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Das ist die Rückkehr der germanischen Oberschicht,
deren Gegensatz zur Unterschicht jetzt identisch ist mit dem nationalen
Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich. Es sieht so aus,
als sei damit das Ideal von der Aristokratie der Nationen, wie
Rathenau es in Von Schwachheit, Furcht und Zweck formuliert
hatte, ein Stück weit seiner Verwirklichung näher gekommen,
da jetzt das ganze Volk an der die Oberschicht auszeichnenden
Tugend teilhat. Für Deutschland glaubte Rathenau deshalb
»ein veredeltes, ernst und froh geheiligtes Leben« voraussehen
zu können, in dem »das große, aller Veredelung
zugrunde liegende Gesetz (...) in besonderer Erscheinung zutage«
treten werde: »was ursprünglich aus Gier und Furcht
geschah, geschieht aus innerlichem Bewußtsein. Arbeit wird
nicht Selbstzweck, aber Menschenpflicht; Lohn und Strafe, Gewinn
und Gefahr verblassen, die Aufgabe besteht. Da nun die Aufgabe
Sache der Gemeinschaft ist, so folgt die Solidarität des
Werkes und der Ziele. Nicht eine gesetzliche Zwangsanstalt, die
den Starken und Begabten zwingt, die Früchte seines Lebens
widerwillig auszuliefern, damit Schwache und Unbefähigte
Muße finden, ihn durch Mehrheit zu beherrschen; nicht ein
falscher Altruismus, der paarweise den Gesunden für den Kranken
opfert.«66
Das ist das Ideal einer formierten Volksgemeinschaft, in der eine
zur Führung berufene Elite intuitiv schaffender »Häupter
großer Gesellschaftsunternehmungen« sich mit den Geführten
in seelenvoller Einheit verbunden weiß auch gegen seelenlose
Nachbarvölker. Hier dürfte der mythologische Aspekt
von Walther Rathenaus Plänen eines unter deutscher Führung
geeinten Mitteleuropa liegen.
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Es wäre also höchst einseitig, Walther Rathenaus Veröffentlichungen
ausschließlich als Versuche der Selbstverständigung
zu lesen, für die er sich der Geschichte als Material seines
Privatmythos von »Entgermanisierung«, »Volksverdichtung«,
»Mechanisierung« und »Geburt der Seele« bediente.
Seine Theorien hatten sich im Laufe der Jahre in gewissem Maße
von ihrem persönlichen Entstehungszusammenhang gelöst,
ohne ihn allerdings je vollständig verleugnen zu können.
Auf der anderen Seite war er von Anfang an mit dem Anspruch aufgetreten,
die historische Situation zunächst des jüdischen Bürgertums
im besonderen, dann des deutschen Bürgertums im allgemeinen
im Rahmen einer universalhistorischen Theorie darzustellen, aus
der sich für die Zukunft weniger Forderungen ableiten ließen,
die erfüllt werden konnten oder auch nicht, als vielmehr
Prognosen, deren Verwirklichung durch eine fast naturgesetzliche
Notwendigkeit garantiert schien.
Fußnoten
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