Kino im Zeughaus

 

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  KINEMATOGRAPHIE HEUTE: SCHWEIZ

 

KINEMATOGRAPHIE HEUTE: SCHWEIZ

Nach Korea, Österreich und Dänemark widmet sich die jährlich stattfindende Reihe KINEMATOGRAPHIE HEUTE 2008 dem Filmland Schweiz. Diese Auswahl mag den einen oder anderen überraschen, haben Filme aus der Schweiz doch in den letzten Jahren auf den großen A-Festivals kaum Preise gewonnen. Legt man aber einmal die Liste der Auszeichnungen aus der Hand und studiert das Filmschaffen eines Landes in seiner Breite, so kommt man nicht umhin, sich für das schweizerische Filmschaffen zu begeistern. Von einer beeindruckenden dramaturgischen und stilistischen Vielfalt getragen, im Fahrwasser einer nun schon jahrzehntelangen, einmaligen dokumentarischen Tradition ist in der Schweiz ein Kino entstanden, das hierzulande in seiner Gänze zu Unrecht nicht wahrgenommen worden ist. KINEMATOGRAPHIE HEUTE: SCHWEIZ stellt neben den in Deutschland vertriebenen Produktionen zahlreiche Filme vor, die (noch) keinen deutschen Verleih gefunden haben und deren Entdeckung lohnt. Wir erwarten mehrere Filmemacher zu Publikumsgesprächen.
Eine Filmreihe in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Botschaft und mit Swiss Films

 

KINEMATOGRAPHIE HEUTE: SCHWEIZ
Jeu
CH 2006, R: Georges Schwitzgebel, M: Sergei Prokofiev, 4'

Feierabend
CH 2007, R: Alex E. Kleinberger, D: Elvira Schalcher, Gerhard Goebel, Christian Liniger, Nina Iseli, Andy Nzekwu, 9'

Il neige à Marrakech
CH 2006, R: Hicham Alhayat, D: Atmen Kelif, Abdeljabbar Louzir, Abdessamad Miftha, Majdoline Drissi OmU, 15'

Tarte aux pommes
CH 2006, R: Isabelle Favez, 10'

René
CH 2007, R: Tobias Nölle, D: Urs Jucker, Arthur M. Miranda, Hans Birrer, Hans Rudolf Twerenbold OmU, Digi Beta, 30'

"Ich bin ein Schrei ohne Echo" spricht René im gleichnamigen Kurzfilm in die Kamera und in seine Einsamkeit hinein, in Winterthur gewann das bereits in Locarno prämierte "Psychogramm eines Sonderlings am Rande der Gesellschaft" den Hauptpreis. Die Jury erklärt: "Der Film erzeugt eine eigene Welt, die nicht den Normen der klassischen Dramaturgie gehorcht", der langsam und stetig an seiner Vereinzelung zugrunde Gehende imaginiert sich in ein erträumtes weißes Land, hinter einem gezeichneten Viereck auf einer Wand. Furios erzählt und technisch brillant, geht Tobias Nölle mit seinem Helden aufs Feld und in den Wald, ins Laub und bis in die pure Erde hinein.
In einer gezeichneten Welt kämpfen einsame Wesen vielleicht ein wenig weniger verzweifelt, ermutigt durch die an warmen Brauntönen gesättigten Farben der wundervollen Phantasie von Isabelle Favez. Eine Prinzessin des Striches. Favez wurde in Zürich nicht nur für ihren zauberhaft bittersüßen Animationsfilm Tarte aux pommes ausgezeichnet. Die Künstlerin wurde auch für ihre "qualitativ hochstehende Schaffenskontinuität" prämiert, wie es in der Mitteilung der Kommission heißt. Tarte aux pommes erfindet eine kleine Welt, zwei Häuser, die sich gegenüberstehen, eine Straße dazwischen und einen Wald, eine Bäckerin, einen Metzger, einen Jäger, Mäuse, einen Hund und eine Katze. Und wie viele Zufälle verhindern da das kleine Glück der Bäckerin, die jeden Morgen unverzagt um die Gunst des Metzgers kämpft - so tapfer, dass ihr scheuer Gruß, einmal vernommen, noch lange nachhallt. Der mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnete Kurzfilm Feierabend und der vielfach prämierte Animationsfilm Jeu kommen Kaskaden an Einfällen gleich - Kleinberger spielt in Feierabend mit zehn Minuten in der Warteschlange einer Supermarktkasse und hat dabei eine ganze (schweizer) Gesellschaft im Griff. Schwizgebel lässt den Zuschauer von Jeu im Takt des zweiten Prokofjevschen Klavierkonzertes durch unzählige Falltüren in immer wieder neue Bildwelten fallen.
Hicham Alhayat stellt in seinem mit Publikumspreisen überhäuften Kurzfilm Il neige à Marrakech gleich die ganze Schweiz nach, als Geschenk eines emigrierten Sohnes an seinen marokkanischen Vater. Natürlich misslingt es, die Berge am marokkanischen Ferienort Oukaimeden in Schweizer Alpen zu verwandeln, der Vater aber hat eine unvergessliche Reise gemacht.
Wenn der am Alleinsein irr werdende René durch die Wand ins weiße Land will, so wünscht er sich nicht das Ende des Lebens, sondern den Sprung in eine andere Zeit. Das gezeichnete Viereck ist auch das Bild einer Kinoleinwand.

Eröffnung der Filmreihe in Anwesenheit von Catherine Scharf Chevalley, Botschaftsrätin der Schweizerischen Botschaft

am 22.2.2008 um 20.00 Uhr

 

 

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Dutti der Riese - Der Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler
CH 2007, R: Martin Witz OmeU, Digi Beta, 80'

Das Archivmaterial, das Martin Witz zur Lebensgeschichte von Gottlieb Duttweiler montiert, ist überwältigend. Der joviale Egomane und Philantrop, der bescheidene Eitle mit dem Willen zur öffentlich gelebten Macht und dem Bedürfnis nach menschlichem Anstand - so der Züricher Tages-Anzeiger - stand nicht nur, seit 1925 seine ersten fünf mit Lebensmitteln bestückten Lastwagen ausschwärmten, im Zentrum öffentlicher und filmisch dokumentierter Aufmerksamkeit. Der vom Volksmund liebevoll "Dutti" Genannte hat selbst einen geradezu revolutionären Begriff von Öffentlichkeit. Auf dem ersten Höhepunkt seiner Macht enteignet er sich selbst, überführt er sein Werk, die Migros, in eine Genossenschaft und wird deren Angestellter. Duttweiler geht selbst in die Politik, als etablierte Lebensmittelimperien wie Nestlé ihn über die Gesetzgebung zu bekämpfen versuchen. Dass der Migros-Gründer ein Schweizer mythischen Ausmaßes ist, ist im Ausland bekannt. Dass die mythische Schweiz an ihm mit der Präzision eines Uhrwerks arbeitet - das legt dieser erste ihm gewidmete Dokumentarfilm nahe. Demokratie und Föderalismus, Marktwirtschaft und Gemeinwohl gehen als Werte beglückende Symbiosen in den Schaffensdrang dieses Riesen ein. Auch dies dokumentiert Dutti der Riese auf großartige Weise. Bislang war es nicht bekannt, dass Duttweiler die Manie hatte, eigene Monologe aufzuzeichnen.
Er wollte nichts weniger als den Kapitalismus von der Ausbeutung reinigen, um dem kommunistischen Blick auf die Allgemeinheit auf gleicher Höhe zu begegnen. Der Film folgt Duttweilers Leben chronologisch und legt eine umgekehrte Matruschka frei. Jede Unternehmung Duttweilers gerät eine wesentliche Dimension größer als die vorherige - und es gibt kaum einen Bereich menschlicher Unternehmung, den er ausspart. Der vom Establishment Verfemte nahm nicht nur jeden Kampf auf, er führte ihn zuweilen auch mit propagandistischen Mitteln. "Mit feiner Ironie gegenüber dem 'Prinzip Migros'", so der Tages-Anzeiger, präsentiert Martin Witz daher auch wundervolles ideologiegesättigtes Material.

Vorfilm: Feierabend (CH 2007, R: Alex E. Kleinberger, 9')
Einführung am 23.2.: Connie Betz

am 23.2.2008 um 19.00 Uhr
am 29.2.2008 um 19.00 Uhr

 

 

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Ein Lied für Argyris
CH 2006, R: Stefan Haupt OmU, 109'

"Wie schafft es jemand", schreibt Dietrich Kuhlbrodt in der Zeitschrift Konkret, "ein Massaker nicht zu bewältigen, was nur eine andere Form von Verdrängung wäre, sondern mit dem Trauma zu leben. Argyris lebt. Der Film ist großartig." Stefan Haupt - der auch Elisabeth Kübler-Ross - Dem Tod ins Gesicht sehen drehte und für den Spielfilm Utopia Blues den Schweizer Filmpreis erhielt - übt Medienkritik. Ein Schicksal bedürfe eines Namens, um fassbar zu werden, eines Gesichtes, einer Geschichte. An das Schicksal von Argyris Sfountouris, der 1940 im griechischen Distomo geboren wurde, knüpft Stefan Haupt mit Leichtigkeit die Weltgeschichte eines halben Jahrhunderts und bebildert sie, die Invasion in der Normandie, Brandts Kniefall und der Fall der Berliner Mauer, der Widerstand und der Sieg gegen die griechische Militärdiktatur. Internationale Politik wird auf bewegende Weise fassbar am Schicksal Argyris Sfountouris. Und Argyris selbst gedenkt mit seinem ganzen Selbst dem Unfassbaren - dem Massaker, das die deutschen Besatzer am 10. Juni 1944 in Distomo anrichteten. 218 Dorfbewohner wurden von den nationalsozialistischen Deutschen ermordet, Zeugenaussagen berichten Bestialisches, Argyris verliert Mutter und Vater und dreißig weitere Angehörige. Und er hat die schier menschenunmögliche Kraft, sein Leben, das fortan von diesem Trauma gezeichnet ist, zu reflektieren. Es ist das einsame, zunehmend kämpferische Leben eines Entwurzelten, das den Mahnenden aus dem Schweizer Exil zurück an die Stätte des deutschen Verbrechens führt.
Die Schweiz rückt als ein humanitäres Land in Stefan Haupts Visier. Sie nimmt das Waisenkind auf, ins Kinderdorf Pestalozzi nach Trogen. Argyris promoviert an der ETH Zürich, wird später Schweizer Staatsbürger. Es ist ein anderer Staat, der sich vor diesem engagierten Blick rechtfertigen muss: Deutschland. Für den Konsens in der deutschen Bevölkerung, Reparationszahlungen abzulehnen, für die Weigerung, die Schuld der Väter zu begleichen, für die beschämenden Sätze der deutschen Botschaft in Athen, die Argyris als "sprachliche Verwahrlosung" geißeln muss.

Einführung am 23.2.: Connie Betz

am 23.2.2008 um 21.00 Uhr
am 27.2.2008 um 20.00 Uhr

 

 

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Das Fräulein
CH/D/BOS 2006, R: Andrea Staka, D: Mirjana Karanovic, Marija Skaricic, Ljubica Jovic, Andrea Zogg, Pablo Aguilar OmU, 81'

Vielleicht ließe sich die Geschichte des Fräuleins anderswo als in Zürich beginnen, wo sie spielt und wo deren Regisseurin Andrea Staka von einem bosnisch-kroatischen Paar hineingeboren wurde. Vielleicht auch nicht auf dem Territorium des gewaltsam auseinandergefallenen Jugoslawien, woher die Belgraderin Ruza und Mila von der Adria und nun, Jahrzehnte später, Ana aus Sarajevo in Zürich stranden. Vielleicht hätte die Geschichte des Fräuleins auch zur neuen Jahrhundertwende in Wien beginnen können, mit Barbara Alberts Debut Nordrand, dessen kluge und schöne Schweizer Schwester Das Fräulein ist. Hier war es nämlich das erste Mal erkennbar, dieses neue Kino von unbändiger Erzähllust, von Frauen inszeniert, von starken Frauen handelnd und zugleich explizit und bildbewusst von sehr subtilen Dingen: ganzen Horizonten an Wahrnehmungen, einem Lebensgefühl.
Eine eigensinnige Welt an Moderne und Reserviertheit ist Zürich in Das Fräulein. Ruza und Mila haben hier "eine Luftwurzelheimat für immer" (Jan Schulz-Ojala, Tagesspiegel). "Und dann kommt Ana aus Sarajevo, Anfang zwanzig", schreibt Schulz-Ojala, "sie hat die Heimat im Blut und einen Krieg in den Knochen, sie trifft ein in dieser trostlosen Betriebskantine, als hätte dort alles auf sie gewartet, fängt an zu jobben, spricht mit den Kunden unbekümmert serbisch-kroatisch-bosnisch und bringt die versteinerte Welt der beiden Frauen durcheinander - eine Tramperin auf widerspenstiger Fluchtsuche zu sich selbst." - "Ließen sich aus Lärm Schneebälle formen und in die Stille werfen, dann wäre dies wohl die beste Beschreibung für das Verfahren, mit dem die Schweizerin Andrea Staka ihrem Film Das Fräulein von Beginn an Wucht verleiht", schreibt Christina Müller-Lobeck in epd-Film über das Debüt, das unter anderem in Locarno den Goldenen Leoparden und im spanischen Valladolid den Preis der internationalen Filmkritik davontrug.

Einführung am 26.2.: Alexandra Schneider

am 24.2.2008 um 19.00 Uhr
am 26.2.2008 um 20.00 Uhr

 

 

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Lenz
CH 2006, R: Thomas Imbach, D: Milan Peschel, Barbara Maurer, Noah Gsell, 100'

Thomas Imbachs Lenz ist ein komplexes Spiel mit Georg Büchners gleichnamiger Novelle: Der Protagonist, ein Filmemacher namens Lenz, begibt sich in den Vogesen auf Spurensuche nach Büchners Fragment. Als er erfährt, dass sein Sohn und seine Exfreundin Natalie in den Schweizer Alpen Urlaub machen, fährt Lenz ihnen hinterher. Doch nach einer kurzen Zeit scheinbarer Harmonie drängt Lenz' melancholisch-unverträgliches Gemüt an die Oberfläche. Allein bleibt Lenz im malerischen Karst der Berge Zermatts zurück.
Imbachs vierter Film ist ebenso sehr eine Auseinandersetzung mit dem Geniebild des 19. Jahrhunderts wie Hommage an einen Autor, der sich den Konventionen klassischer Dramaturgie entzieht. Diese Offenheit gibt Imbach den Freiraum, die Geschichte in einer intelligenten Mischung aus fiktionalem und dokumentarischem Material auszubreiten. Imbachs Vertrauen auf die sprechenden Fähigkeiten der von ihm geschaffenen Bilder und Situationen machen aus Lenz das "sperrige, faszinierende Psychogramm" (Christian Horn critic.de) eines eigenwilligen Mannes.

am 24.2.2008 um 21.00 Uhr

 

 

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Jeune homme
CH 2006, R: Christoph Schaub, D: Matthias Schoch, Alexandra Vandernoot, Didier Flamand, Hanspeter Müller-Drossaart, Mona Petri OmU, 98'

Es geschieht aus Trotz, die Dame des Hauses ist düpiert worden, das letzte der Mädchen, das sich als Au-pair vorstellte, war nur noch aufreizend. Monsieur machte ihr Avancen. Da stellt sich der junge Mann vor, der ausgerechnet darauf verfallen ist, als Au-pair aus dem engen Affoltern am Albis nach Genf zu flüchten, und in Madames Augen funkelt das "Warum nicht". Die Dumoulins haben nun einen "jeune homme au-pair".
So sehr klebt das Au-pair am Weiblichen, dass der junge Mann nicht einmal eine Schürze umbinden muss, damit Jeune homme die Register einer Verwechslungskomödie ziehen kann. "Der schüchterne Protagonist, das Gegenteil eines jugendlichen Revoluzzers, emanzipiert sich also auf eher ungewöhnliche Art und Weise" schreibt das Schweizer Filmjahrbuch Cinema und: "Regisseur Christoph Schaub hat es nach dem äusserst erfolgreichen Sternenberg mit Jeune homme erneut geschafft, einen echten Publikumsfilm zu drehen... Jeune homme ist eine liebevolle und zügig inszenierte Gesamtschweizer-Komödie." Wer sich vor Augen führt, dass die Romandie den "Röstigraben" in Anlehnung an den Eisernen Vorhang "rideau de röschti" nennt, erkennt, dass das Lob von der Gesamtschweizer-Komödie ein besonders Lob ist. "Den Röstigraben überlisten" wollte der Produzent Marcel Hoehn - als wäre dieser ein Drache. Höhn hatte die Idee zum Film, der aus den sprachlichen und kulturellen Unterschieden, aus den Vorurteilen und der Art, wie Deutschschweizer und Welschschweizer einander ihre Sprachen zurichten, ihre Situationskomik bezieht.

am 29.2.2008 um 21.00 Uhr

 

 

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Heimatklänge
CH/D 2007, R: Stefan Schwietert, K: Pio Corradi, M: Erika Stucky, Noldi Alder, Christian Zehnder, 81'

Auch Berge lassen sich inszenieren, die Aufnahmen, die Stefan Schwietert und sein Kameramann Pio Corradi von den Schweizer Alpen bergen, sind schlichtweg atemberaubend. Sich der überwältigenden Natur als Mensch entgegenstämmen müssen, wenn man überleben wolle, "ansingen gegen den Widerstand der Landschaft" nennt es Christian Zehnder, und er, der begnadete Stimmkünstler, erklimmt den Berg und singt. Wortlos, lautmalerisch, auf anderen Skalen und Leitern als Dur und Moll, mehr mit dem Echo des Berges als mit Menschen kommunizierend, "einen seltsamen Jodel" schreibt die NZZ, "eine Musik, die sich mit der Landschaft verbindet. Die Lautäußerung eines Menschen, der mit dieser Landschaft so verwachsen ist, dass er Teil von ihr geworden ist, der in den Zyklen des Lebensraums lebt, den Jahreszeiten, Monden, Tagen." Wenn ein Landstrich zu begreifen ist, weil seine Landschaft den Menschen erkennbar geformt hat, so in Stefan Schwieterts Film.
Accordion Tribe wurde mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet. Das Alphorn beschäftigte sich bereits mit der alpenländischen Musiktradition. Heimatklänge beschließt keine Trilogie, sagt Schwietert, der sich, so der Tagesspiegel, "mit A Tickle in the Heart und El accordeón des diabolo in die Herzen der Weltmusikfans gefilmt" hat. Die Auseinandersetzung mit der Stimme als erstes Instrument geht tiefer, über die Bewahrung untergehender Traditionen hat in diesem Schwietertschen Film die Aufregung des Aufbruchs in neue Klangwelten gesiegt.

am 1.3.2008 um 19.00 Uhr
am 2.3.2008 um 21.00 Uhr

 

 

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Comme des voleurs (À l'Est)
CH 2006, R: Lionel Baier, D: Natacha Koutchoumov, Lionel Baier, Luc Andrié, Alicja Bachleda-Curus, Michal Rudnicki, Stéphane Rentznik OmU, 112'

Selten ist Warschau einem so märchenhaft erschienen wie hier: eine stolze nordische Stadt im Osten, stalinistisches Ornament zur Musik von Ravel. Lionel und seine Schwester Lucy sind mit einem eher gestohlenen als geliehenen Auto den ganzen Weg aus der Westschweiz nach Warschau gefahren, und als das Auto abhanden kommt, bleiben ihnen nur der Schmutz und die Blessuren der langen Reise. Aber Lucy erinnert sich an die Flüchtlinge, die sie daheim unterrichtet, und sie weiß plötzlich, wie die Sprache der Sans-Papiers gesprochen wird. Für Lionel und Lucy geht damit die abenteuerliche Suche nach ihren neu entdeckten familiären Wurzeln ein entscheidendes Stück weiter.
"Comme des voleurs", so der Regisseur Lionel Baier soll "eine Tetralogie der vier Himmelsrichtungen" begründen, eine "Europakarte der Gefühle" oder, "genauer gesagt: unser gemeinsames Territorium darstellen mit Figuren, deren Geschichte sich auf diesem Kontinent abspielt". Der erste Langspielfilm Baiers erzählte eine schwule Geschichte, Comme des voleurs spielt schmunzelnd und souverän mit sexuellen Entwürfen - und mit der Zärtlichkeit, der Eigenwilligkeit und der Widerspenstigkeit von Körpern. Eine wunderbare Dynamik ist diesem Film eigen, der in Mannheim-Heidelberg den Spezialpreis der Jury gewann, "für die Phantasie, die Authentizität der Dialoge, für die künstliche Leichtigkeit... und für die leidenschaftliche Diskussion in der Jury über diesen Film."

Einführung am 1.3.: Vinzenz Hediger

am 1.3.2008 um 21.00 Uhr
am 4.3.2008 um 20.00 Uhr

 

 

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Chrigu
CH 2007, R, K: Jan Gassmann, Christian Ziörjen, M: Mundartisten OmeU, 87'

"In den letzten Jahren hat eine ganze Reihe von Schweizer Dokumentarfilmen dem Tod ins Gesicht geschaut", schreibt Florian Keller im Tages-Anzeiger, "aber bei Chrigu kommen ein jugendlicher Übermut und ein trotziger Witz hinzu, die diesen Filmen sonst fremd sind". Christian Ziörjen alias Chrigu ist 23, als er an den Metastasen eines Tumors in seinem Nacken stirbt. Er hat die Aufnahme in die Filmklasse der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich bestanden und sein erstes Semester wegen des Rückfalls nicht antreten können. Jan Gassmann, ebenfalls Regisseur des Films, geht später auf die Filmhochschule nach München. Er schreibt über seinen Freund Chrigu: "Aufgewachsen weit weg von anderen Menschen auf einem Bauernhof im Jura. Ein Kind von Aussteigern. Erzogen an der Waldorfschule. Vom Techno zum Punk zum Hippie zum Gangsta zum Metrosexuellen. Habe ihn mit 16 kennen gelernt. Wir machen Filme zusammen. Es war nicht zu erwarten, dass er plötzlich einen Tumor hat. Es war auch nicht zu erwarten, dass er über seinen Tod einen Film drehen wollte. Aber das war sein Wille, sein letzter Akt."
Es ist eine Generation mit einer eigenen und eigenartigen medialen Kompetenz, die sich selbst großzieht mit Bildern. Es gibt Aufnahmen von Chrigu und Jan rucksackreisend durch Indien. Chrigu bedient die DV-Kamera auf den Konzerten der Freunde, der Mundartisten. Weniger eine Lust auf Mitteilung als das Bedürfnis nach Aufzeichnung, nach Selbstverständigung und Selbstkorrektur ist zu finden. Chrigu beginnt in Momenten der Selbstinszenierung, Chrigu führt ein filmisches Tagebuch. Im Fortschreiten der Krankheit gibt er die Kamera zunehmend an seinen Freund Jan ab, fährt den Blick auf sich selbst zurück, läßt es zu, dass sich ein fremder Blick seiner bemächtigt - während die Krankheit seinen Körper verändert.
Selten ist die Reflexion über eine Aufnahmeapparatur so rigoros formuliert worden wie hier. Die Freunde nehmen sich vor, keine Inszenierungen zu dulden, und sie reflektieren dabei ihren Umgang mit Gefühlen. Die Freundschaft füreinander macht sie zu unbestechlichen Chronisten.

Einführung am 5.3.: Alexandra Schneider

am 2.3.2008 um 19.00 Uhr
am 5.3.2008 um 20.00 Uhr

 

 

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Vitus
CH 2006, R: Fredi M. Murer, D: Teo Gheorghiu, Bruno Ganz, Julika Jenkins, Urs Jucker, Fabrizio Borsani OmU, 122'

Vitus ist einer der großen Publikumslieblinge des Schweizer Kinos. 2006 für den Oscar für den besten ausländischen Film nominiert und 2007 zum besten Schweizer Film erkoren, lebt der Film wie die Figur Vitus, die von Regisseur Fredi M. Murer als dreieinhalbjähriger und als zwölfjähriger Junge inszeniert wird, von einem Schauwert, wie er im Kino selten geworden ist, von etwas wundersam Artistischem, das allseits beglückt: dem Klavierspiel des zwölfjährigen Hauptdarstellers Teo Gheorghiu. In Murers "Märchengeschichte von Börsengeschäften und Flugsimulatoren, die auch ein musikalischer Spass ist" (NZZ) ist Vitus nicht nur so klug, dass er mit seinem IQ von schwindelerregender Höhe schwere Rechenaufgaben ohne Hilfsmittel in Sekundenschnelle löst und die Werke großer Meister auf dem Klavier tadellos interpretiert. Er ist sogar so klug, dass er sich dümmer stellt, als er ist. Um dem gesellschaftlichen Druck zu entkommen, der auf ihm zu lasten beginnt, um sich eine Kindheit an Seiten seines wundervollen Großvaters zu erobern und um die Freiheit zu gewinnen, das Schöne seiner selbst willen zu tun.
"Im Wunderkind-Mythos", sinniert die Schweizer Cinema, "verdichten sich die Probleme des Erwachsenwerdens. Einerseits schwingt bei uns Normalsterblichen immer die Bewunderung für das unvorstellbare Talent der 'kleinen Klugscheisser' mit, andererseits auch das Bedauern über eine verlorene Kindheit, die durch die Forderungen der Eltern und die Ausgrenzung durch die Gleichaltrigen verstärkt wird. Vitus sichert sich mit seiner Verweigerung all dieser Ansprüche unsere Sympathien. Aus den weisen Gebrauchphilosophien seines liebevollen Großvaters scheinen wir die Stimme des Regisseurs zu hören, der aus der Fabel ein rundes, musikalisches Märchen geschaffen hat, das auf vielfältige Weise mit der Metapher des Fliegens spielt."

am 8.3.2008 um 21.00 Uhr

 

 

KINEMATOGRAPHIE HEUTE: SCHWEIZ
Das Erbe der Bergler. Ein Wildheuerfilm
CH 2006, R, K: Erich Langjahr, 97'

Vielleicht sind es die letzten ihrer Art. Söhne von Bergbauern im zentralschweizerischen Muotathal, die jedes Jahr zur seit Generationen verabredeten Zeit die Felsbänder des Hinteren Heubrig erklimmen und nach überlieferter Sitte das Wildheu mähen. "Das erfordert mehr als die Fähigkeit, im Steilen mit einer Sense umzugehen. Es beginnt - im Film und in der Wirklichkeit - wohl auch mit der Beobachtung der Ameisen, an denen der 'Wetterschmöcker' Peter Suter die Wetterlage abliest. Es beinhaltet die Herstellung von Holzschuhen, auf die der Schmied Josef Schelbert dann Eisengriffe nagelt und in die man barfuss steigt und im Hang steht wie verankert. Es ist Mähen und Tragen im Sommer und vollendet sich im Winter, wenn der Schreiner Langenegger einen neuen Schlitten baut und das Heu von der Seilstation Horgrasen ins Tal holt. Und es hat alles seine Zeit, seinen Ort, seinen Rhythmus und und seine fabelhafte Präzision.
Jahrelang, mit kongenialer Geduld hat Erich Langjahr (und mit ihm seine Frau und Mitarbeiterin Silvia Haselbeck) das beobachtet und sozusagen im selben Takt geatmet. Die Sorgfalt ist seine Art der Bewunderung", schreibt Christoph Schneider im Zürcher Tages-Anzeiger über Erich Langjahrs neuen, 2007 für den Schweizer Filmpreis nominierten Film. "Das Erbe der Bergler ist von der Genauigkeit, mit der Holzschuhe und Schlitten hergestellt werden. Nichts zu viel, nichts zu wenig, und nur die notwendigsten Erklärungen. Vor allem nichts, was die Wildheuer nicht selber über sich sagen würden. Dieser Film ist wunderbar frei von ethnologischer Überheblichkeit." "

am 9.3.2008 um 19.00 Uhr
am 12.3.2008 um 20.00 Uhr

 

 

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Klingenhof
CH 2005, R: Beatrice Michel, K: Hans Stürm, Othmar Schmid, 85'

Man muss an einem Ort mehrmals die Jahreszeiten erlebt haben, um sich heimisch zu fühlen, erzählt die vielgereiste Filmemacherin Beatrice Michel, die - aus Zufall fast - mit ihrem Lebensgefährten, dem Kameramann Hans Stürm, im Hof ihrer gemeinsamen Zürcher Wohnung einen Dokumentarfilm zu drehen beginnt. Langzeitstudien wie diese laden ihre Bilder oft auf - mit der Sehnsucht der lauen Abende in den erleuchteten Fenstern, mit dem Rhythmus der wiederkehrenden Jahreszeiten - und entleeren sie zur selben Zeit, weil sie im Zeigen des Vergänglichen den Augenblick auflösen. In diesem Film stockt der Rhythmus, am Zustand der Bäume im Hof liest der Zuschauer nicht immer ein Werden ab, manchmal, so scheint es, eine absurde Wiederholung. Hans Stürm stirbt an Herzversagen während der Arbeit an diesem Film.
Klingenhof wird 2006 mit dem Schweizer Filmpreis prämiert. Die Begründung: "Der ,Klingenhof' ist ein gewöhnlicher Ort mit gewöhnlichen Menschen in Zürich. Doch der Blick durch das Auge einer sehr erfahrenen Kamera und das sorgfältige Hinhören auf die eigene Stimme und auf die der anderen lässt diese räumlich begrenzte Welt zu einem Spiegel werden für die Fragen der Identität, der verlorenen Heimat, für Geburt und für Tod. Diese lang angelegte filmische Arbeit konnte nur unter dem engagierten Einsatz einer Gruppe von Menschen entstehen. Es ist daher eine besondere Freude, das Filmkollektiv Zürich mit dem Spezialpreis der Jury auszeichnen zu können."
Eine "umherstreunende Kamera, die mehr der Neugier denn einem Konzept folgt", sagt Beatrice Michel und spricht damit nur die halbe Wahrheit aus, denn Klingenhof verdichtet sich zu intimen Lebensgeschichten. Und kommt - witzig und verstörend, schmerzlich manchmal - auf überraschenden Wegen an die Frage heran, was schweizerisch sei. Wenn Nico, der den Kiosk führt, für seine Abschlussarbeit an der Filmakademie seine leibliche Mutter in Peru aufsucht. Wenn Mahdi, der Kurde, spricht. Wenn Dani, der einst aus seiner Familie von schweizerischen Zigeunern herausgerissen worden ist, als Reiseführer im Kosmos Klingenhof agiert.

Vorfilm: Il neige à Marrakech (CH 2006, R: Hicham Alhayat, 15')

am 9.3.2008 um 21.00 Uhr
am 11.3.2008 um 20.00 Uhr

 

 

KINEMATOGRAPHIE HEUTE: SCHWEIZ
Sieben Mulden und eine Leiche
CH 2006, R: Thomas Haemmerli, S: Daniel Cherbuin OmeU, 81'

Väterlicherseits wurden einst Schusswaffen hergestellt, der Großenkel bewaffnet sich mit einer Kamera. Was auf einem Bildschirm erscheine, verliere an Schrecken, postuliert der Autor experimenteller Fernsehreportagen, und dass die Kamera ein Schutzschild wäre, mit dem man sich vieles vom Leibe halten könne. Die Nachricht vom Tod der Mutter, geborene Brünhilde Hortense Carola Gertraude Maurer von Infeld, erreicht Thomas Haemmerli an seinem vierzigsten Geburtstag. Den Aufnahmeknopf gedrückt haltend und von seinem Bruder Erik begleitet, stößt er die Tür zu ihrer Wohnung auf - in ein Inferno von Müll hinein, einem Jahrzehnte andauerndem Verfall bizarrer Materialberge, hinein in die Spuren aufgegebener Lebensentwürfe, die Verwesung, menschliche Körpersäfte und Tierkot ein weiteres und nunmehr letztes Mal für unbrauchbar erklärt haben.
Was folgt, ist eine der furiosesten Aufräumaktionen in der Geschichte des Familienfilms. Im Kamin brennt es unentwegt, die Brüder füllen sieben Mulden und ziehen, weil sie keine freie Hand mehr haben, eine Filmemacherin hinzu, die die Filmaufnahmen vorantreibt. Sie tragen Objektschichten ab und legen dabei Familiengeschichte frei, sie ordnen und zerstören gleichzeitig, sie stiften schmerzhaften Sinn mit geduldigen Bergungen, sie stampfen auf den Resten einstiger Zumutungen wie Beelzebub, der den Teufel austreibt. Deutscher Adel aus dem 12. Jahrhundert verästelt sich in windigen Affären im Zweiten Weltkrieg, unsäglicher Hass der Großmutter auf die Mutter sticht dabei hervor. Mit dem Vater tritt die prosperierende Schweiz der sechziger Jahre in den Blickwinkel des Regisseurs, das auf Super-8 gebannte schicke Leben des Wirtschaftsanwaltes zwischen Zürich, St. Moritz, Zermatt und Port Grimaud ist ebenso reich an perfiden Details. Haemmerli kürt die Ironie und die Verknappung des Spotts zur Königsdisziplin eines Humanisten, der nie von der Frage abweicht, "wie man leben soll und was ausgangs bleibt".

am 14.3.2008 um 21.00 Uhr
am 16.3.2008 um 19.00 Uhr

 

 

KINEMATOGRAPHIE HEUTE: SCHWEIZ
Mon frère se marie
CH/F 2006, R: Jean-Stéphane Bron, D: Aurore Clément, Jean-Luc Bideau, Cyril Troley, Delphine Chuillot, Michèle Rohrbach OmU, 95'

Jean-Stéphane Bron hat Dokumentarfilme gedreht und für Mais im Bundeshuus - Le génie helvétique 2004 den Schweizer Filmpreis erhalten. Die Handkamera, das flache Bild, die dokumentarische Kadrierung, wie sie eine Figur zentriert und sich buchstäblich an ihre Fersen haftet, setzt er in seinem Spielfilmdebüt mit einer solchen Verve ein, dass die an Unvorhersehbarem ohnehin reiche Komödie augenzwinkernd eine letzte Weihe erfährt: den Glanz des Authentischen, den Schmerz des Erlebbaren. Bron führt die nachträgliche Befragung und Selbstreflexion der Figuren vor der Kamera in die Fiktion ein und erstaunlicherweise mindert dies nicht nur das nur Gefühlte und nicht Gesagte nicht, sondern vermehrt es gar auf wundersame Weise.
Vinh, der einst Vietnam mit dem Boot verließ und als Adoptivkind die französische Schweiz erreichte, heiratet. Zwanzig Jahre lang ergänzten Postkarten vom Matterhorn den katholischen Altar der Mutter in Vietnam, nun kommt sie selbst in Begleitung eines Onkels für ein Wochenende ins Paradies auf Erden und sogar bis nach Zermatt. Seine Schweizer Eltern Claire und Michel sind da seit langem unversöhnlich auseinander und auch die ebenfalls erwachsen gewordenen Kinder Catherine und Jacques kämpfen uneingestandene Kämpfe gegen die Eltern aus. Für die Dauer von zwei Tagen kommt die zerrissene Familie zusammen, um ein schöneres, gar ein makelloses Bild ihrer selbst zu zeichnen - und Bron, der zusammen mit Karine Sudan das Drehbuch schrieb, gelingt es, jedes Angebot auf falsche, nach Aussprache und Versöhnung anmutende Befriedung und Befreiung auszuschlagen. Ein großes Haus am Wasser gibt es in diesem Film, und man kann schwimmen gehen und Betten herrichten, und es ist kein verwehrtes Glück, das aufscheint, sondern eine Lust auf Großzügigkeit, eine Sehnsucht nach Leichtigkeit.

am 15.3.2008 um 21.00 Uhr
am 18.3.2008 um 20.00 Uhr

 

 
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