ALAMANNISCHE
FRÜHGESCHICHTE
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Mit
dem Rückzug der römischen Truppen in der Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr.
vollzog sich im heutigen Südwestdeutschland ein entscheidender Kulturwandel.
Das Land zwischen Rhein und Donau, als "apri decumates" seit Generationen
unter römischer Verwaltung, wirtschaftlich und kulturell in das "Imperium
Romanum" eingegliedert und durch den zuletzt in Stein ausgebauten obergermanisch-rätischen
Limes gegen die "Germania libera" abgesichert, fiel nach wiederholten Angriffen
im Jahre 259/60 an die Alamannen. Trotz großer militärischer Anstrengungen
hatte das Imperium Romanum nicht mehr die Kraft, die Barbaren aus den wirtschaftlich
und verkehrsgeographisch wichtigen Gebieten des Inneren Germaniens zurückzudrängen;
die Grenzen mussten an Rhein, Bodensee, Alpennordrand, Iller und Donau zurückgenommen
werden. Das vorher hoch zivilisierte Land versank mit der alamannischen
Eroberung in eine Art "vorgeschichtlichen" Kulturzustand. Zwar verließen
sicher nicht alle Römer das Dekumatland, wie unter anderem eine Reihe von
Orts-, Flur- und Flußnamen mit vorgermanischer Wurzel zeigt, aber das Militär,
die Verwaltung und der wohlhabende Teil der Bevölkerung und damit die eigentlichen
Zivilisationsträger räumten Kastelle, Städte und Gutshöfe und zogen sich
in sichere Reichsprovinzen zurück. Aus römischen Geschichtsquellen des 4. Jahrhunderts, etwa den Schriften des Ammianus Marcellinus, weiß man, dass die Alamannen das neu eroberte Gebiet zwischen unterem Main und Alpennordrand in eine Anzahl kleinerer Herrschaften aufgeteilt hatten, deren regionale Zentren sogenannte "Gauburgen" waren, dass sie in weilerartigen Gehöften siedelten, Ackerbau und Viehzucht trieben und auch weiterhin versuchten, sich an römischen Territorien links des Rheins und südlich der Donau zu bereichern. Römische Kaiser und Feldherren bekriegten die Barbaren oder gingen Verträge mit ihnen ein. Zur größten alamannischen Machtentfaltung kam es in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts, als das Weströmische Reich unterging und die Alamannen über den Rhein, in die heutige Ost-Schweiz sowie nach Süd-Bayern vordrangen. Die Ausdehnung der Interessensphären hatte einen schwerwiegenden Konflikt mit den Franken und deren mächtigen König Chlodwig I. (482-511 n. Chr.) aus dem Geschlecht der Merowinger zur Folge. Das alamannische Heer unter seinem namentlich nicht genannten König wurde 496/97 von den Franken vernichtend geschlagen. Nach einem Aufstand 506/07 musste der Ostgotenkönig Theoderich d. Gr. bei Chlodwig intervenieren, um die Alamannen vor der endgültigen Vernichtung zu bewahren. Zu diesem Zeitpunkt standen die Alamannen bereits unter fränkischer Oberherrschaft. Die Alamannen hatten Heeresfolge zu leisten, vor allem seit 536, als der Ostgotenkönig Wittiges die nordalpinen Provinzen seines Reiches an die Franken abtrat. So waren die Alamannenherzöge Butilin und Leutharis mit ihrem Heer in den Untergang der Ostgoten in Italien verstrickt. Die Merowingerkönige setzten die Herzöge in Alamannien, das zu dieser Zeit auf den Umfang des heutigen schwäbisch-alemannischen Sprachgebietes geschrumpft war, nach Belieben ein und auch ab. Eine begrenzte Selbständigkeit erlangte das Herzogtum wegen der Schwäche der fränkischen Zentralgewalt im Verlauf des 7. Jahrhunderts. Diese endete 749 mit der Gefangensetzung des Herzogs Lantfried II. durch den fränkischen Hausmeier Karlmann, der somit den Rechtstiteln aus der Zeit der frühen Merowingerkönige wieder Geltung verschaffte. Bald darauf begann in frühkarolingischer Zeit auch in Alamannien eine eigene schriftliche Überlieferung. Für die 500 Jahre vom Fall des Limes (259/60) bis zum Beginn des 8. Jahrhunderts reichen die historischen Quellen aber nicht aus, um ein Bild von Siedlungs- und Kulturzuständen in diesem Raum zu entwerfen. Hier hilft nur die archäologische Forschung weiter. Hauptquelle unserer Erkenntnisse sind die Gräber. Wie bei allen germanischen Völkern herrschte auch bei den Alamannen die Sitte, die Toten in ihrer Tracht und mit Beigaben versehen zu bestatten. Aus der Landnahmezeit (3./4. Jh.) kennen wir nur relativ wenige Grabfunde aus Südwestdeutschland. Grabbau, Bestattungsritus, Inventare und Fundverteilung ergeben kein einheitliches Bild. Diese Vielfalt archäologischer Erscheinungen spiegelt wahrscheinlich die philologische Deutung des Stammesnamens "Alamannen" wieder, der als Bezeichnung für einen im 2./3. Jahrhundert neu gebildeten Verband von Gefolgschaften vorwiegend elbgermanisch-suebischer Herkunft erklärt wird. Im mitteldeutschen und nordostdeutschen Raum finden sich auch archäologisch die nächsten Parallelen zum alemannischen Totenbrauchtum. Hier wie dort werden die Toten verbrannt und in Urnen beigesetzt, wobei vereinzelt Körpergräber mit reicheren Beigaben angetroffen werden. Einzelne Trachtbestandteile und Keramikformen kommen in beiden Gebieten gleichartig vor. Bezeichnend ist, dass in Mitteldeutschland und in den ostelbischen Gebieten die Belegung mancher großer Gräberfelder gerade in der Zeit abbricht, als die Alamannen das Dekumatland erobern, worin sich offensichtlich die Abwanderung von Bevölkerungsteilen nach Südwestdeutschland zeigt. Noch ist die Zahl der Funde aus frühalamannischer Zeit zu gering, um einen Abriss der Siedlungstätigkeit oder der materiellen Kultur zu ermöglichen. Die wissenschaftliche Auswertung der Bodenfunde bestätigt und ergänzt aber in jedem Fall die wenigen historischen Nachrichten und die Ergebnisse der Sprachwissenschaften. Eine differenzierte und aufschlussreichere Betrachtungsweise der alamannischen Frühgeschichte wird erst durch das Aufkommen eines neuen und einheitlichen Totenbrauchtums möglich. In der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts, zu der Zeit, als die Alamannen auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen, setzte überall im germanischen Bereich, von den Angelsachsen in England bis zu den Langobarden an der mittleren Donau, die Sitte ein, die Toten in West-Ostgerichteten Gräbern in größeren Friedhöfen bei reihenweiser Anordnung beizusetzen. Die Toten bekamen nach germanischem Rechtsbrauch ihre persönliche Habe mit ins Grab, die Männer ihre Waffen und das Wehrgehänge, das sogenannte "Heergerät", die Frauen ihren Schmuck, Hausgerät und Spinnzeug, die "Gerade". Daneben wurden oft Speise und Trank in Keramik-, Glas- und Bronzegefäßen (Holzgeschirr war sicher am häufigsten, ist aber nur selten erhalten) als Wegzehrung für die Reise ins Jenseits beigegeben. Hintergrund dieses Brauchtums dürfte die heidnische Vorstellung sein, dass der Tote auch im Jenseits ein standesgemäßes Leben führen können sollte, und so ist es sicher nicht verfehlt, vom Reichtum der Grabausstattung auf die soziale Stellung des Bestatteten zu schließen. Wie es zur Entstehung dieser "Reihengräbersitte", die archäologisch das Bild der Merowingerzeit vom 5. bis zum 7. Jahrhundert prägt, gekommen ist oder welche Umstände sie ausgelöst haben, ist nicht ausreichend geklärt. Vermutlich hat sie ihre Wurzeln in der Vermischung von spätantik-christlichen mit heidnisch-germanischen Jenseitsvorstellungen. Das Brauchtum blieb bis ans Ende des 7. Jahrhunderts lebendig, wo dann offensichtlich aufgrund der stärkeren kirchlichen Organisation und des Verfalls von Rechtsvorstellungen die Reihengräberfriedhöfe allmählich aufgelassen und die Toten ohne Beigaben nach christlichem Ritus bei den Kirchen beigesetzt wurden. Allein aus Württemberg sind bisher weit über 800 derartige Reihengräberfriedhöfe mit schätzungsweise über 10000 Bestattungen bekannt. Die archäologische Analyse dieses umfangreichen Fundmaterials ermöglicht in Kombination mit der Ortsnamens- und Geschichtsforschung Rückschlüsse auf den Siedlungsablauf, den Landesausbau sowie die innere Entwicklung im Alamannenland während der Merowingerzeit und gibt Einblick in das Kultur- und Sozialgefüge seiner Bevölkerung. Durch den Umstand, dass die Toten in ihrer Tracht bestattet wurden, von der sich naturgemäß nur die Metallbeschläge wie Schnallen, Riemenzungen, Knöpfe und Spangen erhalten haben, können wir uns eine ungefähre Vorstellung von der äußeren Erscheinung der damaligen Menschen machen und zugleich in der Verbreitung bestimmter Sachtypen kulturelle Strömungen und Einflusssphären erfassen. Vereinzelte Grabbeigaben sind religionsgeschichtlich von Bedeutung und dokumentieren den Christianisierungsprozeß. |
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Wilfried Menghin
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