DIE KUNST DES DOKUMENTS
Wir setzen die Reihe KUNST DES DOKUMENTS fort und widmen uns in den nächsten Monaten dem übergeordneten Thema LANDSCHAFTEN und den formalen Ausdrucksmöglichkeiten von Dokumentarfilmen anhand unterschiedlicher SPIELFORMEN und anhand der persönlichen Annäherung an ein Thema (SPEAKING DIRECTLY). Im September zeigt das Zeughauskino Dokumentationen, mit denen wir nach Ostpreußen oder Südpersien reisen, von Turkmenien nach Sibirien mit der Eisenbahn fahren und in den Himmel Südkaliforniens schauen. Im Oktober präsentieren wir verschiedene Spielformen des Dokumentarfilms: das Doku-Drama, die Doku-Soap und den fiktiven oder halb-dokumentarischen Film. Für November und Dezember haben wir Dokumentationen ausgewählt, in denen der Filmemacher in Bild und Ton zu sehen und zu hören ist – und häufig auch in biographischer Hinsicht vom behandelten Thema berührt wird.
Die Kunst des Dokuments - Landschaften
Kalte Heimat
D 1995, R: Volker Koepp, 157’
"Knapp drei Stunden ostpreußische Gegenwart, gespiegelt in Lebensgeschichten. Die russische Enklave zwischen Polen und Litauen, die jahrzehntelang von keinem Ausländer betreten werden durfte, beherbergt ein Völkergemisch: Russen, Litauer, Moldawier, Tadschiken, Zigeuner und Ukrainer, auch ein paar Deutsche.“ (Ralf Schenk)
Mit seinem Filmtitel zitiert der Regisseur eine Verszeile des Dichters Johannes Bobrowski. Volker Koepp hat vor allem Frauen vor die Kamera geholt. Immer wieder fragt er sie, ob sie wissen, woher die Bezeichnung stammt. Eine Protagonistin antwortet, dass es eben so kalt hier sei, die Winter über die Jahre jedoch an Intensität abgenommen haben. Eine andere Frau behauptet das Gegenteil und sagt, dass alle Bewohner der Gegend aus ihren früheren Heimaten den Frost mitgenommen haben. Solche Ironie am Rande trifft ins Herz der Sache: den Nomadismus des Jahrhunderts zu bestimmen, der die Menschen dieser Landschaft umtrieb und noch weitertreiben wird.
„So bleiben auch die traumverlorenen Landschaftsbilder (Kamera: Thomas Plenert) von Dünen, Meer, Störchen und Wind kein Idyll. Die Montage verschachtelt die Erzählungen von Historie, Blut und Opfer mit den Naturbildern, die somit wie kontaminiert von Geschichte wirken. Die Verstörung von Kalte Heimat erwächst daraus, dass jede einzelne Geschichte Mosaikstein bleibt, der in keiner ‚großen Erzählung’, keiner übergreifenden politischen Moral aufgeht.“ (Stefan Reinecke).
am 07.09.2006 um 20.00 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Landschaften
Grass - A Nation’s Battle for Life
USA 1925, R: Merian C. Cooper, Ernest B. Schoedsack, 70’ | engl. Zwt.
Der spätere King-Kong-Regisseur Merian Coldwell Cooper, ein Boxer, Schwimmsportler und Seemann aus Florida, hatte im Ersten Weltkrieg in der Luftwaffe gedient, wo er den ehemaligen Mack-Sennett-Kameramann Ernest Beaumont Schoedsack traf. Gemeinsam unternahmen sie ab 1922 Forschungsreisen und produzierten mehrere dokumentarische Filme, darunter Grass (1925) und Chang – A Drama of the Wilderness (1927).
Grass erzählt von einer dramatischen Wanderung des südpersischen Stammes der Bakhtiari. Alljährlich ziehen diese Nomaden in einem entbehrungsreichen Marsch mit ihren Schafen und Ziegen vom Persischen Golf auf die Weiden des zentralen persischen Hochplateaus. „Bereits in ihrer ersten gemeinsamen Arbeit lassen Cooper und Schoedsack ihre Neigung zum großen Abenteuer erkennen: das Nomadenvolk auf seiner Wanderung wird effektvoll vor den beeindruckenden Landschaftspanoramen in Szene gesetzt. Allerdings wird auch der Tod nicht ausgespart. Wenn der Nomadenstamm einen reißenden Strom oder einen Gletscher im Zagrosgebirge überquert, wirkt dies zwar wie eine inszenierte Szene aus einem Abenteuer-in-der-Wildnis-Film; die Menschen, die bei den halsbrecherischen Unternehmungen ums Leben kommen, sind jedoch echte Todesopfer und nicht nur auswechselbare Statisten.“ (AFK-Filmstudio an der Universität Karlsruhe).
Klavierbegleitung: Peter Gotthardt
am 14.09.2006 um 20.00 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Landschaften
Turksib - Stalnoi Put
Turksib - Die Stahlstraße
UdSSR 1929, R: Viktor Turin, 56’ | dt. Zwt.
Turksib ist einer der zentralen russischen Dokumentarfilme der späten Stummfilmzeit, dessen Ende er gleichsam markiert. Turin schildert den Bau der gleichnamigen Eisenbahnstrecke von Turkmenien und Kasachstan nach Sibirien mit dem 1927 begonnen wurde. Turins Film macht sichtbar, dass die Rohstoff-Potentiale jener abgeschiedenen Gegenden brach liegen mussten, weil es an Infrastruktur fehlte: Das wenige Wasser, das die Schneeschmelze der trockenen Gegend beschert, dient zunächst dem Anbau von Weizen. Baumwolle könnte man anbauen, doch geben das die Vegetationszyklen nicht her. Am anderen Ende des Landes wird Bauwolle aus Überseetankern gelöscht. „Mit sowjetischem Gold teuer bezahlt: Baumwolle aus Ägypten und Amerika“, kündet ein Zwischentitel. Der nächste Zwischentitel: „Liefert Zentralasien Brot, dann wird sie auf befreiten Feldern wachsen: die Baumwolle.“
Aus Propagandagründen wurde Turksib bereits vor der Bahnlinie, dessen Bau der Film eigentlich dokumentieren sollte, fertig gestellt – was ihn zum Zwitter zwischen abbildendem Zeugnis und werbendem Appell macht. Außerhalb der Sowjetunion wurde Turins Film vor allem in Großbritannien rezipiert. Dort wurde er in einer Fassung gezeigt, die der englische Dokumentarfilmpionier John Grierson in Absprache mit Turin hergestellt hatte und die einen großen Einfluss auf die britische Dokumentarfilmbewegung der dreißiger Jahre ausübte.
Klavierbegleitung: Peter Gotthardt
am 21.09.2006 um 20.00 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Landschaften
Ten Skies
USA 2004, R: James Benning, 101’ ohne Dialog
Zehn Einstellungen von jeweils zehn Minuten Länge, die den Himmel Südkaliforniens zeigen. In seinem ‚Arbeitsheft’ zu Ten Skies notierte James Benning: „Der Film nimmt sich das Licht zum Gegenstand der Betrachtung und zwar direkt an seiner Quelle: der Sonne. Alle zehn Himmel wurden von meinem Garten in Südkalifornien aus aufgenommen. Himmel, die von Wetterfronten, Gebirgszügen, Buschfeuern, Verschmutzung und dem Wind geformt wurden. Himmel als Funktion der Landschaft. Der Ton gibt Hinweise auf das unter ihm liegende Land. Jeder Himmel ist ein Detail, das aus dem Ganzen ausgewählt wurde. Manchmal dramatisch, manchmal eine Metapher für den Frieden. Alle Einstellungen sind am Ende von einer hohen dynamischen Qualität, die ich so zuvor noch nicht gesehen habe, weil ich nie den Mut hatte, sie zu entdecken. Ich habe fünfzig Jahre gebraucht, um den Himmel auf diese Weise zu betrachten! Ich nenne das 'Found Paintings'. Meine Landschaftsarbeiten erscheinen mir heute als Antikriegs-Kunstwerke – es geht in ihnen um die Antithese zum Krieg, um jene Art von Schönheit, die wir zerstören. Die Aufnahmen zu Ten Skies entstanden aus meinem Nachdenken darüber, was wohl das Gegenteil des Krieges wäre."
„Wenn man aus diesem Film heraustritt, ist man so sensibilisiert, dass man die normale Aufgeregtheit des Erzählkinos kaum mehr erträgt.“ (Michael Althen)
am 28.09.2006 um 20.00 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Spielformen
Chang: A Drama of the Wilderness
USA 1927, R: Merian C. Cooper, Ernest B. Schoedsack, 90’ engl. Zwt.
Nach dem für sie selbst überraschenden Box-Office-Erfolg von Grass reisten Ernest B. Schoedsack und Merian C. Cooper in den Dschungel Nord-Thailands, wo sie zwei Jahre lang Aufnahmen für ihren zweiten halbdokumentarischen Film Chang machten: Chang zeigt den Kampf des Jungen Kru und seiner Familie vom Stamm der Lao. Im siamesischen Dschungel verlassen sie ihr Territorium, trotzen dem Urwald eine Lichtung ab, kämpfen gegen Leoparden und Tiger und zähmen einen jungen Elefanten. Die aufregende und sorgsam strukturierte Geschichte mündet in eine (zum Teil nachgestellte) Zerstörung eines ganzen Dorfes durch eine Herde von Elefanten-Kühen.
Mit ihren beiden Dokumentarfilm-Klassikern haben Cooper und Schoedsack nicht nur optische Standards für sämtliche Dschungelabenteuerfilme der Folgezeit gesetzt, sondern auch die großen Themen ihrer nachfolgenden Spielfilme, vor allem King Kong (1933), vorweggenommen.
„Chang zeigt beeindruckende, dokumentarische Tieraufnahmen, wie sie heute gar nicht mehr möglich sind, da das Land kultiviert und viele Tierarten (wenn nicht vollständig, so überwiegend) ausgestorben sind.“ (www.thaipage.ch)
Klavierbegleitung: Jürgen Kurz
am 05.10.2006 um 20.00 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Spielformen
Speer und Er
D 2005, R: Heinrich Breloer, D: Sebastian Koch, Tobias Moretti, Dagmar Manzel, Axel Milberg, 3 x 90', Digi Beta
Speer und Er versucht in Form eines Doku-Dramas zum Kern des Lebens- und Weltbildes des Architekten und Rüstungsminister Albert Speer vorzudringen. Es zeigt in einer vielfältigen Mischung aus Gesprächen, Selbstaussagen, nachgestellten Spielszenen und historischem Material den rasanten Aufstieg, tiefen Fall und neuerlichen Aufstieg (diesmal zum Medienstar) eines Mannes, der 1932 als mittelmäßig begabter freier Architekt begonnen hatte. Bereits 1931 der NSDAP und auch der SA beigetreten, ergriff Speer mit dem Machtantritt Hitlers lediglich seine Chance.
Im Zentrum steht zwangsläufig Speers enge Beziehung zu Adolf Hitler, dessen Größenfantasien er nährte und ihnen in konkretem Bauvorhaben Ausdruck verlieh. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gelang es Speer, ein Bild von sich als sympathischem Künstler zu zeichnen, der von den Verbrechen des Regimes nichts gewusst haben wollte. Eine Sichtweise, die er in 20 Jahren Haft in zahlreichen Schriften variierte und perfektionierte.
Die Titel der einzelnen Teile:
(1) „Germania – Der Wahn“,
(2) „Nürnberg – Der Prozess“,
(3) „Spandau – Die Strafe“.
Ergänzend zum Film zeigt das Zeughauskino die Dokumentation Nachspiel – Die Täuschung. Breloer rekonstruiert hier die Entfremdung Speers von seiner Familie und die Zerstörung seines selbstgebauten Mythos anhand von Originaldokumenten.
Mit freundlicher Unterstützung des WDR
Eintritt frei
am 12.10.2006 um 18.15 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Spielformen
Geburtsstation II
D 2004, R: Corinna Belz, 156' (6 x 26'), Beta SP
Geburtsstation II ist eine sechsteilige Dokumentationsreihe über die Arbeit von Ärzten, Schwestern und Hebammen im Rudolf-Virchow-Klinikum in Wedding.
1999, zur Ausstrahlung dieser ersten ‚seriösen Doku-Soap der Fernsehgeschichte’ (Arte-Presseerklärung) im Programm des deutsch-französischen Kulturkanals erklärte der Produzent Artad Bondy: „Es ist eine neuartige Form, um die endgültige Verdrängung des dokumentarischen Films aus dem TV-Angebot zu verhindern.“
Mehr als herkömmliche Dokumentationen zielt das Format der Doku-Soap auf die Emotion der Zuschauer: durch einen spielfilmorientierten Schnitt und dramatische Erzählstrukturen. Die Episoden der Serie erzählen Geschichten vom Hoffen und Bangen, von Leben und Tod. Keines der dargestellten Ereignisse ist erfunden oder inszeniert, nicht einmal die Entbindung auf dem Seitenstreifen der Autobahn.
am 19.10.2006 um 20.00 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Spielformen
The War Game
GB 1965, R: Peter Watkins, 50' OF
The War Game ist eine fiktive Reportage über einen sowjetischen Atombombenangriff auf englische Städte und dessen schreckliche Auswirkungen auf die Bevölkerung. Peter Watkins inszenierte und produzierte seinen Film für die BBC-Reihe „The Wednesday Play“.
The War Game verursachte einen Schock innerhalb der BBC wie auch der damaligen britischen Regierung. Es war geplant, den Film am 21. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima am 6. August 1966 zu senden, aufgrund des dramatischen Inhalts wurde jedoch von einer Ausstrahlung abgesehen. Die BBC rechtfertigte ihre Entscheidung damals folgendermaßen: „Die Wirkung des Filmes wurde von unserem Haus als zu entsetzend bewertet, als dass eine Ausstrahlung in Frage käme“. Erst 1985 war The War Game erstmals im britischen Fernsehen zu sehen.
Für seine Produktion gewann Peter Watkins 1966 den Dokumentarfilm-Oscar
am 26.10.2006 um 20.00 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Speaking Directly
Tracking Down Maggie
GB 1994, R: Nick Broomfield, 87’ OF, Beta SP
Respektlosigkeit und die Befähigung, auch definitive Niederlagen noch in einen Sieg zu münzen, zeichnet die dokumentarische Arbeit Nick Broomfields aus.
Tracking Down Maggie gründet ganz und gar auf einer Schlappe: Broomfield versuchte 1994 die einstige britische Premierministerin für ein Interview zu gewinnen, das sich dem unbekannten Teil ihrer Persönlichkeit widmen sollte. Vom Anfang bis zum Schluss dieses Films sieht man, wie die gehetzte Eiserne Lady dem inquisitorischen Drehteam zu entfliehen versucht. Der brisanteste Teil des Films, und wohl auch einer der wesentlichen Gründe für Margaret Thatchers Verweigerung gegenüber diesem Porträt ist die Recherche um die verdächtigen Umtriebe von Mark Thatcher – erstens einer der reichsten Männer Englands und zweitens Mrs. Thatchers Sohn.
Obwohl Mark Thatchers enge Verbindungen zum internationalen Waffenhandel allgemein bekannt sind, vermochte seine Mutter bis zum Zeitpunkt der damaligen Dreharbeiten erfolgreich zu verhindern, dass die Sachverhalte juristisch untersucht werden.
„Broomfield bekommt praktisch eineinhalb Stunden lang rigoros den Zugang zum Objekt seines dokumentarischen Begehrens verwehrt; dennoch enthüllt das Resultat seiner Anstrengungen manche Facetten von Thatchers Persönlichkeit, die ‚intimere’ filmische Annäherungen nie ans Licht gebracht hätten.“ (David Rooney) .
am 02.11.2006 um 20.00 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Speaking Directly
November Days
November Tage
BRD/GB 1989/ 90, R: Marcel Ophüls, 129' dt. Fass., Beta SP
Seine viel bewunderte Methode, zu der immer auch gehört, dass er sich wortwörtlich selbst mit ins Spiel bringt, bezeichnete Marcel Ophüls einmal als „investigativen Sarkasmus“. November Days, gedreht für die BBC London, ist ein eigenwilliger Stimmungsbericht über den Mauerfall in Berlin und die Monate danach. Es ist ein Film, der durch die Gegenwart und Vergangenheit navigiert, indem er ein Kaleidoskop aus Gesprächen mit Zeitgenossen, Nachrichtenbildern und Szenen von der Straße erzeugt, und diese mit Ausschnitten aus Filmen wie Der blaue Engel, Stagecoach und Cabaret mischt.
Seine Protagonisten suchte er nach langer Recherche in ihrer Umgebung auf und sprach mit ihnen über das, was sie an jenem Tag und in der Zwischenzeit erlebten. Ein Film, der sich aus vielschichtigen Erzählungen und Bildern zusammensetzt und auf dem komplexen Zusammenhang von Politik und Alltag besteht.
"Der Blick eines Dokumentarfilmers muss sowohl die Stimmung der Menschen, als auch die eigene Überzeugung berücksichtigen... Ich glaube weiterhin, dass der 9. November ein Freiheitsfest war. Außerdem bin ich kein Marxist, und deshalb hat für mich das Konzept von persönlicher Freiheit nicht unbedingt etwas mit Ökonomie zu tun. Dass schwere Zeiten auf Ostdeutschland zukommen und die Menschen Angst vor der Arbeitslosigkeit haben, ist ja auch spürbar in dem Film. In gewisser Weise ist er schon eine Komödie. Aber eine schwarze." (Marcel Ophüls).
am 09.11.2006 um 20.00 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Speaking Directly
Roger & Me
USA 1989, R: Michael Moore, 91’ | OmU
Vergeblich sucht Michael Moore – er ist das ‚Me’ – mit einer 16mm Kamera ‚bewaffnet’, nach seinem Kontrahenten Roger Smith, den Vorstandsvorsitzenden von General Motors. Roger & Me spielt in Flint, Michigan. Flint ist Michael Moores Geburtsstadt, auch die Geburtsstadt von General Motors, sowie der ersten Industriegewerkschaft der USA.
Über drei Jahre hinweg, so lange hat Moore an diesem (seinem ersten) Film gedreht, ist Roger Smith für den Filmemacher nicht zu sprechen. Geschickt entzieht sich der Manager einer Stellungnahme zu seinem ‚genialen Plan’ (O-Ton Roger Smith) einen großen Teil der GM-Produktion ins benachbarte Billiglohnland Mexiko zu verlegen.
Die scheiternden Versuche, Roger als Hauptverantwortlichen der Tragödie von Flint auftreten zu lassen, bilden den Rahmen einer Real-Groteske über die Kehrseite des American Dream. Innerhalb dieses Rahmens: mit Witz montierte Episoden über die Veränderungen in einer mittleren Industriestadt, deren 150.000 Einwohner bis 1987 ausschließlich für, mit und von General Motors gelebt haben und die nachdem 30.000 Beschäftigte entlassen wurden zur Arbeitslosenhauptstadt der USA wurde.
Michael Moore sieht zwar nett und harmlos aus, „doch als Regisseur ist er ein Intellektueller. Seine Dokumentarszenen kommentiert er mindestens so sarkastisch wie Alexander Kluge, er schneidet sie so brutal und wirkungsvoll gegeneinander, wie man das seit Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin nicht mehr gesehen hat.“ (Willi Winkler, Der Spiegel).
am 16.11.2006 um 20.00 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Speaking Directly
Tarnation
USA 2003, R: Jonathan Caouette, 88' | OmU
Die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion ist so durchlässig geworden wie noch nie in der Geschichte des Films, und immer häufiger haben Regisseure in den vergangenen Jahren ihre Kamera auf sich selbst gerichtet. Ein letzter weißer Fleck wird so erobert, das unsichtbare „Ich“ hinter der Kamera ausgekundschaftet – oft spielerisch, was natürlich auch an den kleinen billigen Videokameras liegt. Tarnation von Jonathan Caouette konnte nur dank digitaler Kameras und der Schnittsoftware von Apple entstehen. 218 Dollar, heißt es, hat der Film gekostet.
Von einem Jungen namens Jonathan wird hier erzählt, dessen Mutter verrückt gemacht wurde mit Elektroschocks, geschwängert, verlassen, vergewaltigt vor den Augen ihres Sohnes. Als Elfjähriger fängt Jonathan an, sein Leben zu dokumentieren, mit sechs verschiedenen Kameras, 160 Stunden Material sind so entstanden
„Aus diesen Bruchstücken – Home Movies, Fotos, alten Nachrichten auf Anrufbeantwortern, Ausschnitten aus eigenen Kurzfilmen und Videotagebüchern – hat Caouette ein fiebriges Selbstporträt montiert, dessen Bilder er kaum unter Kontrolle halten kann. Sie zersplittern, verlaufen oder drohen zusammenzufließen. Wie man sich am eigenen Schopf aus diesem Sumpf zieht, einen Rhythmus findet und eine Struktur, ist in diesem aufregenden Debüt zu sehen. Geschnitten ist Tarnation virtuos und verführerisch wie ein Musikvideo.“ (Martina Knoben, Süddeutsche Zeitung).
am 30.11.2006 um 20.00 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Speaking Directly
Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß
D 2005, R: Malte Ludin, 87’
Im Zentrum von Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß steht Hanns Elard Ludin – ein überzeugter Nationalsozialist und SA-Führer, ein ehrgeiziger Funktionsträger des Hitler-Staates aber auch eine Art lebenslustiger Fixstern, um den das Leben seiner Familie kreiste. Am 9. Dezember 1947 wurde Hanns Ludin, der 1941 von Hitler als Gesandter und bevollmächtigter Minister des Großdeutschen Reiches in die Slowakei geschickt wurde, in Bratislava als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Malte Ludin, der Regisseur des Films, ist der jüngste Sohn von Hanns Ludin. Geboren 1942 hat er seinen Vater kaum gekannt. Dessen Geschichte stellte sich für ihn, seine Mutter, seine vier Schwestern, seinen Bruder, aber auch die dritte Generation seiner Nichten und Neffen als ein verdrängter und gerade deshalb immer präsenter Schatten dar.
Malte Ludins Film ist ebenso Dokument wie Monument. Er macht das Schweigen, die Beschönigungen und Verdrängungen, die seine Familiengeschichte sechzig Jahre lang geprägt haben, produktiv, indem er sie offensiv thematisiert, ihre Unterschiedlichkeit herausarbeitet und kontrastiert. Weder kann, noch will er dabei neutraler, geschweige denn selbstgerechter Beobachter sein, vielmehr bringt er sich selbst als Protagonist des Vorhabens ins Spiel, das er initiiert hat. Sein Film ist eine kontrapunktische und vielstimmige Auseinandersetzung um die historische und familiäre Wahrheit. Erstmals findet sich die gesamte Familie eines prominenten Nazis zu einer solchen Aufarbeitung bereit.
am 07.12.2006 um 20.00 Uhr
Die Kunst des Dokuments - Speaking Directly
The Sweetest Sound
USA 2001, R: Alan Berliner, 57' | OmU
"Ich wollte einen Film über Identität drehen, über den Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Einzigartigkeit und der Sehnsucht nach einer Gemeinschaft", gab der Regisseur einmal zu Protokoll. Mit The Sweetest Sound liefert Alan Berliner kauzige Geständnisse eines Namensabhängigen. Confessions of a Name-Addict sollte so auch ursprünglich der Titel seines Films lauten.
„Was verbindet einen Rechtsanwalt in Columbus mit einem Sozialarbeiter in Seattle, einem Starfotografen in Los Angeles, einem Regisseur in Belgien und seinem Kollegen in den USA? Der Name Alan Berliner liegt eigentlich auf der nicht besonders aufregenden Schnittstelle zwischen Extravaganz und Allerweltssyndrom , phonetischem Glamour und Hinz und Kunz. Trotzdem wollte der New Yorker Filmemacher Alan Berliner eines Tages wissen, was ihn mit allen seinen Namensvettern auf diesem Planeten verbindet – oder auch nicht. Herausgekommen ist The Sweetest Sound, ein persönlicher Essay über private Semantik und Familienverhältnisse, Individualismus und Sterblichkeit. (…) Unter allem aber lauert Berliners unausgesprochene Angst, dass die Spur, die irgendwann auf unserem Grabstein zurückbleibt, vielleicht doch nur ein überinterpretiertes esoterisch-astrologisches Privatzeichen ist, das irgendwann auf dem anonymen Müllhaufen der Geschichte verschwindet.“ (Katja Nicodemus).
am 14.12.2006 um 20.00 Uhr
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