KUNST DES DOKUMENTS – ORGANISMUS GROSSSTADT
Vom Sujet Großstadt oder Metropole geht für viele Dokumentarfilmschaffende eine besondere Faszination aus. Erstmals auffällig ist dies bei der Filmproduktion der 1920er Jahre, als gleich eine ganze Welle von dokumentarischen Großstadtfilmen entsteht, die sich von konventionellen narrativen Mustern befreien und teils distanziert registrierend, teils analytisch reflektierend Erscheinungen und Phänomene des Großstadtlebens erfassen. Ausgehend von diesen wegweisenden Werken Walter Ruttmanns, Dziga Vertovs, Jean Vigos und Heinrich Hausers präsentiert die Reihe KUNST DES DOKUMENTS – ORGANISMUS GROSSSTADT Filme, die unter anderem die Metropolen Kalkutta, Moskau, Mexico City und Shanghai porträtieren.
KUNST DES DOKUMENTS – ORGANISMUS GROSSSTADT
Berlin. Die Sinfonie der Großstadt
D 1927, R: Walter Ruttmann, K: Reimar Kuntze, Robert Baberske, László Schäffer, 65’ 35 mm
„Zum ersten Mal ist es versucht worden, eine Großstadt zur Trägerin der Hauptrolle eines Films zu machen.“ Über ein Jahr durchstreifen Walter Ruttmann und seine Kameramänner Berlin. Aus dem Chaos der Aufnahmen montiert Walter Ruttmann die erste „Großstadtsinfonie“. Sein Querschnitt durch das Leben der Reichshauptstadt im Rhythmus eines Arbeitstages vom frühen Morgen bis in die tiefe Nacht beeinflusst Generationen von Dokumentaristen. Berlin. Die Sinfonie der Großstadt ist eine Studie über den komplexen Organismus Großstadt, der nach einem geheimen Rhythmus zu pulsieren scheint: „Und wenn es mir gelungen ist, die Menschen zum Schwingen zu bringen, sie die Stadt Berlin erleben zu lassen, dann habe ich mein Ziel erreicht...“ (Walter Ruttmann).
Berlin. Die Sinfonie der Großstadt entsteht im Auftrag der europäischen Filiale der amerikanischen Fox-Film. Das Vorhaben ist vor dem Hintergrund der angespannten Beziehungen nicht nur im Filmbereich zwischen beiden Ländern ein durchaus gewagtes Unterfangen. Und so begründet der Generaldirektor der Fox-Europa, Julius Außenberg, dann auch die Wahl Berlins als Filmthema mit der „tiefen geistigen Kultur“ des deutschen Publikums, und: „Weil schließlich dieses deutsche Werk auf seinem Weg durch die Welt Kunde geben soll, von der ungebrochenen deutschen Kraft und dem unermüdlichen deutschen Fleiß, die Berlin zu einer Hochburg der Arbeit gemacht haben.“
Wir präsentieren eine restaurierte Kopie des Bundesarchiv-Filmarchiv.
Klavierbegleitung: Stephan von Bothmer (www.stummfilmkonzerte.de)
am 1.4.2010 um 20.00 Uhr
KUNST DES DOKUMENTS – ORGANISMUS GROSSSTADT
Rien que les heures
F 1926, R: Alberto Cavalcanti, Kamera: James Rogers, 45’ 16 mm, niederl. ZT
À propos de Nice
F 1930, R: Jean Vigo, Kamera: Boris Kaufman, 27’ 35 mm
Nice Time
GB 1957, R: Alain Tanner, Claude Goretta, 19’ 16 mm OF
Rien que les heures: Nichts als einige Stunden aus einem Tag in Paris. Der Vorspann erklärt: „Dieser Film erzählt keine Geschichte. Er besteht nur aus einer Abfolge von Impressionen über die Vergänglichkeit der Zeit und will keineswegs die Synthese irgendeiner Stadt herausarbeiten.“ Zwischen dem Morgen und dem Abend, zwischen Dokumentation und Inszenierung, zwischen experimentellen Bildfindungen und Überblendungen bezieht Cavalcanti Stellung zur conditio humanainmitten der Häuserschluchten einer großen Stadt...
Nizza, die Perle der Côte d’Azur: Auf der Promenade des Anglais flanieren die Reichen und Schönen, in den engen und schmutzigen Straßen der quartiers populaires wird gehandelt und gefeilscht. Im berühmten Karneval von Nizza scheint die Stadt zu sich selbst zu finden, aber die surrealen Masken und die ausgelassenen Tänze sind Zerrbilder einer Gesellschaft im Zustand der Krise. In den Aufmarsch der Feiernden mischt sich ein Trauerzug, im Hafen qualmen bereits die Schornsteine der Kriegsschiffe und die Bewegungen der selbstvergessen tanzenden Mädchen verlangsamen sich zu einem absurden Totentanz...
London 1957: Impressionen vom Piccadilly Circus, an einem Samstag Abend, Leuchtreklamen, Schaufenster, wie verloren die Menschen... Nice Time, ein frühes Meisterwerk des Free Cinema.
Wir präsentieren eine restaurierte Kopie von "À propos de Nice" des British Film Institute BFI
Klavierbegleitung: Stephan von Bothmer (www.stummfilmkonzerte.de)
am 8.4.2010 um 20.00 Uhr
KUNST DES DOKUMENTS – ORGANISMUS GROSSSTADT
Weltstadt in den Flegeljahren. Ein Bericht über Chicago
D 1931, R/B/K: Heinrich Hauser, 62’ 35 mm
Heinrich Hauser, als Fotograf und Schriftsteller beispielhafter Vertreter der „Neuen Sachlichkeit”, entwirft mit Weltstadt in den Flegeljahren ein großangelegtes Porträt der amerikanischen Metropole Chicago, das die beeindruckende Architektur der Stadt dokumentiert, aber auch seine soziale Wirklichkeit nicht außer Acht lässt. Für Rudolf Arnheim steht in Hausers Film „die Stadt Chicago nicht als fernes Schaubild vor dem Publikum, sondern man ist mitten in der Stadt, rundherum ragen die Wolkenkratzer, Platzangst erregend, auf, die Autos jagen dicht vorbei, und durch das Fenster der Hochbahn blickt das Auge in immer neue Straßenabgründe. (...) Hauser zeigt als Kontrast gegen die weißstrahlenden Märchenfassaden die Abfallhaufen: zerbrochene Menschen, herumlungernde Arbeitslose, zerfallende Autoleichen. Er zeigt den Menschen als Teil der Maschine, er zeigt, wie riesige Maschinenteile am laufenden Band über einen leeren Hof schweben, ohne daß steuernde Hände zu erblicken wären, und fragt: ‚Wo ist der Mensch?’“ (Die Weltbühne, 2.2.1932).
Scheinen zunächst Parallelen zwischen Hausers Bericht über Chicago sowie Ruttmanns undVertovs Großstadtporträts zu bestehen, unterscheidet sich Weltstadt in den Flegeljahren dennoch deutlich von jenen: „Die Montage ist keine der gezielten Rhythmisierung, die sich zur Geschwindigkeit der Großstadt mimetisch oder konkurrierend verhalten würde (...). Wo Ruttmann mit seinen abstrakten Filmen eher von der Mathematik und der formalen Berechnung her zum Bild kommt (...), ist der Weltumsegler und Fotograf Hauser stärker am Bild und seiner Komposition interessiert.“ (Volker Pantenburg, new filmkritik, 30.11.2003).
Klavierbegleitung: Peter Gotthardt
Einführung: Jeanpaul Goergen
am 15.4.2010 um 20.00 Uhr
KUNST DES DOKUMENTS – ORGANISMUS GROSSSTADT
Čelovek s kinoapparatom
Der Mann mit der Kamera
UdSSR 1929, R: Dziga Vertov, K: Michail Kaufman u.a., S: Elisaveta Svilova, 76’ 35 mm
Kino-Prawda (Kino-Wahrheit) im Stil eines Filmtagebuchs: Ein Mann mit einer Kamera filmt großstädtisches Leben so, wie er es vorfindet. Laut Vorspann „ein Experiment der filmischen Vermittlung sichtbarer Ereignisse“, ein „Ausschnitt aus dem Tagebuch eines Kameramanns“ als „Filmaufzeichnung in 6 Akten“. Wie Walter Ruttmann in seinem zwei Jahre zuvor entstandenen Film Berlin. Die Sinfonie der Großstadt verzichtet auch Dziga Vertov als „Leiter dieses Experiments“ auf Zwischentitel, Drehbuch, Schauspieler und Bühnenbild: „Diese experimentelle Arbeit versucht, eine internationale, absolute Kinosprache zu schaffen, basierend auf der völligen Unabhängigkeit von der Sprache des Theaters und der Literatur.“ – So ist Der Mann mit der Kamera weniger ein Großstadt-Film als ein Manifest experimenteller filmischer Arbeit, eine Reflektion über das Filmemachen selbst. Denn auch wenn der Mann mit der Kamera immer wieder bei den Dreharbeiten zu sehen ist, so steht hinter ihm stets ein zweiter Kameramann, der selbst unsichtbar bleibt und der dieses Experiment überhaupt erst ermöglicht. Das Kino-Auge wird permanent von weiteren Augen überwacht, ob diese nun versteckten Kameras oder Zensoren gehören. Und schließlich sind da noch die Zuschauer im Kino, die diesen Streifzug durch den Tagesablauf einer idealen sozialistischen Großstadt, zusammengesetzt aus Aufnahmen von Kiew, Odessa und Moskau, mit eigenen Augen sehen.
Wir präsentieren zum ersten Mal in Deutschland die neu restaurierte Kopie des eye Film Institute Netherlands.
Klavierbegleitung: Eunice Martins
am 22.4.2010 um 20.00 Uhr
KUNST DES DOKUMENTS – ORGANISMUS GROSSSTADT
Paris 1900 – Belle Époque
F 1947, R: Nicole Védrès, 82’ 35 mm, OF
Kompilationsfilm über Paris zu Beginn des Jahrhunderts, von 1900 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Montage und der mal ironische, mal analysierende Kommentar arbeiten die Gegensätze und Widersprüche der „Belle Époque“ heraus, die schließlich in die Katastrophe des Weltkriegs mündeten. Nicole Védrès, unterstützt von Alain Resnais, kann für ihre Montage auf reichhaltiges Filmmaterial zurückgreifen: „Man darf nicht etwa bloß erklären und beschreiben. Ganz im Gegenteil. Man muß sozusagen die äußere Hülle der gewählten Aufnahmen durchdringen und ohne besondere Betonung jenen besonderen und unerwarteten tieferen Sinn fühlen und zum Ausdruck bringen, der sich immer unter der Oberfläche der Abbildungen verbirgt.“ Zu sehen sind u.a. Gustave Eiffel, Buffalo Bill, Charles Pathé, André Gide, Paul Valéry, Guillaume Apollinaire, Louis Blériot, Félix Mayol, Maurice Chevalier, Mistinguett, Sarah Bernhardt, Auguste Renoir, Claude Monet, Auguste Rodin, Leo Tolstoi, Jean Jaurès, Aristide Briand, Léon Blum und viele andere. Gezeigt werden u.a. die Einweihung des ersten U-Bahnhofs, eine Suffragetten-Demonstration, das katastrophale Hochwasser der Seine 1910, erste Filmvorführungen von Georges Méliès, die Verhaftung des Anarchisten Bonnot, schließlich die Mobilmachung von 1914 und die Abfahrt der ersten Soldaten von der Gare de l'Est an die Front.
am 6.5.2010 um 20.00 Uhr
KUNST DES DOKUMENTS – ORGANISMUS GROSSSTADT
Calcutta
Kalkutta
F 1969, R: Louis Malle, K: Étienne Becker, 90’ 35 mm, OF
Im Februar 1968 reist der französische Filmregisseur Louis Malle, von einem Kamera- und Tonmann begleitet, ohne Auftrag nach Kalkutta, um „in die Wirklichkeit dieser Stadt“ einzutauchen. Das Team nähert sich der 8-Millionen-Stadt ohne ästhetische Vorüberlegungen, ohne inszenieren oder gar einen „Autorenfilm“ drehen zu wollen. „Der Film versteht sich ausschließlich als Dokument – er urteilt nicht, erklärt nicht, will nicht erschöpfend sein.“ Louis Malle möchte, dass die Zuschauer ihn als Ausgangspunkt nehmen, „um über eine unbekannte Wirklichkeit nachzudenken.“ Denn Kalkutta ist eine fremde Welt, nicht nur wegen befremdlicher religiöser Sitten: ungeheure Menschenmassen, bestürzende Gegensätze, Demonstrationen und brutale Polizeigewalt, aber auch Apathie, Ergebenheit und religiöse Entrücktheit – und dazwischen Mutter Teresa, die versucht, den Ärmsten der Armen zu helfen. „Abstieg in die Hölle“ titeln Les lettres françaises: „Zweifelsohne eines der außergewöhnlichsten Filmdokumente über die Welt von heute: man verlässt das Kino verwirrt, erschlagen, wie traumatisiert.“ (23.4.1969) – Der von Louis Malle gesprochene Kommentar beschränkt sich auf wenige Sätze, so dass der Film auch für jene verständlich ist, die kein Französisch sprechen.
Wir präsentieren eine restaurierte Kopie des Centre National du Cinéma et de l'image animée CNC
Mit freundlicher Unterstützung der Nouvelles Éditions de Films © 1969
am 13.5.2010 um 20.00 Uhr
KUNST DES DOKUMENTS – ORGANISMUS GROSSSTADT
Megacities
CH/A 1998, R: Michael Glawogger, K: Wolfgang Thaler u.a., 94’ 35 mm, OmeU
Mexico City hat 24 Millionen, Bombay 17, Moskau acht und New York neun Millionen Einwohner: Mega-Städte. „Für mich ist Megacities vielleicht weniger ein Film über Großstädte, als ein Film über Schauen, über Spazierengehen und Schauen.“ (Michael Glawogger). Schauen und beobachten, wie Menschen in den großen Städten um ihren Anteil am Leben kämpfen. Shankar macht mit zusammengenähten Filmstücken Kino, Modesto verkauft Hühnerfüße, Babu Khan siebt Farben, Lola und ihr Mann betreiben einen mobilen Straßenhandel, Nestor sammelt Müll. Oleg, Borja, Kolja und Mischa schlagen sich als Straßenkinder durch, Cassandra als Schauspielerin und Larissa als Kranfahrerin. Um seine Drogen bezahlen zu können, vermittelt Toni Mädchen, die es gar nicht gibt, an ahnungslose Freier. Zwölf Kapitel, zwölf Schicksale: „Ich habe keine Lösung anzubieten, und ich behaupte nicht: nur so ist es, und so ist es gut. Ich finde aber, dass der Film sehr wohl Stellung nimmt, und zwar eben gerade optisch, also filmisch. Er hält den Menschen die Kamera nicht einfach ins Gesicht, sondern er lässt sie sich und ihre Welt darstellen – das ergibt den optisch spielfilmartigen Charakter, der gleichzeitig wesentlich mehr dokumentarische Genauigkeit ermöglicht.“ (Michael Glawogger).
am 20.5.2010 um 20.00 Uhr
KUNST DES DOKUMENTS – ORGANISMUS GROSSSTADT
Shanghai Fiction
D 2009, R: Julia Albrecht, Busso von Müller, 133’DigiBeta, OmU
Vier Menschen in Shanghai, heute: Der Tagelöhner Yuan schweißt auf einer Großbaustelle am Rande Shanghais Balkongitter und träumt davon, einmal einen große Schatz zu finden; der Hochschulprofessor Liu war als Elfjähriger aktiver Kulturrevolutionär und verliert nach vielen Krisen schließlich auch den Glauben an die Marktwirtschaft; nach dem Tiananmen-Massaker 1989 richtet sich Heben in dieser illusionslos und pragmatisch als Geschäftsfrau ein; als moderner „Wissensnomade” plant der deutsche Architekt Johannes die zukünftigen Städte Chinas. „Die Fiktion einer idealen Gesellschaft, die man in China mit Macht in Wirklichkeit verwandeln wollte, ist in einem rasanten Tempo zersplittert in die Träume Einzelner. (...) Heute aber ist es die konkrete Suche nach dem wirklichen, nach dem besseren Leben, die den Einzelnen bestimmt.“ Private Aufnahmen, historische Dokumente und inszenierte Filmbilder verlinken Erinnerungen und Gegenwart. „Konzeptionell, formal, bildsprachlich im besten Sinne radikal und aufregend.“ (Matthias Heeder, DOK Leipzig).
am 27.5.2010 um 20.00 Uhr
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