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  REVOLUTIONEN AUS DEM OFF

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
EINE RETROSPEKTIVE DES DRITTEN KINOS IM AUFBRUCH

Die anlässlich des 40. Jubiläums von 1968 neuerlich angefachte Diskussion über das gesellschaftliche Vermächtnis der Studentenrevolte belegt die ungeminderte Strahlkraft dieses historischen Datums. Dass sich im vorangegangenen Jahrzehnt und weit bis in die 1970er Jahre in Lateinamerika, Afrika und Asien soziale Bewegungen formierten, die in ihrer revolutionären Vehemenz die Revolten in Paris, Berlin oder Berkeley in den Schatten stellten, fällt leicht aus der eurozentrischen Wahrnehmung jener Ära heraus. Dabei begünstigten diese „Revolutionen aus dem Off“ die Entstehung eines politisch und bisweilen ästhetisch radikalen Kinos, das alle Register zog: vom generischen Erzählfilm bis zu experimentellen und dokumentarischen Formen, von Agitprop bis zu kritischer Reflexion, von der Besinnung auf einheimische Traditionen bis zur Anverwandlung modernistischer Einflüsse. So wie die sozialen Bewegungen, die es begleitete und mitgestaltete, stand dieses Kino für einen dritten Weg jenseits der konkurrierenden Machtblöcke USA und Sowjetunion, aber auch jenseits von Hollywood auf der einen und des mit der europäischen Linken assoziierten Autorenfilms auf der anderen Seite. In ihrem vor 40 Jahren veröffentlichten Manifest Hacia un tercer cine tauften die Filmemacher Octavio Getino und Fernando E. Solanas diesen dritten Weg das „Dritte Kino“. Die Reihe REVOLUTIONEN AUS DEM OFF stellt die bemerkenswerte Vielfalt politischer und ästhetischer Entwürfe im Einzugsgebiet des Dritten Kinos vor. Das Programm, das Stefan Eichinger, Lukas Förster, Sarah Klaue, Melanie Marx, Nikolaus Perneczky und Cecilia Valenti kuratiert haben, umfasst 34 Filme aus 14 Ländern im Zeitraum von 1955-1977, darunter etliche Raritäten, die in Deutschland nur selten zu sehen waren.

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Mababagnong bangungot
Der parfümierte Alptraum

RP 1977, R: Kidlat Tahimik, D: Kidlat Tahimik, Mang Fely, Dolores Santamaria, 93' OmU

Kidlat ist ein Jeepney-Fahrer in einem kleinen Dorf in der philippinischen Provinz. Außerdem arbeitet er als Vorsitzender des örtlichen Wernher-von-Braun-Fanclubs, sein favorisierter Radiosender ist Voice of America. Eines Tages erhält Kidlat aus heiterem Himmel das Angebot, nach Europa zu fliegen. Es folgt die Inszenierung eines Kulturschocks der anarchischen Art...
Tahimiks wilde Montage heterogener Bilder und Töne ist hybride, rauschhaft und ein frühes Manifest der Globalisierungskritik. Mit minimalem Budget auf 8mm gedreht (vorgeführt wird Mababagnong bangungot als 16mm blow-up), bricht der Filmmit allem, wofür die philippinische Filmindustrie bis heute steht. Deren standardisierten Melodramen setzt Tahimik seinen eigenen Entwurf von Kino als einem gleichzeitig persönlichen und hoch politischen Medium entgegen. Mababagnong bangungot versucht nicht, Hollywoods Studiomaschinerie zu imitieren, sondern begreift, in der Tradition des Dritten Kinos, finanzielle und logistische Beschränkungen als Potential, als eine Möglichkeit, Kino von den Fesseln der Konvention und des politischen Konformismus zu befreien.
Der Regisseur des Films heißt ebenfalls Kidlat. Bis zu seinem 30. Lebensjahr hörte Kidlat Tahimik freilich auf den Namen Eric de Guia und war drauf und dran, als Wirtschaftswissenschaftler in den USA und in Frankreich Karriere zu machen. Wenig ließ darauf schließen, dass de Guia einige Jahre später mit seiner phantasmatischen Autobiographie Mababagnong bangungot das unabhängige philippinische Kino begründen sollte.

Einführungsvortrag: Nikolaus Perneczky

am 18.4.2009 um 18.30 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Gishiki
Die Zeremonie

J 1971, R: Nagisa Oshima, D: Kenzo Kawarasaki, Atsuko Kaku, Kei Sato, 123’ OmU

Für Gishiki stellte die Art Theatre Guild, die sich nach 1968 zum bedeutendsten Sammelbecken für unabhängige japanische Autorenfilmer entwickelt hatte, dem Regisseur Nagisa Oshima dessen bis dahin größtes Budget zur Verfügung. Oshimas Film erzählt seine eigene und Japans Geschichte und setzt sie in Beziehung zur patriarchalischen Militärdiktatur. Die Großfamilie Sakurada vereint unter ihrem Dach Großväter und Enkel, Regierungsfunktionäre und Kommunisten, Kriegsverbrecher und deren Opfer: eine Allegorie der japanischen Nachkriegsgesellschaft. Den Zeremonien der Familie – Hochzeiten, Begräbnisse, Todestage – korrespondieren neuralgische Punkte der japanischen Geschichte seit 1945: die Säkularisierung der vormals göttlichen Herrschaft des Tenno, das japanisch-amerikanische Sicherheitsabkommen, der Aufbruch der radikalen Studentenbewegung.
Sich der eigenen Herkunft zu vergewissern, um diese zu überwinden; so ließe sich der politische Einsatz von Gishiki auf den Punkt bringen. Oder, mit den Worten Oshimas, der im Alter von sechs Jahren zum Halbwaisen wurde: „Was können Eltern für ihre Kinder tun? Nichts. Angenommen, sie könnten doch etwas tun, wäre es dann nicht allenfalls, so früh wie möglich zu sterben?“ (Nagisa Oshima, in: Die Ahnung der Freiheit, 1982)

Einführung: Kayo Adachi-Raabe

am 18.4.2009 um 21.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Borom Sarret
SN 1963, R: Ousmane Sembène, D: Abdoulaye Ly, 22’ Beta SP, OF (dt. eingesprochen)

Badou Boy
SN 1970, R: Djibril Diop Mambéty, D: Laminé Ba, Al Demba Ciss, Christoph Colomb, 59’ OF (dt. eingesprochen)

Borom Sarret erzählt die Geschichte eines Kutschers, der auf seinen Fahrten durch Dakar den verschiedenen Gesichtern der Stadt begegnet. Als er sich dem Verbot widersetzt, mit dem Karren die Grenze zum Verwaltungsdistrikt zu überqueren, wird er von einem Polizisten angehalten und sein Gefährt konfisziert. Mit leeren Händen kehrt er zu Frau und Kindern zurück.
Der senegalesische Regisseur Ousmane Sembène gilt zu Recht als Gründervater des afrikanischen Kinos, und dies in mehrerer Hinsicht: Sein 1963 entstandenes Debüt Borom Sarret ist nicht nur der erste von einem afrikanischen Filmemacher in Afrika realisierte Film, er gab mit seiner Verbindung von sozialem Realismus und der offenen Form des Stationendramas zugleich eine Erzählweise vor, die für viele afrikanische Regisseure in der Nachfolge Sembènes verbindlich werden sollte. Auch Thema und Personal von Borom Sarret – die postkoloniale Gesellschaft und ihre zur politischen Allegorie verdichteten Akteure – sollten sich kommenden Generationen afrikanischer Filmschaffender als zentrale Bezugspunkte empfehlen.
Acht Jahre später knüpft der ebenfalls aus Senegal stammende Djibril Diop Mambéty an diese Tradition an, um sie im anarchisch verspielten Badou Boy ins Komische zu wenden. Aus dem Kutscher wird ein kleiner Junge, aus dem Karren ein Bus, aus dem zielvollen Ernst des Brotberufs der Spaß einer wilden, ungerichteten Verfolgungsjagd. Auch hier tritt ein Polizist als Repräsentant der Obrigkeit auf, die dem Protagonisten aus einfachen Verhältnissen das Leben schwer macht; mit dem entscheidenden Unterschied, dass der gewitzte Badou Boy seinem behäbigen Verfolger immer um eine Nasenlänge voraus ist.

Einführung: Marie-Hélène Gutberlet

am 19.4.2009 um 19.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
La muerte de un burócrata
Der Tod eines Bürokraten

C 1966, R: Tomás Gutiérrez Alea, D: Salvador Wood, Silvia Planas, 85’ OmU

Die herausragende Stellung, die das Kino im nachrevolutionären Kuba für die Ausbildung eines politischen Bewusstseins genoss, verlangte nach einem einheimischen Kino, das zum einen an das bewährte Populärkino anknüpfte, es zugleich jedoch zu einem emanzipatorischen Instrument für die Bevölkerung zu entwickeln vermochte. Gelungene Beispiele für die Vereinigung dieser beiden Vorhaben finden sich in den Satiren von Tomás Gutiérrez Alea.
In La muerte de un burócrata begleitet der Neffe nach dem Begräbnis des Onkels seine Tante aufs Amt, um ihr bei einem Rentenantrag behilflich zu sein. Doch die Rente kann nur gegen Vorlage des Arbeitsbuchs des Onkels genehmigt werden – jenes Nachweises, der mit dem Onkel begraben worden ist. Was bleibt dem Neffen anderes übrig, als den Leichnam wieder auszugraben? Einmal ausgegraben, erweist sich die neuerliche Bestattung des Onkels als eine schier unüberwindbare bürokratische Hürde.
Aleas vierter Spielfilm, dessen Vorspann eine Hommage an zahlreiche Größen der Filmgeschichte ankündigt, verbindet eine flotte Erzählweise mit einer kunterbunten Stilvielfalt: von chaplinesken Slapstickeinlagen bis zu Bergmanschen Alptraumsequenzen. Die durchgehenden Seitenhiebe auf allerlei Spielarten fantasieloser Propagandakunst bilden einen Subtext, der auf die teilweise heftigen zeitgenössischen Dispute innerhalb der kubanischen Kulturszene über die angemessene Form politischer Kunst Bezug nimmt.

am 22.4.2009 um 20.30 Uhr

am 26.4.2009 um 19.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Afrique-sur-Seine
F 1955, R: Paulin Soumanou Vieyra, 21’ DVD, OmeU

Concerto pour un Exil
CI/F 1968, R: Désiré Écaré, 42’ OF

Afrique-sur-Seine von 1955 gilt als die erste Regiearbeit eines Afrikaners in der Geschichte des Films. Dass der Filmemacher Paulin Vieyra, der erste afrikanische Absolvent des Pariser IDHEC (Institut des Hautes Études Cinématographiques), sein Debüt nicht wie beabsichtigt auf afrikanischem Boden geben konnte, ist einer gesetzlichen Verfügung der französischen Kolonialmacht geschuldet, wonach jedes Filmprojekt auf dem Territorium des damaligen Französisch-Westafrika noch in der Planungsphase vom betreffenden Gouvernement abgesegnet werden musste. Eine Gnade, die Vieyra nicht zuteil wurde, weshalb er sich genötigt sah, die Dreharbeiten und mithin den Ort der Handlung von seiner senegalesischen Heimat nach Paris zu verlagern. Es entstand ein Film über das Afrika der Ausgewanderten und Ausgestoßenen, über die afrikanische Diaspora an der Seine, der trotz widriger Produktionsbedingungen ein weitaus optimistischeres Bild zeichnet als über zehn Jahre – und etliche Migrationswellen – später Med Hondos verzweifelnder Soleil Ô (23.5.).
Désiré Écarés Concerto pour un exil, eine Bestandsaufnahme der afrikanischen Intelligenzia im Paris des Jahres 1968, begegnet seinem Gegenstand mit einem gerüttelt Maß Ironie und stilistischer Lässigkeit, die an die scheinbare Leichtigkeit der Nouvelle Vague gemahnt – mit ein Grund, weshalb Concerto pour un exil aus der kanonischen Filmgeschichtsschreibung, die das afrikanische Kino dieser Ära allzu leichtfertig auf den Ernst eines didaktischen Realismus reduzieren will, heraus fällt.

am 24.4.2009 um 21.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
La hora de los hornos
Die Stunde der Hochöfen

RA 1968, R: Fernando E. Solanas, B: Fernando E. Solanas, Octavio Getino, Ass.: Gerardo Vallejo, 255’ OmeU

In Pesaro uraufgeführt, in Argentinien dagegen bis zur Rückkehr Juan Peróns 1973 nur heimlich gezeigt, gilt das in fast dreijähriger Arbeit entstandene, monumentale Erstlingswerk der Gruppe Cine Liberación als Inbegriff des lateinamerikanischen Politkinos. Mittels einer überwältigenden Vielfalt von Zitat-Titeln und Bild-Ton-Montagen wird in insgesamt drei Teilen ein Panorama sowohl der politischen Situation Argentiniens als auch der weltweiten Befreiungskämpfe der Dritten Welt entworfen.
Der streng in Kapiteln gegliederte erste Teil entwickelt eine Anatomie des Neokolonialismus und seiner gewaltsamen Ausdrucksformen im lateinamerikanischen Alltag. Im zweiten Teil wird zuerst das Fortwirken kolonialer Strukturen seit der Unabhängigkeit bis zum Sturz Peróns 1955 rekonstruiert, anschließend dokumentieren Interviews mit Vertretern der Gewerkschaft, mit Arbeitern und Studenten das Fortwirken des Peronismus. Die gegen Ende des zweiten Teils gestellte Frage, wie der zunehmenden politischen Eskalation begegnet werden solle, findet schließlich im letzten Teil tendenziell eine Antwort: bewaffneter Widerstand und Solidarität unter den Völkern der Dritten Welt in der globalen Konfrontation mit dem nordamerikanischen Imperialismus.
Nur ein Jahr nach der Aufführung des Films sollte ein Volksaufstand in Córdoba die politische Balance über Jahre hinweg erschüttern und das argentinische Politkino in neue Bahnen lenken. Die Ereignisse von Córdoba sind das Thema von Ya es tiempo de la violencia (16.5.).

am 25.4.2009 um 18.30 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Sanrisuka: Dainitoride no hitobito
Die Bauern der zweiten Festung

J 1971, R: Shinsuke Ogawa, 142’ OmeU

Sanrisuka: Dainitoride no hitobito ist Teil einer episch angelegten Langzeitbeobachtung der Dorfgemeinschaft von Sanrisuka in der Präfektur Chiba im Südosten Japans – ein engagiertes Dokument der von ansässigen Bauern und ihren studentischen Verbündeten getragenen Protestbewegung in den späten 1960er Jahren, die sich gegen den Bau des Flughafens von Narita richtete. Während die Bauern sich weigerten, ihr Land preiszugeben, vermuteten die Studenten, Narita solle im Kriegsfall zum Stützpunkt der US-amerikanischen Luftwaffe umfunktioniert werden. Ihr gemeinsamer Widerstand fand zahlreiche Ausdrucksformen: von öffentlichen Appellen über Gerichtsklagen bis zu kämpferischen Auseinandersetzungen mit der Polizei – bis der Protest Mitte der 1970er Jahre endgültig niedergeschlagen wurde.
Shinsuke Ogawa, dessen Werk das Selbstverständnis der japanischen Linken ebenso nachdrücklich geprägt hat wie es Generationen sozial bewegter Dokumentarfilmer zum Vorbild werden sollte, lebte und arbeitete in einem Kollektiv, das neben der Herstellung der Sanrisuka-Filme auch deren Distribution und Vorführung in ganz Japan besorgte und sich dafür auf die organisatorische Hilfe lokaler politischer Gruppierungen stützte. Stand zunächst die unumwundene Anstiftung zu politischer Aktion im Vordergrund der Ogawa Pro, verschob sich der Akzent nach dem Abebben der Studentenbewegung hin zur Beschäftigung mit im Verschwinden begriffenen Lebensformen des ländlichen Japan.

Einführung: Bert Rebhandl

am 29.4.2009 um 20.30 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Theptida Rongraem
Hotelengel

T 1974, R: Prinz Chatrichalerm Yukol, D: Soraphong Chatri, Wiyada Umarin, 103’ DVD, OmeU

Theptida Rongraem – der Titel bezeichnet einen Euphemismus für Prostituierte – war nach Khao Chue Karn (Doktor Karn) der zweite sozialkritische Film des jungen Regisseurs. Wie Ersterer basiert auch Theptida Rongraem auf einer Vorlage aus der politisch engagierten Literatur-für-das-Leben-Strömung. Im Gegensatz zu dem ein Jahr vor dem Fall der Diktatur Thanoms gedrehten Khao Chue Karn, der die Korruptheit des Regimes anprangerte, erzählt Theptida Rongraem, der im ersten Jahr nach der erfolgreichen Vertreibung Thanoms durch protestierende Studenten entstand, eine Geschichte von sexueller Ausbeutung und ihrer Überwindung.
Malee ist ein naives Bauernmädchen aus einer nördlichen Provinz, das sich von ihrem Freund aus dem Heimatdorf nach Bangkok locken lässt. Dort angekommen, wird sie zugleich an einen Zuhälter verkauft und begegnet Mädchen, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben, sowie jungen Männern, die aus ihrer Arbeit als Prostituierte persönliches Kapital schlagen wollen. Fügt sich Malee zu Beginn scheinbar mühelos ihrem Schicksal, so verändert die Begegnung mit einem Mädchen, das sich lieber in den Tod stürzt als zur Prostitution gezwungen zu werden, Malees Sichtweise. Dank einer geschickten Montage dieser Szene mit den erfolgreichen Studentendemonstrationen des Vorjahres entfaltet der bis dahin mal sozialrealistischem, mal asiatischem Genrekino verpflichtete Film schlagartig eine allegorische Dimension. Theptida Rongraem ist ein Klassiker des neuen, politisch engagierten thailändischen Kinos der 1970er Jahre.

Einführung: Ekkehard Knörer

am 2.5.2009 um 21.00 Uhr

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Cuando despierta el pueblo
Wenn das Volk erwacht

RCH 1973, R: Kollektiv, 60’ OmeU

Der Beginn der Präsidentschaft Salvador Allendes im Jahre 1970 und dessen Reformen bedeuteten für die ärmeren Bevölkerungsschichten Chiles eine kurzfristige finanzielle Besserung. Doch der Unidad Popular gelang es nicht, die Inflation einzudämmen, so dass es zu landesweiten Streiks und Protesten kam und im September 1973 ein Militärputsch stattfand. Cuando despierta el pueblo wurde ein Vierteljahr vor diesem einschneidenden Ereignis fertiggestellt. Der Film entwirft eine Geschichte vom Kolonialismus bis zum Aufbau des Sozialismus unter Allende. Dabei wird der permanente Kampf gegen die Ausbeutung durch den internationalen Kapitalismus betont. Bemerkenswert ist, dass der in Kooperation mit dem US-amerikanischen Verleiher Tricontinental produzierte Film in seinen zahlreichen Interviews immer wieder deutlich eine radikale linke Position vertritt. So wird in der Kritik am Vorgehen der Unidad Popular auch die Frage eines bewaffneten Eingreifens gegen die Regierung diskutiert. Cuando despierta el pueblo lässt sich mit dem ungleich bekannteren Film La hora de los hornos (25.4.) vergleichen, der in seinem Entwurf einer Gegengeschichte aus argentinischer Sicht noch offener agitatorisch vorgeht. Des Weiteren liefert Cuando despierta el pueblo den Kontext für die im Kurzfilm Santa María de Iquique (9.5.) dargestellten Minenarbeiterstreiks.

am 3.5.2009 um 19.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Kaddu Beykat
Lettre Paysanne

SN 1975, R: Safi Faye, D: Assane Faye, Maguette Gueye, 98’ OmeU

Safi Faye nahm Anfang der 1970er Jahre das Studium der Ethnologie an der Pariser Sorbonne auf, um 1975 mit einer Kamera und einem Team von drei Assistenten in ihr Heimatdorf Fad’jal im Süden Senegals zurückzukehren. Wie viele afrikanische Produktionen jener Zeit, z.B. Sembènes Borom Sarret (19.4.), erhielt das Filmprojekt finanzielle Unterstützung vom französischen Ministère de la Coopération, das aus dem Kolonialministerium hervorgegangen war.
Schon die Dreharbeiten zu Kaddu Beykat waren von Fayes zentralem Anliegen bestimmt, den ethnografischen Zugriff auf den afrikanischen Kontinent einer Revision zu unterziehen. So stand am Anfang zwar das Rudiment einer Geschichte – der junge Landarbeiter Ngor kann wegen der schlechten Ernte den Brautpreis für seine Angebetete Columba nicht entrichten und versucht sein Glück in Dakar –, oft gab Faye aber wenig mehr als ein vages Thema vor und überließ den Ablauf der Szene den Darstellern, für deren Anregungen sie stets ein offenes Ohr hatte. Diese Zurückhaltung verträgt sich so gar nicht mit dem verbreiteten Vorurteil, das frühe afrikanische Kino zeichne sich vor allem durch seine parabolische und didaktische Erzählhaltung aus. Der Schärfe der Kritik tut dies aber keinen Abbruch. Als Ursache für die ländliche Notlage identifiziert der Film die Fortsetzung kolonialer Politik nach Erlangung der Unabhängigkeit unter Präsident Léopold Sédar Senghor; eine Politik, die den Bauern anstelle nachhaltiger Selbstversorgung den monokulturellen Anbau von Cash Crops nahe legte.

am 6.5.2009 um 20.30 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Swift 1971
RA 1971, R: Raymundo Gleyzer, 12’ DVD, OmeU

Ni olvido ni perdón. 1972: la masacre de Trelew
Weder vergeben, noch vergessen. 1972: Das Massaker von Trelew

RA 1973, R: Raymundo Gleyzer, 30’ DVD, OmeU

Me matan si no trabajo y si trabajo me matan
Sie töten mich, wenn ich nicht arbeite, und wenn ich arbeite, töten sie mich

RA 1974, R: Raymundo Gleyzer, 20’ DVD, OmeU

Raymundo Gleyzer, der 1976 den Schergen der Militärs zum Opfer fiel, zählt heute zu den bekanntesten politischen Filmemachern seiner Generation. Wenngleich in Gleyzers Werk auch Ausflüge in andere Gattungen nicht fehlen, zeichnet sich sein Œuvre vor allem durch kurze bis mittellange Dokumentarfilme aus.
Swift 1971 ist das erste Zeugnis von Gleyzers Kooperation mit der gerade erst gegründeten Revolutionären Volksarmee (ERP), dem bewaffneten Arm der marxistisch-leninistischen Revolutionären Partei der Werktätigen (PRT). Der Film zeigt die Geiselnahme und Freilassung eines ranghohen Vertreters eines britischen Kühlkonzerns. Das Ziel der Entführung bestand darin, den Einfluss der PRT-ERP unter den Arbeitern zu stärken. Swift 1971 endet mit der Freilassung der Geisel im Tausch gegen materielle Zugeständnisse der Konzernleitung gegenüber der Belegschaft.
Dagegen versucht Ni olvido ni perdón, die Hintergründe eines Massakers an einer Gruppe politischer Aktivisten nach deren Flucht aus dem Gefängnis zu erhellen.Trotz Sicherheitsgarantien von offizieller Seite werden die meisten, nachdem sie sich auf dem Flughafen ergeben hatten, wenig später hingerichtet. Die Nachricht vom Massaker setzte die Diktatur General Lanusses stark unter Druck und war mitverantwortlich dafür, dass nur wenige Monate später freie Wahlen stattfanden.
Entgegen der Hoffnungen vieler brachte die Rückkehr der Peronisten kein Ende der sozialen und politischen Konfrontationen. Me matan si no trabajo zeigt einen von der PRT unterstützten Arbeiterstreik sowie eines der ersten Attentate der AAA – eine Geheimorganisation des rechten peronistischen Flügels, die bis 1976 etliche linke Aktivisten, Intellektuelle und Künstler ermordete oder ins Exil zwang.

Einführung: Stefan Eichinger

am 8.5.2009 um 21.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Nutuayin mapu
Wir erobern unser Land zurück

RCH 1971, R: Carlos Flores, Guillermo Cahn, 8’ span. OF (dt. eingesprochen)

Ukamau
So ist es!

BOL 1966, R: Jorge Sanjinés, D: Vincente Nerneros Salinas, Benedicta Mendoza Huanca, Néstor Cárdenas Peredo, 75’ DF

Das bolivianische Kino wurde in den 1960er Jahren durch die Arbeit der FilmgruppeUkamau und deren Regisseur Jorge Sanjinésgeprägt. Sanjinés beschrieb in verschiedenen Manifesten seine an Verfahren des italienischen Neorealismus erinnernde Idealvorstellung eines cine popular: Die Mitglieder des Filmkollektivs sollten sich zum Instrument der eingeborenen Bevölkerung machen und lediglich ihre technischen Mittel und organisatorischen Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Auf diese Weise, junto al pueblo, Seite an Seite mit dem Volk arbeitend, hoffte die Gruppe, alternative Formen der Narration zu entwickeln, und einen adäquateren Ausdruck für die Belange der Indigenen zu finden.
Der erste Langfilm der Gruppe, ebenfalls Ukamau benannt und in der Sprache der Aymara-Indios gedreht, entwickelt in seiner Geschichte von ökonomischer und sozialer Abhängigkeit allerdings eher ein ethnologisches Interesse. Dieses zeigt sich „in einer intensiven Einbeziehung der umgebenen Natur [...], in einer eindrucksvollen filmischen Gestaltung des Elements der Dauer, in der Musik sowie in expressiven Großaufnahmen von Gesichtern und Händen.“ (Ulrich Gregor, in: Geschichte des Films ab 1960, 1978)
Der Vorfilm Nutuayin mapu vertritt in einer dokumentarischen Collage die radikale Position der chilenischen MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) sowie der Revolutionären Bauernbewegung. Gemeinsam mit Angehörigen des Stammes der Mapuche übten die Aktivisten durch illegale Aktionen Druck auf die Regierung aus, um die von Allende geplante Landreform voranzutreiben.

Einführung: Sarah Klaue

am 9.5.2009 um 21.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Vidas Secas
Karges Leben

BR 1963, R: Nelson Pereira dos Santos, 103’ OmU

Nelson Pereira dos Santos, der schon in Rio, 40 Graus (1954) und in Rio, Zona Norte (1957) die brasilianische Tradition des Carioca im Stile des italienischen Neorealismus in Szene gesetzt hatte, führt diesen Ansatz im Authentizitätsgestus von Vidas Secas fort. Vidas Secas ist der Versuch einer filmischen Übertragung des gleichnamigen Romans von Graciliano Ramos, wobei die Bilder die literarische Struktur einer bitteren Parabel beibehalten, die das Schicksal einer ärmlichen Bauernfamilie porträtiert. Langsame Kamerabewegungen, sporadische Dialoge und eine verzerrte, lärmende Musik künden von einer destabilisierten Gegenwart. Die Jahre vor dem Militärputsch (1964) tragen die Kennzeichen eines künstlerisch-politischen Aktivismus. Die Entstehung des Bossa Nova, das Wiederaufleben der künstlerischen Avantgarde (1956-1964), die Gründung der Ligas Camponesas, die im Nordosten für die Rechte der Landarbeiter kämpften, und nicht zuletzt die Entstehung der CPC (Centro Popular de Cultura) sind sämtlich Ausdruck einer neuen Idee von „cultura popular“.

Einführung am 10.5.: Cecilia Valenti

am 10.5.2009 um 18.30 Uhr
am 13.5.2009 um 20.30 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Le retour d’un aventurier
Hand’s Up!

RN/F 1966, R: Moustapha Alassane, 33’ DVD, OmeU

Cabascabo
RN 1969, R: Oumarou Ganda, D: Oumarou Ganda, Zelika Souley, 45’ DVD, OmfU

Le Wazzou polygame
The Polygamist’s Moral

RN 1971, R: Oumarou Ganda, D: Zelika Souley, 36’ DVD, OmeU

Der französische Regisseur Jean Rouch, zugleich Vertreter und Kritiker des ethnographischen Films, brach bereits in den 1950er Jahren mit der üblichen hierarchischen Zuordnung von Sehen und Angesehenwerden, indem er seine Darsteller aus Niger und Côte d’Ivoire im Gebrauch einer tragbaren 16mm-Kamera anwies. Unter seinen Schülern befanden sich die nigrischen Filmemacher Moustapha Alassane und Oumarou Ganda.
Alassanes Le retour d’un aventurier handelt als ausgelassene Westernparaphrase, die in blutigen Ernst umschlägt, von Nutzen und Nachteil der Aneignung westlichen Kulturguts. Ein junger Mann, der von einer Reise in die USA zurückgekehrt ist, beschenkt seine Freunde mit Stetsonhüten, kniehohen Lederstiefeln und Pistolen. Was als harmloses Rollenspiel beginnt, mündet in ein Shootout auf Leben und Tod. Die Frage nach der Vermittelbarkeit von afrikanischer Tradition und okzidentalen Einflüssen klingt auch in der Kreolisierung des US-amerikanischen Country auf dem hinreißenden Soundtrack des Films an.
Gandas Cabascabo und Le Wazzou polygame porträtieren die unterschiedlichen Lebensumstände in der Stadt und auf dem Land und ergänzen sich zu einer harschen Kritik am sozialen Elend. Während der Städter von Cabascabo nur mit einer Spitzhacke bewehrt das Weite der Felder sucht, ist es just diese bäuerliche und von islamischen Werten umstellte Lebenswelt, deren Enge der Protagonist von Le Wazzou polygame hinter sich lassen möchte. Stadt- respektive Landflucht erscheinen am Ende als spiegelbildliche Hoffnungsschimmer, die einander im Zusammentreffen der beiden Filme aufheben.

Einführung: Nikolaus Perneczky

am 15.5.2009 um 21.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Ya es tiempo de la violencia
Es ist Zeit für Gewalt

RA 1969, R: Enrique Juárez, 44’ span. OF (dt. eingesprochen)

Las AAA son las tres armas
Die AAA sind die drei Waffen

PE 1977, R: Jorge Denti, 18’ OmeU

Ein opferreicher Volksaufstand in Córdoba 1969 und ein erneuter Militärputsch nur sieben Jahre später markieren die Endpunkte einer der konfliktträchtigsten Phasen der jüngeren Geschichte Argentiniens. Zwei in zeitnaher Reaktion entstandene Filme von Enrique Juárez und Jorge Denti beleuchten diese beiden Schlüsselereignisse aus der Perspektive des militanten Untergrundkinos.
Ya es tiempo de la violencia – das bis zu seiner Wiederentdeckung in kubanischen Archiven 2007 für verloren geglaubte Hauptwerk eines hierzulande wenig bekannten, zwischen Kunst und Guerilla schwankenden Regisseurs – war ursprünglich Teil eines mehrstündigen Kollektivwerks der sog. Mai-Regisseure, die darin ihre Solidarität mit den Aufständischen bekundeten. Dass erst der Einmarsch der Armee die öffentliche Ordnung in der zweitgrößten Stadt des Landes wiederherzustellen vermochte, traf die Diktatur General Onganías schwer und beschleunigte das Ende einer fast zwei Jahrzehnte umfassenden Abfolge von Militärregimes. Bemerkenswert ist der revolutionäre Gehalt, den der Film der christlichen Lehre zuschreibt.
Dagegen zeigt der von Jorge Denti kurz nach seiner Ankunft im zeitweiligen peruanischen Exil gedrehte Las AAA son las tres armas die mörderischen Folgen der Machtergreifung der Junta um General Videla im Jahre 1976. Entlang der Lesung eines offenen Briefs des Schriftstellers und Aktivisten Rodolfo Walsh konstruiert, stellt der Film die Politik des „Verschwindens“ an den Pranger, die zwischen 1976 und 1983 Tausende das Leben kostete. Unter den Opfern befand sich auch der mit Denti eng befreundete Raymundo Gleyzer (8.5.).

Einführung: Stefan Eichinger

am 16.5.2009 um 19.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Santa María de Iquique
RCH 1971, R: Claudio Sapían, 24’ span. OF (dt. eingesprochen)

El enemigo principal
Der Hauptfeind

PE 1973, R: Jorge Sanjinés, 100’  OmU

Aufnahmen eines brachliegenden, verfallenden Tagebaus werden mit einem Gewirr von Arbeiterstimmen montiert. Auf eindrucksvolle Weise schafft diese Bild-Toncollage in Santa María de Iquique den gegenwärtigen Rahmen für eine Rückschau auf die Umstände, die 1907 zur blutigen Niederschlagung eines großen Streiks chilenischer Salpeterminenarbeiter führten.
El enemigo principal, von Sanjinés nach dem Militärputsch von 1971 im peruanischen Exil mit Laiendarstellern produziert, erzählt die Geschichte indigener Bauern in Bolivien, die sich gegen ihren brutalen Grundherren wehren, doch an der korrupten Justiz scheitern. Erst die Ankunft einer Gruppe von Guerilleros, die den Bauern vom antikapitalistischen Widerstand berichten, bringt die nötigen Organisationsstrukturen für den bewaffneten Kampf und die Verurteilung des Großgrundbesitzers durch ein Guerillatribunal. Die Unterdrückung der Indios wird durch die Betonung der Sprachdifferenz deutlich. Während im Gespräch zwischen Dorfbewohnern und Guerilleros ein der indigenen Sprache mächtiger Übersetzer vermittelt, müssen die Bauern vor ihrem Herren und den Justizbeamten Spanisch sprechen. El enemigo principal bedient sich teilweise einer plakativen Didaktik. Mehrfach wird die Handlung durch einen indigenen Erzähler unterbrochen, der sich in den Ruinen von Machu Picchu in Brechtscher Manier an die Zuschauer richtet und das gesamte Geschehen erläutert. Das Anliegen des Films wird schon zu Anfang deutlich: Die Handlung steht exemplarisch für den Kampf der eingeborenen Bevölkerung gegen den enemigo principal, das imperialistische Nordamerika.

am 16.5.2009 um 21.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Tongpan
T 1977, R: Paijong Laisakul, Euthana Mukdasanit, Surachai Jantimatorn, D: Puey Ungpakorn, Sulak Siwalak, Sane Jammarik, 60’ Beta SP, OmeU

Karn torsu kong kammakorn rongngan Hara
Der Kampf der Fabrikarbeiterinnen von Hara

T 1976, R: Jon Ungpakorn, 52’ Beta SP, OmeU

Politisches Kino bewegte sich in Thailand zumeist innerhalb der etablierten Bahnen der nationalen Filmindustrie. Gegen Ende der kurzen Phase demokratischer Wiederbelebung (1973-76), als die politischen Gegensätze kaum noch zu versöhnen waren, entstanden jedoch auch einige Filme, die bewusst – statt in herkömmlichen Kinos – in Fabriken und Universitäten gezeigt wurden. Das wohl bekannteste Beispiel ist Tongpan, dessen Produktionszeitraum bis 1974 zurückreicht, der aber erst 1977, d.h. nach dem Militärputsch, fertiggestellt wurde. Der Film entwickelt entlang drei paralleler Erzählstränge eine Rekonstruktion des realen Schicksals eines Bauerns namens Tongpan. Als Betroffener eines Dammprojekts wird er von einem Studenten eingeladen, sich bei einer Diskussion zu Wort zu melden. Den zweiten Strang bildet die Diskussion selbst, bei der Tongpan allerdings nicht zu Wort kommt. Schließlich gibt es eine achronologische Folge von Szenen aus dem Alltag Tongpans. Bemerkenswert ist die große Anzahl thailändischer Intellektueller und Künstler, die am Film mitwirkten und sich zum Teil selbst spielen. Zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung lebten einige aber schon im Exil oder waren im Dschungel untergetaucht.
Jon Ungpakorns Film Karn torsu kong kammakorn rongngan Hara dokumentiert den Kampf der Arbeiterinnen der Hara-Jeansfabrik. Die Arbeiterinnen widersetzen sich den Plänen der Leitung, die Fabrik zu schließen, und führen die Fabrik als eine Kooperative. Vor allem anhand der Interviews zweier Arbeiterinnen werden sowohl die unwürdigen Arbeitsbedingungen in der Fabrik offengelegt als auch die Höhen und Tiefen ihres langwierigen Kampfes gezeigt.

Einführung: Stefan Eichinger

am 17.5.2009 um 18.30 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Insiang
RP 1976, R: Lino Brocka, D: Hilda Koronel, Mona Lisa, Ruel Vernal, 95' Ome+fU

Ein furioses Melodram, das sich konsequent seiner Belegschaft entledigt. Lino Brockas Meisterwerk spielt in den Slums Manilas und handelt vom Leidensweg der jungen Insiang, die anfangs von Mitmenschen umgeben ist und am Ende mutterseelenallein über eine menschenleere Plaza läuft. Im Mittelteil des Films werden zwei Familienmodelle vorgestellt und für untauglich befunden. Zunächst die integrative, traditionelle Großfamilie: Brüder, Schwestern, Tanten und Großeltern leben alle unter einem Dach. Statt Solidarität herrschen jedoch Betrug und Misstrauen. Das zweite Familienmodell ist eine Perversion, vielleicht auch eine Demaskierung der modernen Kernfamilie. Tonia holt ihren jungen, brutalen Liebhaber Dado ins Haus. Dieser hat aber bereits ein Auge auf Insiang geworfen. Noch weitaus radikaler als die Großfamilie wird der Film diese Kernfamilie zerstören.
Lino Brocka, der vielleicht bedeutendste philippinische Regisseur, betrachtete es als die Aufgabe jeden Künstlers, Stellung zu aktuellen sozialen und politischen Auseinandersetzungen zu beziehen. So beteiligte er sich in den 1980er Jahren mit der von ihm gegründeten Organisation Concerned Artists of the Philippines (CAP) an den bürgerlichen Protesten gegen den Diktator Ferdinand Marcos. Brockas Filme sind geprägt von der Spannung zwischen diesem intervenierenden Gestus und den Zwängen des Genrekinos, in welchem er Zeit seiner Karriere arbeitete. Kein anderer Film Brockas macht diese Spannung so produktiv wie Insiang.

Einführung am 24.5.: Simon Rothöhler

am 20.5.2009 um 20.00 Uhr
am 24.5.2009 um 19.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Hanoi, martes 13
Hanoi, Dienstag der 13.

C 1967, R: Santiago Álvarez, 38’ engl. Fassung

La guerra olvidada
Der vergessene Krieg

C 1967, R: Santiago Álvarez, 19’ OmU

La estampida
Kopflose Flucht

C 1971, R: Santiago Álvarez, 13’ DF

Die Gründung eines nationalen Filminstituts nur wenige Monate nach der Revolution ermöglichte nicht nur eine beträchtliche Produktionssteigerung des einheimischen Filmschaffens, sondern auch eine Bündelung zuvor verstreuten filmischen Talents, was dem kubanischen Kino der 1960er Jahre weltweit Festivalpreise und Anerkennung einbringen sollte. Gilt Tomás Gutiérrez Alea (22.4. und 26.4.) gemeinhin als Hauptvertreter der fiktionalen Sparte, so wurden im Bereich des Dokumentarfilms vor allem die Filme von Santiago Álvarez besonders häufig ausgezeichnet.
Die drei – in dieser Zusammenstellung selten zu sehenden – agitatorischen Kurzfilme vereint die Thematik des nordamerikanischen Krieges in Vietnam und Laos. Innerhalb eines einzigen, fiktional gerafften Tages präsentiert Hanoi, martes 13 den heroischen Kampf des vietnamesischen Volkes sowie das Ausmaß der durch die täglichen Bombardements verursachten Zerstörung. Gleichsam in einer Parenthese sind dem Film Auszüge aus dem Werk des Schriftstellers und kubanischen Nationalhelden José Martí vor- und nachgestellt.
La guerra olvidada verlagert das Augenmerk auf den weit weniger beachteten Kriegsschauplatz in Laos, wo es den kommunistischen Verbänden trotz täglicher amerikanischer Bombardements gelingt, in Tunneln und Höhlen eine regelrechte unterirdische Gesellschaft samt Schulen und Kliniken in Betrieb zu halten. Der vier Jahre später gedrehte La estampida zeigt den erfolgreich abgewehrten Einfall der amerikanischen Armee und ihrer südvietnamesischen Verbündeten im Süden von Laos.

am 22.5.2009 um 21.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Soleil Ô
RIM/F 1969, R: Med Hondo, 98’ DVD, OmeU

Der mauretanischstämmige Filmemacher Med Hondo gelangte über den Umweg des Theaters zum Film. Dem reproduzierbaren Medium dachte er das Potenzial zu, das Publikum und mithin die gesellschaftliche Relevanz seines künstlerischen Schaffens zu vervielfältigen. Als afrikanischer Migrant im Paris der 1960er Jahre machte Hondo jene Erfahrungen, die in seinem ersten Langfilm Soleil Ô zu einem schmerzvollen, aber befreienden Ausdruck drängen: Der Rassismus im Kleinen wie im (strukturellen) Großen, der den Alltag der afrikanischen Diaspora im Herzen der „Grande Nation“ bestimmte – bedingt und begleitet von ökonomischer und kultureller Marginalisierung –, wird am Fallbeispiel eines jungen Afrikaners veranschaulicht. Sein Leidensweg führt ihn durch ein Paris, wie man es selten, zumal in französischen Filmen derselben Epoche, zu sehen bekommt. Während zeitgenössische französische Kommentatoren den Film ob seiner überschäumenden Experimentierfreudigkeit in die Nähe der europäischen Neuen Wellen und des Avantgardefilms rückten, verortet ihn Hondo selbst in der afrikanischen Tradition abschweifenden, mehrschichtigen Erzählens. In der Bezugnahme auf eine als genuin afrikanisch verstandene Tradition spricht sich Hondos erklärtes Ziel aus, mit seinen Filmen ein Gegenwicht zu dem, wie er es selbst nennt, „euroamerikanischen Kino“ zu schaffen. Nur wenn Afrikaner und Afrikanerinnen aller Länder die Produktionsmittel zur Gestaltung filmischer Bilder selbst in die Hand bekämen, war der rege Leser von Karl Marx, Frantz Fanon und Aimé Césaire überzeugt, kann die Befreiung auch vom ideellen Erbe des Kolonialismus gelingen.

am 23.5.2009 um 19.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Muna Moto
L'enfant de l'autre

CAM 1975, R: Jean-Pierre Dikongué-Pipa, D: Philippe Abia, David Endene, Arlette Din Beli, Gisèle Dikongué-Pipa, 86’ DVD, OmeU

Wie Med Hondo verdiente sich auch Jean-Pierre Dikongué-Pipa seine Sporen am Theater, was sich in Muna Moto allerorten bemerkbar macht. Noch der geringsten Geste ist die mit eindrücklicher Präzision ausgeführte Mise-en-scène anzusehen. Ganz im Gegensatz zu Hondo, dessen Soleil Ô (23.5.) den kritischen Anspruch am Revers trägt, stimmt Dikongué-Pipas Erstlingswerk subtilere Töne an und spaltete die politisierte afrikanische Filmkritik der 1970er Jahre in Verächter und glühende Bewunderer. Die Erzählung um die unglückliche Ndomé, die an den vermögenden Onkel ihres mittellosen Verlobten Ngondo verkauft wird, obwohl sie dessen Kind in sich trägt, entspinnt sich in einer verschachtelten Konstruktion abrupt einsetzender Rückblenden, die sich erst allmählich zu einem chronologischen Zusammenhang fügen. Nicht immer geben sie ihr Geheimnis ganz preis: Wohnen wir tatsächlich einer Erinnerung bei? Oder vielmehr dem Traumbild einer möglichen Welt? Der Wechsel zwischen den Erzählebenen wird oft durch emphatische Close-Ups von Ngondos Antlitz vorweggenommen. Erst am Schluss, wenn ihn die Wirklichkeit in Gestalt eines Polizeibeamten endgültig eingeholt hat, fungiert Ngondos Gesicht als Bestandteil einer profanen Schuss-Gegenschuss-Sequenz: Ihm gegenüber kündet ein weißes Gebäude mit der Aufschrift „Palais de Justice“ vom Sieg der institutionalisierten Ungerechtigkeit. Muna Moto ist der erste Film aus Kamerun, der international reüssierte. 1976 wurde er mit dem Preis des Panafrikanischen Film- und Fernsehfestivals von Ouagadougou (FESPACO) ausgezeichnet.

am 23.5.2009 um 21.00 Uhr

 

 

REVOLUTIONEN AUS DEM OFF
Barravento
Sturm

BR 1962, R: Glauber Rocha, D: Luiza Maranhão, Schnitt: Nelson Pereira dos Santos, 78’ OmU

1965 entstand Rochas politisch-poetisches Manifest Ästhetik des Hungers, das die Originalität des neuen brasilianischen Kinos in der Darstellung des Hungers und in einer Ästhetik der Gewalt verortet. Dieser für das Cinema Novo zentrale Begriff findet einen anschaulichen Ausdruck in der nüchternen und radikalen Ästhetik von Barravento – Rochas erstem Spielfilm, der drei Jahre vor Entstehung des Manifests die Ausbeutung der Fischer aus Bahia dokumentiert.
Im Fischerdorf ist das Leben prekär: Die Fischer leben in Abhängigkeit eines Großhändlers, dem ihre Netze gehören. In langen Sequenzen von Candomblé-Ritualen, Tänzen und afrobrasilianischen Kulten zeigt Rocha das Leben der schwarzen Gemeinde als gefangen in Mystik und Religion. Wie ein Deus ex machina kommt Firmino aus der Stadt, um den Bewohnern beizubringen, an die Revolution zu glauben, anstatt sich in Fatalismus zu flüchten. Die flammende Rhetorik Firminos spiegelt einerseits einen damals in linken brasilianischen Kreisen verbreiteten, naiven Glauben an eine „fertige“ Revolution wider. Andererseits veranschaulicht der revolutionäre Prozess in Barravento einen typischen Aspekt der brasilianischen Gesellschaft während der populistischen Regierung von Getúlio Vargas (Präsident von 1930-45 und 1951-54), nämlich den Bruch zwischen den Massen und ihren Führern.

Einführung: Regina Câmara

am 27.5.2009 um 21.00 Uhr

 

 

 

 
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