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Schiffstaufe auf der SandbankKopf hoch, Land unter: Gerd Harry Lybke gelang in Leipzig mit seiner inoffiziellen Galerie Eigen+Art ein beispielloses NavigationskunststückGerd Harry Lybkes Lieblingsbegriffe entstammen vorzugsweise der christlichen Seefahrt. Dabei kann man ruhig unsicher sein, ob der permanent frohgelaunte Inhaber der Galerie Eigen+Art eigentlich ein gültiges Freischwimmerzeugnis hat oder sich wenigstens einen brachialen Hopser vom 3-Meter-Brett traut. Egal: Immer wenn Lybke über sein junges Lebenswerk philosophiert, meist in einer Art vergnüglichem Euro-Sächsisch, wimmelt es in seiner Rede von über Bord gegangenen Matrosen, riskanten Kurswechseln und rätselhaften Logbüchern. Wer in dieser imaginierten Nautik-Welt allerdings Kapitän auf der Brücke ist, daran läßt er keinen Zweifel. Ich wußte immer schon, daß es zwei Schiffe gibt, orakelt der drahtige Kultursachse über den privaten Entscheidungsdruck nach der Wende: Ein Schiff ist untergegangen, also schwimmst du zum nächsten rüber. Dort sind alle Positionen vom Steuermann bis zum Kapitän bereits besetzt. Jetzt mußt du sehen, ob es eine Lücke gibt und dann machst du das! (1) Vom Kajütenjungen zum Großadmiral in dieser pragmatischen Standortbestimmung, deren Lakonie vielen Ostdeutschen geradezu kalte Schauer über den Rücken jagt, steckt genau jene Mischung aus originärer Hybris und aktionistischem Duzton, die ihn innerhalb von wenigen Jahren zum international erfolgreichen Galeristen macht. In der Tat besitzt Gerd Harry Lybke, der seinen Spitznamen Judy am liebsten als vielstimmiges Medienecho hört, ein zumindest für ostdeutsche Verhältnisse fast beispielloses Kommunikations- und Navigationstalent. Immerhin gelingt ihm die Schiffstaufe auf der kulturellen Sandbank: 1983 gründet er in seiner Dachwohnung am Leipziger Körnerplatz die Galerie Eigen+Art. Fotos von der ersten Exposition, die Judy noch gemeinsam mit seinem Freund Thorsten Schilling ausrichtet und unverstellt ambitioniert Die neuen Unkonkreten nennt, zeigen ihn als Möchtegern-Bohemien. Bartstoppelig, mit Bademantel und Turnschuhen bekleidet, nimmt er die subkulturelle Typenparade ab sichtlich erfreut über die Bedeutung, welche man dem gerade 22jährigen Galeristen plötzlich entgegenbringt. Das ist es, weiß er sofort. Man ist wer. Zumindest habe ich seitdem monatlich ein Foto von mir.(2) Über Kunst zu sprechen, wäre etwas verfrüht. Zwar hängen an den Wänden irgendwelche Phantasieprodukte in wackligen Holzleistenrahmen und auf dem Kachelofen kippelt eine Leninbüste aus Gips. Doch der Vordenker des Weltproletariats trägt eine Schiffchenmütze aus gefaltetem ND-Papier, und in seiner Nähe baumelt ein zur Schlinge gebundenes Wäscheseil. Solche plumpen Politinstallationen erspart Lybke später seinen zahlreichen Gästen. Doch die heitere Introduktion täuscht: Privatgalerist ist in der DDR nicht gerade ein Wunschberuf. Die Verbote und Repressionen gegen die Erfurter Galerie im Flur, die Wohnungsgalerie von Ingrid und Dietrich Bahß in Magdeburg, den Ostberliner Hinterhof-Galeristen Jürgen Schweinebraden oder die Clara-Mosch-Galerie in Karl-Marx-Stadt sind auch dem optimistischen Youngster nicht unbekannt(3). Der autodidaktisch gebildete Kunstfreund, Jahrgang 1962, geht trotzdem den Schritt ins Risiko. Aus Langeweile, sagt er heute sibyllinisch, wohl weil der Fernseher kaputt ging.(4) Doch bevor Lybke sich zum Galeristen ernennt, läuft nicht die Glotze heiß, sondern sein Vorgesetzter. Als Mitarbeiter beim Rat des Stadtbezirkes Südost, Abteilung Kultur, wird Judy nach fast zweijähriger Tätigkeit 1983 fristlos entlassen. Zuständig für kulturelle Massenarbeit liberalisiert er die Programme einiger Jugendklubs derart ins kulturpolitisch Uferlose, daß sein Rausschmiß fast folgerichtig erscheint. Dies ist indes nicht die erste Sozialisationspanne in seiner staatsbürgerlichen Biografie. Nach einer Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenmonteur an den Leipziger Kirow-Werken sorgt Lybke schon einmal für Aufruhr in der Kaderabteilung. Gerd Harry gibt seinen Studienplatz für Atomkraftwerkstechnik zurück. Der Grund: Der Beatnik-Fan scheut einen im Studienverlauf vorgesehenen mehrjährigen Aufenthalt in der Sowjetunion. Wodka in 100-Gramm-Bechern und permanente Balalaika-Klänge statt der gewohnten Stones-Sounds sind für ihn kein zahlbarer Preis für eine zweifelhafte Kybernetiker-Karriere. Gerd-Harry Lybke jobbt sich lieber erst einmal durchs Aussteiger-Leben etwa als Schokoladenapfel-Verkäufer und unterbezahlter Lademeister bei der Post. Zwischendurch liebäugelt er mit der Schauspielschule. Für subkulturell vorgeprägte Typen wie Judy er präsentiert zudem in dieser Zeit stolz mehrere Zahnlücken ist allerdings kein Bedarf. Eine krasse Fehlentscheidung, denn am Poetischen Theater der Leipziger Universität läuft der Freizeitmime wenig später in mehreren Inszenierungen zu Bestform auf. Da die Türen der städtischen Schauspielschule für ihn verschlossen bleiben, sorgt der agile Sachse notgedrungen für sein eigenes Theater und avanciert zum begehrten Aktmodell an der Kunsthochschule ein Job, mit dem er trotz des ermüdenden Hosen-rauf-Hosen-runter fast fünf Jahre seine Brötchen verdient.
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