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Archäologie geht
aus von sichtbaren Überresten der menschlichen Vergangenheit. Zwar
wurden diese volkstümlich auch als "selbstgewachsen" oder als Werke von
"Riesen" gedeutet, doch überwog die "menschliche" Interpretation. Schon
in der frühen Neuzeit wurden sie den örtlich jeweils ältesten der in den
antiken Quellen genannten Völker zugeschrieben, so die 1708 auf Anweisung
des Landgrafen Karl von Hessen in der Maderheide bei Gudensberg ausgegrabenen
schnurkeramischen Grabhügel vom Marburger Professor J. H. Schmincke den
Chatten. Obwohl er diese als einen der "berühmtesten Stämme" der Germanen
bezeichnet, finden sich weder bei Schmincke noch bei seinen Zeitgenossen
Formulierungen, die nationalistisch genannt werden könnten. Als "Geisteshaltung",
"die seit der Französischen Revolution in steigendem Maße Allgemeingut
der Menschheit geworden ist" (H. Kohn 1944/62, 17), hat der Nationalismus
zwar eine lange Vorgeschichte, politisch und geistig wirksam wurde er
erst durch Revolution und Romantik.
Sprach- und Geschichtswissenschaften standen anfänglich im Mittelpunkt
dieser Bewegung, jedoch bald gemäßigt durch Quellenkritik und philologische
Methoden. Die Archäologie hatte zunächst wenig Anteil daran. Noch 1824
schrieb Johann Gustav Gottlieb Büsching, Professor für "geschichtliche
Hilfswissenschaften und deutsche Altertümer" in Breslau: ". . .wird es
vielleicht einst möglich, wenn auch nicht die einzelnen Stämme, doch die
Hauptstämme, Deutsche und Slawen, in den Altertümern voneinander zu sondern".
Erst 1872 hat der universale Gelehrte Rudolf Virchow eine keramische Gattung
den Slawen zugewiesen und dabei nicht nur deren räumliche Abgrenzung,
sondern auch die zeitlichen Unterschiede betont, die sie von der Keramik
eines "anderen Typus" trennen.
Welche Emotionen mit solchen Zuweisungen verbunden sein konnten, hat Theodor
Fontane in seinem 1878 erschienenen Roman: "Vor dem Sturm" beschrieben,
wo im 13. Kapitel: "Der Wagen Odins" vom Justizrat Turgany den Slawen,
vom Pastor Seidentopf den Germanen zugewiesen wird. Dieser heute im Heimatmuseum
von Neuruppin gezeigte bronzene "Deichselwagen" aus dem 9./8. Jahrhundert
v. Chr. wurde zwar 1848 in Drossen in der Neumark gefunden, aber die von
Fontane in den Winter 1812/13 verlegte Diskussion wäre damals wohl noch
nicht möglich gewesen. Um die Mitte des Jahrhunderts waren nationale Zuweisungen
von archäologischen Funden dagegen bereits üblich - und nicht selten umstritten.
In Südwestdeutschland und in der Schweiz war es vor allem der Streit zwischen
"Keltomanen" und "Germanomanen", der erbittert ausgefochten wurde. Dabei
spielten soziale Unterschiede eine besondere Rolle: In Frankreich wurde
schon im frühen 18. Jh. die Meinung vertreten, die Kelten seien von der
römischen Herrschaft durch die Franken befreit worden. Der auf seine "fränkische"
Tradition stolze französische Adel fand darin eine Legitimation, ein Verhältnis,
das in der französischen Revolution umgekehrt wurde - als Aufstand der
unterdrückten "Kelten" gegen eine fränkische Herrenschicht. So fühlten
sich auch schweizerische und südwest-deutsche Demokraten eher den Kelten
verbunden, und erst als auch die Germanen als "freie Bauern" demokratisiert
waren, verloren solche Argumente an Bedeutung. Für einige Jahrzehnte spielte
auch der Streit um das "Drei-Perioden-System" - d. h., die Abfolge von
Stein-, Bronze- und Eisenzeit - eine Rolle, da die Bronzen den Kelten
zugewiesen wurden und sogar behauptet wurde, "das Erz sei älter als der
Stein, um den Kelten, es koste was es wolle, das Recht der Urbevölkerung
zu wahren". Andererseits hatte "man das, was vom Westen her den Deutschen
übrig gelassen wurde" - "im Osten unseres Vaterlandes" - "für die Slawen
in Anspruch genommen, so dass also unsere Vorfahren ziemlich enterbt dastehen"
- so die Brüder W. und L. Lindenschmit in ihrem 1848 erschienenen Buch:
"Das germanische Totenlager bei Selzen" mit dem Motto auf der Titelseite:
"Die Gräber mit Eisenwaffen stammen aus der Zeit der Völkerwanderung".
Solche Streitereien erscheinen uns heute schwer nachvollziehbar, denn
es ist uns wohl kaum bewusst, dass damals die zeitliche Dimension der
Menschheitsgeschichte noch unerschlossen war. Die "offizielle" kirchliche
Lehre ging von der Bibel aus, wonach die "Erschaffung der Welt" zwischen
6984 und 3509 vor Christi Geburt stattfand, jedenfalls nach schon 1678
von Gabriel Bucelin zusammengestellten Berechnungen vieler Theologen.
Mystiker wie Jakob Boehme und Aufklärer wie Voltaire nahmen die biblische
Überlieferung nicht so wörtlich, aber erst 1858/59 geschah der entscheidende
Durchbruch: Die damals führenden britischen Geologen, Anthropologen und
Archäologen bestätigten die These des Zolldirektors von Abbeville J. Boucher
de Perthes, dass Menschen schon Zeitgenossen "antediluvialer" d. h. "vorsintflutlicher"
Tiere waren, und Charles Darwin veröffentlichte sein Buch: "On the Origin
of Species", das bahnbrechende Werk der Entwicklungslehre.
Dadurch erst eröffnete sich die zeitliche Tiefendimension, in die archäologische
Überreste eingeordnet werden müssen. Droysen, Ranke und Mommsen hatten
damals ihre Hauptwerke schon geschrieben, Karl Marx seine Geschichtsphilosophie
gefunden. Zwar waren die Funde von Hallstatt und Laténe, die "Pfahlbauten"
und der Neandertaler schon entdeckt; doch war es jetzt erst möglich, die
Fundmaterialien ohne religiöse Skrupel zeitlich zu ordnen. Am leichtesten
fiel dies der skandinavischen Forschung. Dort hatte Christian J. Thomsen
seit 1816 das Kopenhagener Museum aufgebaut, die archäologischen Funde
nach dem Dreiperiodensystem geordnet und dies 1836/37 publiziert. Sein
Schüler und Nachfolger J. J. A. Worsaae hatte dieses System verfeinert
und schon 1846 eine Schrift: "Die nationale Alterthumskunde in Deutschland"
veröffentlicht, in der es am Anfang heißt: "Während ehedem die Aufmerksamkeit
der Alterthumsforscher besonders, ja fast ausschließlich, nur auf die
griechische, oder römische Vorzeit gerichtet war, scheint jetzt immer
mehr das Bestreben hervorzutreten, dieselbe zugleich auf die nationalen
Denkmähler des Alterthums in den verschiedenen Ländern Europa's hinzuwenden.
Die Ursache hiervon muss man zunächst in den kräftigen, nationalen Bewegungen
suchen, welche in diesem Jahrhundert sich lebhaft sowohl bei den deutschen,
als auch bei den slawischen Völkern äußern. Mit einem hohen Selbstgefühl
der Völker ist ein stärkerer Drang erwacht, diejenige Zeit zu kennen,
da sie ungemischt waren und nicht unter dem Einfluss der griechischen
und römischen Cultur standen, da also die Eigenthümlichkeit bei jedem
Stamme noch in ihrer ursprünglichen Reinheit hervortreten musste." Es
ist wohl kein Zufall, dass auch weitere skandinavische Forscher wie Hans
Hildebrand, Oscar Montellus, Sophus Müller und I. Undset besonders für
die zeitliche Ordnung der Funde grundlegendes geleistet haben; die nationale
Frage spielte für sie keine wesentliche Rolle mehr. Sie fühlten sich als
Germanen, die ihren bronzezeitlichen Vorfahren unmittelbar verbunden waren.
In Deutschland war die Archäologie durch Johann Joachim Winckelmann zwar
vorwiegend als Kunstgeschichte der Antike geprägt worden, doch hatte Alexander
Conze schon seit 1870 den geometrischen Stil altgriechischer Vasen bis
in seine norddeutsche Heimat zurückverfolgt und an indogermanische Zusammenhänge
gedacht. So konnten auch jene, die sich ihrer "barbarischen" Vorfahren
schämten, mit Stolz ihrer altgriechischen "Ahnen" gedenken. Was Italien
betrifft, so hatte Theodor Mommsen in seiner "Römischen Geschichte" geschrieben,
es sei "auffallend arm an Denkmälern der primitiven Epoche". Das weckte
natürlich gerade im neuerstandenen Nationalstaat Italien neue Kräfte,
so dass der klassische Archäologe Adolf Michaelis noch mehr als ein halbes
Jahrhundert später fast bedauernd feststellte: "Unter dem herrschenden
Einflusse Luigi Pigorinis haben sich etwa seit 1870 die jüngeren Archäologen
Italiens fast ganz der prähistorischen Forschung ergeben." Pigorinis Beitrag
zur Methode ist außerhalb Italiens leider wenig beachtet worden. Die zeitliche
Gliederung der Funde war am Ende der 80er Jahre für die Steinzeit vor
allem durch französische, die Bronzezeit durch skandinavische Forscher
und die Eisenzeit besonders durch den in Königsberg wirkenden Otto Tischler
(+ 1891) in den Grundzügen geklärt.
Da trat der damals fast 38 Jahre alte Gustav Kossinna in einem am 9. 8.
1895 gehaltenen Vortrag: "Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen"
selbstbewusst als Verkünder eines neuen Forschungsparadigmas auf. Er begann
mit den Worten: "Wenn ich den Versuch wage, die vaterländische Archäologie
mit der Geschichte in Verbindung zu bringen und den durch die Arbeit unseres
Jahrhunderts aufgesammelten reichen Funden aus heimischem Boden gleichsam
ihre Subjektlosigkeit zu nehmen, so hat mich dazu nicht zum mindesten
der Umstand veranlasst, dass die Archäologen der Keltenfrage, die wie
alle ethnographischen Fragen und Ausdeutungen in ihren Kreisen ein Vierteljahrhundert
geflissentlich und mit gutem Grunde beiseite gesetzt worden war, sich
neuerdings wieder energischer zuwenden. Die Rückseite der Keltenfrage
ist für Deutschland die Germanenfrage. Wir fragen darum allgemeiner: Wo
haben wir es im heutigen Deutschland in vorgeschichtlicher Zeit mit Germanen,
wo mit Nichtgermanen zu thun?" Anschließend behandelte er kritisch die
bisherigen sprachwissenschaftlichen Versuche, die alteuropäischen Völker
- Germanen, Kelten und Slawen - voneinander abzugrenzen, um mit einer
Übersicht des durch archäologische Forschungen gewonnenen Bildes fortzufahren.
Dabei ging er nicht von einer weitgehend hypothetischen "Urzeit aus vorwärts,
sondern als richtige Seiler lieber rückwärts, indem wir den Faden möglichst
an die Enden der Geschichte und Sprachforschung anknüpfen" - eine Methode,
die in den USA als "direct historical approach" bezeichnet wird und schon
in Friedrich Schillers Jenaer Antrittsvorlesung von 1789 beschrieben wurde.
Kossinna schloss mit den Worten: "Deutsches Volkstum und deutsche Kultur
haben in ihrer kraftvollen Überlegenheit es nicht nötig, zur Stütze weiterer
Ausdehnung oder gar zur Sicherung ihres Bestandes auf die Besitztitel
vorgeschichtlicher Jahrtausende zurückzugreifen, wie das andere Nationen
nicht ohne Vergewaltigung der geschichtlichen Thatsachen gethan haben.
Uns Deutsche und mit uns alle anderen Glieder germanischen Stammes kann
es aber nur mit Stolz erfüllen und bewundern müssen wir die Kraft des
kleinen nordischen Urvolkes, wenn wir sehen, wie seine Söhne in Urzeit
und Altertum ganz Skandinavien und Deutschland erobern und im Mittelalter
über Europa, in der Neuzeit über ferne Erdteile sich ausbreiten."
Rückschauend liest sich das nationalistischer, als es damals gemeint sein
mochte. Noch 1908 nannte Kossinna Westeuropa als Indogermanenheimat. Erst
um 1912 wurde er zum "völkischen" Nationalisten. Dazu führte wohl der
Titel eines Vortrags von 1911: "Die deutsche Vorgeschichte, eine hervorragend
nationale Wissenschaft", 1912 zuerst veröffentlicht und in mehreren Neuauflagen
erweitert. Die Formulierung "af fremragende national Betydning" findet
sich zwar schon 1894 in einer dänischen Publikation, aber Kossinna wollte
wohl eher die 1910 aus einer Debatte in der französischen Deputiertenkammer
übersetzte Behauptung, die Vorgeschichte sei "eine hervorragend französische
Wissenschaft" internationalisieren (Anlass zu dieser Debatte war der Erwerb
von Funden, die der Schweizer Otto Hauser in der Dordogne gemacht hatte
- besonders die Schädel von Le Moustier und Combe Capelle - für das Berliner
Museum!). Die Wirkung des Titels führte in andere Richtung. Der zwar geachtete
Gelehrte, der sich aber einem in der damaligen wissenschaftlichen Welt
noch nicht etablierten Fachgebiet widmete und deshalb "beamteter außerordentlicher
Professor für Deutsche Archäologie" blieb, fand dadurch offenbar eine
Beachtung, die er bis dahin vermisste. Dies muss auch im Rahmen der schon
1890 einsetzenden Diskussion um die Reform des höheren Schulwesens gesehen
werden. Es ging damals um die Einschränkung oder gar Ablösung des griechisch-humanistischen
Bildungsideals zugunsten germanisch-deutschen Nationalbewusstseins. Persönliche
Aversionen gegenüber damals führenden "klassischem" Archäologen kamen
hinzu. Das gilt besonders für das Verhältnis zu Carl Schuchhardt (1859-1943),
der 1908-1925 Direktor der Vorgeschichtlichen Abteilung am Berliner Völkerkundemuseum
war. Als Hannoveraner und durch das Studium weniger "preußisch" geprägt
als Kossinna, als geistreicher Redner und Autor, Gesprächs-, später Briefpartner
Wilhelms II., erreichte Schuchhardt auch andere Gesellschaftsschichten.
Als einer der Pioniere systematischer Ausgrabungstechnik hat er auf andere
Weise weitergewirkt als Kossinna, der von den Funden in Museen und Sammlungen
ausging, um es typologisch, zeitlich und räumlich zu gliedern. Bei der
Interpretation archäologisch fassbarer "Kulturen" als Stämme und Völker
unterschied sich Schuchhardt nur in einigen Zuweisungen von Kossinna,
war sogar im Falle der bronze- und früheisenzeitlichen "Lausitzer Kultur"
die er den germanischen Semnonen zuwies, "nationalistischer" als dieser,
der sie zunächst für thrakisch hielt, später als illyrisch bezeichnete.
Dass Kossinnas polnischer Schüler Jozef Kostrzewski und dessen Posener
Schule dieselbe Kultur als slawisch bezeichneten, zeigt, dass die Diskussion
in Fontanes Roman von 1878 weiterlebte.
In diesem Zusammenhang ist auch Kossinnas Schrift: "Die deutsche Ostmark
ein Heimatboden der Germanen" von 1919 - später unter dem Titel: "Das
Weichselland ein uralter Heimatboden der Germanen" erschienen - zu sehen.
Der Anlass waren polnische Begründungen für die Versailler Grenzziehung,
die er für "geschichtliche Irrtümer und Fälschungen" hielt, obwohl er
betonte "die wirklichen Machtverhältnisse" seien entscheidend. Bei scharfer
Abgrenzung gegenüber Osteuropa habe "die deutsche Zivilisation und Kultur"
ein westeuropäisches Gepräge gezeigt, was durch die Berufung auf das Merowinger-
und Frankenreich begründet wird.
Als akademischer
Lehrer und Autor grundlegender Fundanalysen wirkte Kossinna vor allem
durch die konsequente Herausbildung von archäologischen "Kulturgruppen"
in Raum und Zeit, die er als Überreste von "Völkern" und "Stämmen" interpretierte.
Damit gab er der archäologischen Forschung ein "historisches" Paradigma,
das weit über den deutschen Wissenschaftsbereich hinaus wirkte. Das gilt
besonders für den bedeutenden britischen Archäologen australischer Herkunft
V. Gordon Childe (1892-1957), der trotz seiner Nähe zum marxistischen
Evolutionismus die archäologische Begründbarkeit von "Wanderungen" positiver
annahm als mancher kritische Anhänger Kossinnas in Deutschland. Alle nationalen
Bewegungen, die schon im 19. Jahrhundert wachsende Bedeutung erlangten,
blickten mit Stolz auf eine große Vergangenheit zurück. Die "Ahnen" wurden
zu Vorbildern, um so mehr, als "moderner Fortschritt" sich mit Internationalem
verband. In der Zeit der Weimarer Republik wuchs das Interesse an der
"Heimischen Archäologie". Die Zahl der hauptamtlichen Wissenschaftler
stieg - im ganzen Reich - von ca. 20 auf ca. 50-60, von denen höchstens
die Hälfte einen Studienabschluss im Fach Vor- und Frühgeschichte hatte.
Erst 1927 wurde der erste planmäßige Lehrstuhl für das Fach in Marburg
bewilligt und 1928 durch den Österreicher Gero v. Merhart (1886-1959)
besetzt. In Berlin war Nachfolger Kossinnas ab 1927 Max Ebert (1879-1929)
als persönlicher Ordinarius. Auch die sogenannte Bodendenkmalpflege -
bis dahin meist ehrenamtlich bzw. nebenamtlich von Museumsbeamten betrieben
- wurde ausgebaut bzw. verselbstständigt - dies vor allem in den preußischen
Ostprovinzen, denn im benachbarten Polen hatte die prähistorische Forschung
besondere Förderung gefunden. Einer ihrer führenden Vertreter, L. Kozlowski,
war sogar zeitweise Ministerpräsident. Betont nationalistisch war jedoch
die schon genannte Posener Schule des Kossinna-Schülers Jozef Kostrzewski,
der ähnlich wie sein Lehrer als starke Persönlichkeit und durch imponierende
Beherrschung des Fundstoffs weit über seinen engeren Schülerkreis hinaus
wirkte. Auf deutscher Seite fehlte es ebensowenig an nationalistischem
Pathos, wobei zu berücksichtigen ist, dass das außenpolitische Verhältnis
zu Polen während der Weimarer Republik gespannter war als das zur Sowjetunion.
Als sich die deutsch-polnischen Beziehungen zwischen 1934 und dem Frühjahr
1939 verbesserten, wurden diese Auseinandersetzungen unterbunden.
Das mag paradox erscheinen, denn gerade zwischen 1933 und 1937/38 war
die "Nationalsozialistische Weltanschauung" besonders von "völkischen"
Tendenzen bestimmt. Mit der Welle nationaler Begeisterung wurden die nordisch-germanischen
Vorfahren zu hehren Lichtgestalten verklärt, Karl der Große zum "Franken"
oder gar "Sachsenschlächter", das Christentum germanisiert oder durch
den "Glauben der Nordmark" ersetzt. Der NS-Schulungsbrief war 1933 der
"Rasse" gewidmet, 1934 der deutschen Vorgeschichte. Eine große Zahl von
Büchern und Broschüren meist bisher unbekannter fachfremder Autoren sollte
alte Bildungslücken füllen und in zottige Felle gehüllte, Met trinkende
Theatergermanen zu Helden verklären.
Da Hitler jedoch eine Vorliebe für die Architektur der klassischen Antike
und deren Nachwirkungen hatte, förderte er lieber die Ausgrabungen in
Olympia. Seine "völkischen" Anhänger fanden nur wenige Äußerungen, auf
die sie sich berufen konnten. Es war zunächst der für die weltanschauliche
Schulung zuständige "Reichsleiter" Alfred Rosenberg (1893-1946), der die
deutschen Prähistoriker unter der Führung des 1931/32 zur NSDAP gestoßenen
Hans Reinerth (1900-1990) im "Reichsbund für deutsche Vorgeschichte" gleichschalten
wollte. Reinerth war seit 1934/35 Ordinarius in Berlin, stieß aber bald
auf starken Widerstand - nicht zuletzt, weil er sich als Nachfolger und
Vollender des Werkes Kossinnas fühlte, zu dem er zu dessen Lebzeiten keinerlei
engere Verbindung gehabt hatte. Als Gegenmacht gegenüber dem "Reichsbund"
fand sich allmählich eine größere Zahl von Prähistorikern im 1935 gegründeten
und von Heinrich Himmler (1900-1945) dominierten "Ahnenerbe" zusammen.
Ab 1938 war die "völkische" Ideologie mehr und mehr durch die "reichische"
abgelöst, die engere Begrenzung auf deutschtümelndes Germanentum zugunsten
großräumiger Machtstrukturen abgelöst worden. Ab 1943/44 wurden fast alle
archäologischen Aktivitäten eingestellt. Die völkischen und großgermanischen
Ideologien gingen im totalen Krieg unter.
Nach 1945 trat die Erforschung früher "germanischer" Kulturen in der Bundesrepublik
Deutschland stark zurück. Meistens war von "Jastorf-Kultur" usw. die Rede.
Selbst die Abgrenzung der Stammesgebiete innerhalb der merowingerzeitlichen
"Reihengräberzivilisation" wurde eher beiläufig behandelt. "Ethnische"
Probleme wurden dagegen von der "Kelten-Frage" ausgehend aufgeworfen,
wobei die Abgrenzung nach Norden mehrfach durch "Zwischenzonen" bezeichnet
wurde, da "scharfe" Grenzen nicht erkennbar waren. Vor allem aber verdrängte
die systematische Untersuchung des Siedlungswesens - besonders der Steinzeit
- die Kulturgruppenforschung als zentrales Forschungsparadigma. Für die
Bronzezeit gilt ähnliches, da dort die Typenanalyse besonders gepflegt
wurde. In der DDR war es in den 60er Jahren die Archäologie der frühmittelalterlichen
Slawenstämme, die besonders gefördert wurde. In den 70er und frühen 80er
Jahren erschienen zusammenfassende Arbeiten über die Germanen, traten
dann aber immer stärker hinter ideologisierenden Erörterungen zurück.
Im benachbarten Polen wurde bei J. Kostrzewski und dessen Schüler K. Jazdzewski
das "nationale" Paradigma der Forschung im Sinne einer slawisch-polnischen
Kontinuität in Mitteleuropa seit der Bronzezeit weiterentwickelt. In der
CSSR, wo die archäologische Forschung nach dem Kriege zunächst eine Blütezeit
erlebte, fanden entsprechende Theorien keine Resonanz. Nur den archäologischen
Zeugen des frühmittelalterlichen "Großmehrischen Reiches" als des vermeintlich
ersten gemeinsamen "Staates" der Tschechen und Slowaken, galt besondere
Aufmerksamkeit. In Rumänien suchte man in großen "Daker"-Ausstellungen
die nationale Identität möglichst weit zurückzuverfolgen - worauf Bulgarien
mit "Thraker"-Ausstellungen folgte.
Außerhalb Europas sei nur auf wenige Beispiele verwiesen. In Mexiko zeigen
besonders eindrucksvoll der "Platz der drei Kulturen" und das archäologische
Nationalmuseum in der Hauptstadt das Bemühen um nationales Kontinuitätsbewusstsein,
trotz schärfster Einschnitte in der Geschichte des Landes. In China wird
- im Vergleich zu Mexiko - die Perfektion der Ausstellungstechnik im historischen
Museum am Platz des Himmlischen Friedens zwar nicht erreicht, der Besucher
wird jedoch von den Räumen, die der Steinzeit gewidmet sind, scheinbar
bruchlos zu den historischen Perioden geleitet. Vorgeschichte und Geschichte
bilden ein Kontinuum. Dazu passt, dass die archäologische Forschung während
der "Kultur- revolution" nicht unterbrochen, sondern eher gefördert wurde,
was große Ausstellungen in aller Welt zeigten.
In Afrika, wo "völkisch" begründeter Nationalismus das junge Staatensystem
zerstören würde - weshalb die meisten Staaten nach Flüssen, Bergen, Seen
oder Wüsten benannt wurden - gibt es seit 1980 einen Staat, der sich nach
seiner größten Ruinenstätte nennt: Simbabwe. Dies aber wohl auch deshalb,
weil keine der heutigen Stammesgruppen sich direkt auf die einstigen Erbauer
zurückführen kann. Unmittelbare Kontinuität ist nicht beweisbar, und gerade
deshalb dürfen alle auf die dadurch dokumentierte Bedeutung der Vergangenheit
ihres Landes stolz sein.
In einer Zeit, in der das Lesen von Texten gegenüber der "visuellen Anschauung"
zurückzutreten beginnt, wächst die Bedeutung der Archäologie. Schon historische
Quellen können - je nach Blickwinkel des Bearbeiters - verschieden ausgelegt
werden. Wo sie schwächer werden oder ganz ausbleiben, treten die "Überreste"
an ihre Stelle, deren unkritische Interpretation Platz für Phantastereien
vielerlei Art schafft. So erscheinen Zukunftsträume realisierbar, weil
sie in der "Urzeit" schon einmal da gewesen sein sollen. Welche Gefahren
in einer Ausdeutung archäologischer Sachverhalte liegen können, die vom
patriotischen Stolz in nationalistischen Überschwang abgleiten, haben
wir Deutschen in besonderem Maße erlebt. Zur Illustration von Geschichtsmythen
eignet sich die Archäologie um so weniger, je gründlicher und methodenbewusster
sie arbeitet.
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