrn, so gilt die verbindliche Abmachung, hat kein Fremder Zutritt. Es gilt das in der intellektuellen Subkultur typische Mentorenprinzip - jeder haftet für seinen Gast. "Wir waren mißtrauisch", begründet Peter Bohley, damals Dozent für Biochemie an der Hallenser Uni, seine Skepsis, "ich habe verlangt, daß ich Bescheid wußte, wenn jemand neue Leute mitbrachte."(2) Der private Sicherheits-Check mag für einen literarischen Salon aus heutiger Sicht stark überzogen scheinen, für die DDR-Situation der späten siebziger Jahre ist er schlicht ungenügend. Denn der "Freitags-Kreis", so heißt Bohleys literarischer Klub bei der Staatssicherheit, steht unter akutem Straftats-Verdacht. Insgesamt 70 Spitzel arbeiten an der "Zersetzung" des literarischen Freizeit-Bündnisses und seines Protagonisten, der im bekannten Hallenser Maler Ludwig Ehrler einen prägenden Mitgestalter findet. Angstfreie Kommunikation ist das elementare Motiv der kleinen Runde, sie umfaßt meist zwischen 12 und 20 Literaturinteressierte - darunter auch zahlreiche Doktoranden und Studenten aus Bohleys Fachbereich an der Universität. Am Donnerstag nachmittag hat der "Freitags-Kreis" einen kleinen Bruder - an diesem Tag werden die Kinder der Freunde in griechischer Mythologie unterrichtet. Ein Lehrstoff, der selbst in den Abiturklassen der DDR nicht zu finden ist. Die Intellektuellen des "Freitags-Kreises" wähnen sich in ihrem nonkonformen Kulturleben arglos sicher. Zwar stülpt Ehefrau Dorothea sicherheitshalber jedes Mal vor der Lesung den Kaffeewärmer über das Telefon, weil man dort die Abhör-Wanze vermutet. Doch ist die Methode reichlich naiv, wie auch die Bohleys inzwischen finden. Denn die Stasi, unterstützt von einem im Mietshaus lebenden Zuträger, scheut weder Aufwand noch Mühe und bohrt sich vom verstaubten Dachboden bis in die Zimmerdecke. Dort plaziert sie direkt über dem Wohnzimmer eine Abhöranlage. Ein Glück nur, daß Mielkes Tontechnik während des permanenten Undercover-Einsatzes so miserabel funktioniert: "Wenn in der Diskussion mehrere Leute durcheinander sprachen", erzählt Peter Bohley nach Sichtung der vorliegenden Abhörprotokolle, "hat die eingebaute Wanze schlichtweg versagt." (3) Dennoch verfügt die Hallenser Stasi-Bezirksverwaltung über genügend Material im Archiv, um am 17. Juni 1979 den Operativ-Vorgang "Ring" (4) gegen den unbequemen aber erfolgreichen Wissenschaftler zu eröffnen. Im verschachtelten Eröffnungsbericht heißt es über den Initiator der Leserunde: "Auf der Grundlage der erreichten Arbeitsergebnisse im Rahmen der operativen Personenkontrolle wurde herausgearbeitet, daß B. eine kontinuierliche systematische zielgerichtete politisch-negative Einflußnahme auf einen Personenkreis, welcher sich aus kirchlich sowie religiös stark gebundenen Personen, Angehörigen der medizin. und wissensch. Intelligenz (und - d.V.) Kunst- und Kulturschaffenden zusammensetzt, ausübt. B. organisiert in seiner Wohnung Zusammenkünfte, welche im Rahmen von Literaturabenden bzw. Buchlesungen genutzt werden, um gegen die gesellschafts-politischen Verhältnisse in der DDR unter Verwendung und Kommentierung westlicher Massenmedien aufzutreten. Es besteht der begründete Verdacht, daß B., der eine verfestigte politisch-negative Grundhaltung zur DDR und der gesamten sozialistischen Entwicklung hat, den Teilnehmerkreis zu staatsfeindlichen Aktivitäten durch diese zielgerichtete negative Einflußnahme inspiriert." (5) Dieses Kauderwelsch klingt harmloser als es ist. Immerhin versucht die Stasi-Abteilung XX/1 den Veranstalter wegen "staatsfeindlicher Hetze" und "staatsfeind-licher Gruppenbildung" (6) zu belangen. In beiden Fällen ist bereits der Versuch strafbar. Die maximale Strafhöhe beträgt 12 Jahre Haft. Daß er nicht hinter Gitter muß, weiß Peter Bohley nach dem Studium seiner gut zehn Kilo schweren Stasi-Akten, hat er lediglich zwei winzigen Enzymen zu verdanken - den Cathepsinen H und L. In der Universität Halle gelingt es ihm, Anfang der 70er Jahre als Leiter der achtzehnköpfigen Forschungsgruppe "Intra-zelluläre Proteolyse" jene beiden Proteasen weltweit zum ersten Mal zu verifizieren. Dadurch wird Peter Bohley, heute Dekan am Physiologisch-chemischem Institut an der Tübinger Universität, international bekannt. Zwar darf der Forscher, eine Koryphäe auf dem Fachgebiet "Eiweiß-abbau an der Zelle", an Kongressen im westlichen Ausland nicht teilnehmen, aber seine Reputation schützt ihn - zunächst. "Wir haben so viele erlebt, die ins Gefängnis mußten," sagt er, "daß ich mich eigentlich schäme, aufgrund eines solchen Glücksumstandes verschont geblieben zu sein." (7) Dabei ist Peter Bohley, Jahrgang 1935, der Staatsmacht bereits vor der Gründung seines Lesekreises ein Dorn im Auge. Die Bohleys gelten in Halle als lebender Beweis widerständiger Kraft, mit einigem Einfluß nicht nur in den intellektuellen Milieus der Saalestadt - Peters jüngerer Bruder Reiner leitet etwa das Evangelische Pro-Seminar in Naumburg, und Bruder Dietrich lebt als Maler im Prenzlauer Berg. Als ältester von sieben Brüdern, muß Peter Bohley den in den letzten Kriegstagen gefallenen Vater ersetzen. In der Familie wirkt ein pazifistischer Geist. Zivilcourage ist Alltag im offenen Bohley-Haus. Die Erfahrung des 17. Juni 1953 noch vor Augen, als in der Innenstadt von Halle ein Demonstrationszug von Russenpanzern auseinandergetrieben wird, versucht Peter Bohley auch nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 die für ihn mögliche Form des Protestes. Monatelang tragen die Bohley-Jungen, von der Mutter Margarethe in einer Art "gütigem Matriarchat" erzogen, schwarze Armbinden als Trauerflor. Wie alle seine Brüder verweigert Peter Bohley den Wehrdienst. Das konfrontiert die Familie schnell mit der Staatsmacht - Vernehmungen, politisch motivierte Exmatrikulationen, Gefängnisstrafen und die Ausweisung des Bruders Karl sind nur einige der angewandten Repressionsmaßnahmen. Karl Bohley wird Anfang 1977 verhaftet, weil er dem "Offizier vom Dienst" der Stasi-Bezirksverwaltung Halle am Telefon vorhält, mit "Blutgeld sein Einkommen" zu bestreiten. Der Familienclan hält trotz oder gerade wegen des enormen Außendrucks zusammen wie Pech und Schwefel: Nach der Urteilsverkündung im Prozeß gegen seinen Bruders Karl, der noch im selben Jahr nach einer halbjährigen Stasi-Haft ausgewiesen wird, berichtet ein verstörter Spitzel, "verließ der Bohley, Michael als erster das Gebäude und fuhr auf einem Fahrrad in Richtung Hauptpost - vom Fahrrad aus streckte er dem vor dem Gerichtsgebäude befindlichen Genossen Wirrwitz die Zunge heraus." (8) Dem Genossen Wirrwitz, welch treffender Name, einfach die Zunge herausgestreckt - ein verweiskräftiges Bild für die gelebte andere Kultur der Hallenser Familie. Gegen alle sieben Bohley-Brüder eröffnet die Staatssicherheit operative Verfahren - auch zwei der Schwägerinnen werden in separaten Operativ-Vorgängen "bearbeitet". (9) Eine von ihnen ist Bärbel Bohley, die später zur Jeanne d'Arc der Bürgerbewegung wird. Ein gewaltiger Apparat setzt sich in Bewegung, der in dem harmlosen Lesekreis von Peter Bohley das konspirative Lagezentrum vermutet. Doch die Fakten zum literarischen Freitagabend fließen eher spärlich. Peter Bohleys freundliche Lebensklugheit irrt sich nur in wenigen Fällen - es gelingt der Stasi nicht, enge Bezugspersonen der Familie in ihren Bann zu ziehen. "Ich habe die Menschen immer so behandelt", erzählt der 1974 habilitierte Wissenschaftler, "daß die sich hätten schämen müssen, wenn sie uns verraten." (10) Seine Maxime geht auf: 19 von der Stasi befragte Personen aus dem privaten und beruflichen Umfeld weigern sich, krude Spitzeldienste zu übernehmen oder wenigstens mit Informationen gefällig zu sein. Sie nehmen berufliche Nachteile in Kauf, um weiterhin mit erhobenem Kopf am intellektuellen Training des aufrechten Ganges teilzunehmen. Darunter auch Christoph Bergner, der heutige CDU-Fraktionschef im Landtag von Sachsen-Anhalt. Bergners abwehrender Satz "Ich eigne mich nicht als Spion!" findet sich mehrfach in Bohleys Akten. Für die Gleichgesinnten ist der Freitagabend gleichermaßen kraftsammelnde Abschottung wie therapeutische Gegenwehr. In einem Land mit einer "zerstörten öffentliche Sphäre der Geselligkeit", wie Bohley konstatiert, erscheint es ihm wichtig, ein hohes kulturelles Niveau bei den subkulturellen Treffen und Festen vorzugeben. "Unsere Erfahrungen besagten, daß reine Geselligkeit schnell nichtig wird. Der Hang zur prinzipiellen Kritik war in unseren Milieus größer als der zur konstruktiven Einflußnahme." (11) Das hat Ursachen: Zwischen den politisierten Formen staatsloyaler Kollektivkultur und dem blühenden Sumpf des proletarischen Kneipenlebens, wo man schon für 41 Pfennig ein dünnes Bier bekommt, gibt es für bildungsbürgerlich geprägte Interessen kaum Entfaltungsmöglichkeiten. Auch die Kirche kann den grassierenden Verlust kultureller Techniken im fortschreitenden Entbürgerlichungsprozeß der DDR nicht bremsen. Private Kreise, wie der von Bohleys, tragen deshalb auch schwer am überreizten Erwartungsdruck des Einzelnen, für den jene Runden oft die einzige Form unentfremdeten Austausches sind. Die staatlich vorgegebene Intellektuellen-Feindlichkeit äußert sich auch in der hypertrophen Observierungsstrategie. Für die ausgestreckte Zunge wird man sich schon irgendwann rächen, wegen des elitären Abschottens in Bohleys intellektueller black-box aber kocht das Tschekisten-Blut. Vor allem, wenn sich die abgehörten Literaturliebhaber noch solch sublimer Stilmittel wie Humor und Ironie bedienen. In den Abhörprotokollen wimmelt es von zugefügten Erklärungen wie "sie lachen laut" oder "das Wort ist ironisch gemeint." Da nichts substantiell Verwertbares nach außen dringt, um so üppiger blüht die Geheimdienst-Phantasie. Aus der literarischen Runde wird kühn eine verschwörerische Dissidenten-Schar konstruiert und das unterentwickelte Niveau der angesetzten MfS-Mitarbeiter zeigt sich, wenn der Protokollant etwa den in der DDR sehr bekannten Schriftsteller Bulgakow zu "Polkokow" macht. Da wirkt es fast verzeihlich, Kafka mit zwei f notiert zu sehen. Die Krone des Unverstandes hat jedoch eine unbekannte Stasi-Charge verdient - irritiert vermerkt sie in ihrem Abhörbericht: "Bohley liest wieder Höderlein." Ein Satz, der ziemlich genau die Grenze markiert, der die Kultur des Landes zunehmend in zwei unversöhnliche Hälften teilt. In der intellektuellen Runde geht die Entdeckung der Weltliteratur trotz aller Probleme weiter. Die Stimmung bleibt heiter, auch wenn einmal ein geladener Dirigent erfolglos versucht, seine vom Theater gewohnte Hierarchie in den Lesekreis einzuführen. Das Ansinnen, einen Maitre de plaisir zu küren, der allein über Lektüre und Vortragsart bestimmt, findet keine Unterstützung bei den Freunden, die lieber weiterhin gemeinsam über den Lesestoff entscheiden, auch wenn das mitunter zu geschmäcklerischen Reibungen führt. So wird Hermann Hesses "Glasperlenspiel" wegen offensichtlicher Nichteignung zum szenischen Lesen abgesetzt, und die Mehrzahl der Gruppe erklärt Joseph Roth zum Kultautor. In der scheinbar abgeschirmten Welt der Freunde "war Freiheit", weiß Peter Bohley. Aleksej Parin, ein russischer Biologe, der 1979 für längere Zeit in Halle auch bei den Bohleys weilt, beschreibt das nonkonforme Leben im Hause so: "In der baufällig gewordenen, durch die gemeinsame Wirkung von Chemie und Totalitarismus entstellten Stadt Halle fand sich eine echte Intelligenzia (in der russischen Bedeutung des Wortes), die nicht dem Druck des schrecklichen Spiels ‘Erniedrigung' nachgab, das in der gesamten DDR gespielt wurde. Es existierte ein Kreis von Menschen, die einander anhand von halben Worten verstanden, - dazu gehörten Naturwissenschaftler, Künstler, Musiker, Ärzte und Geistliche. Die Seele, das Zentrum dieses vielgestaltigen Zirkels unterschiedlicher, aber gleichgesinnter Personen war Peter Bohley, Professor der Biochemie, den seine Hausgenossen und Freunde einfach Pelle nannten, ein Mensch mit sehr weitem Horizont, ein Mensch von seltenem Zauber und seltener Güte, mit großer Zivilcourage. Es handelte sich nicht um einen Dissidentenzirkel - es waren einfach Menschen, die sich zu dem Prinzip Solschenizyn ‘nicht in der Lüge leben' bekannten, was ganz genau meinem Moskauer Kreis entsprach." (12) Seine fachliche Reputation und vor allem der volkswirtschaftliche Nutzen, den der Staat aus dem vitalen Forscher zieht, schützen Peter Bohley allerdings nur einige Zeit. Denunzianten gibt es nicht nur an der Hallenser Universität zuhauf. Ein Berliner Kollege, der kurz nach seinem Judasdienst Professor wird, schwärzt den in der Fachwelt auch wegen seines einnehmenden und offenen Wesens beliebten Enzymforscher direkt beim SED-Zentralkomitee an. In gewundenem Spitzeldeutsch gibt er vertrauliche Passagen eines Thekengespräches am Rande einer Tagung wieder. Er berichtet über angebliche Abwanderungspläne und Bohleys fundamentale Kritik am verkorksten Wissenschaftslevel des Arbeiter-und Bauern-Staates. Zu politischen Pikanterien aufgebauschte Gesprächsfetzen, die den Denunzianten dazu bringen, gleich die Lösung des Problems wohlfeil mit anzubieten: "Eine wissenschaftliche Karriere des Bohley", so argumentiert der neidische Kollege, "würde der DDR mehr schaden als nützen." (13) Solche obskuren und haltlosen Vorwürfe, deren dreiste Motivation schnell zu ergründen wären, machen Peter Bohley wirklich zum erklärten Sicherheitsrisiko. Lieber verzichtet die DDR-Industrie auf seine bahnbrechenden Forschungen als einen etwaigen Feind nicht zeitig genug zu entlarven. Staatssicherheit über alles: Um Bohley wissenschaftlich kaltzustellen, zerschlägt die willige und in Handlungsdruck geratene Universitätsleitung gleich das gesamte Forschungskollektiv. In einem Aktenvermerk vom 19. Januar 1979 notiert der bearbeitende Stasi-Hauptmann Büntig, verantwortlich für den "differenzierten Zersetungsprozeß" der Bohley-Gruppe, nach einer Absprache mit den Genossen der Universitätsleitung befriedigt das Klassenziel: "Die Stellung des Dr. Bohley im Institut wurde weiter geschwächt und er wird zur Bedeutungslosigkeit abgestuft." (14) Im Klartext: Die Forschungsgruppe wird von 18 auf 3 Mann dezimiert, die fachlich kompetentesten Wissenschaftler verlassen das Institut, und Peter Bohley wird fortan als zweitrangig eingestuft. So forscht sich die größte DDR aller Zeiten an die Weltspitze: "Durch die konsequente Realisierung aller Maßnahmen", so Hauptmann Büntig weiter, sei zu erwarten, "daß der Dr. Bohley zum gegebenen Zeitpunkt selbst das Institut verläßt." (15) Das dauert allerdings noch geraume Zeit, denn der mißliebige Dozent ist bei den Studenten ungeheuer beliebt. So beliebt, daß es nach der Erteilung des Lehrverbots zu Flugblattaktionen und selbst in den universitären SED-Gremien zu internen Protesten kommt. Als Begründung des Entzugs der Lehrerlaubnis gilt eine harmlose Passage in einem Vorlesungstext, den der Biochemie-Dozent seit zehn Jahren unbeanstandet über den Katheder bringt. Bohleys fragende Anmerkung, ob sich wahrer Humanismus nicht besser darin zeige, daß man knappes Geld lieber für fehlende Magensonden als für teures Kriegsgerät ausgeben sollte, bringt das randvolle Faß zum Überlaufen. Sein Nachsatz, von den Spitzeln stenografisch festgehalten, potenziert noch den Zorn seiner Gegner: "Es ist nicht wichtig, daß das mal einer in der Vorlesung sagt, sondern von mehr Leuten aktiv vertreten und auch an anderer Stelle darüber gesprochen wird." (16) Nach dem 1983 erteilten Lehrverbot, gegen das verschiedene Persönlichkeiten in Briefen an Honecker vergeblich Einspruch erheben, resigniert der agile Literaturfreund und anerkannte Eiweißforscher. Er stellt einen Ausreiseantrag. Wenige Tage später ist dieser bereits genehmigt, so schnell kann es gehen, wenn die DDR einen "Staatsfeind" vor die Türe setzen will. Familie Bohley verläßt am 6. Januar 1984 das Land. Der Stasi-Beobachtungsbericht über die endgültige Abfahrt vom Hallenser Hauptbahnhof ist ein Dokument des gesellschaftlichen Niedergangs: "11.02 Uhr fuhr der D-Zug in Rtg. Magdeburg vom Bahnsteig 12 ab. Die Bohley`s winkten den Personen zu und riefen mehrere Male "tschüß", bis der Zug aus dem Bahnsteig ausfuhr. Demonstrativhandlungen wurden von den Personen welche zur Verabschiedung erschienen waren, nicht durchgeführt. Andere Passanten nahmen keine Notiz von den Bohley`s und den dazugehörigen Personen." (17)
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