WIEDERENTDECKT
Wiederentdeckt – so heißt unsere filmhistorische Reihe, kuratiert von CineGraph Babelsberg, die einmal im Monat vergessene Schätze der deutschen Filmgeschichte vorstellt. Zu sehen sind Werke, die oftmals im Schatten jener Filme stehen, die den deutschen Filmruhm begründet haben. Sie sind Zeugnisse einer wirtschaftlich leistungsfähigen und handwerklich ambitionierten Filmindustrie. Erstaunlich viele dieser Filme „aus der zweiten Reihe“ sind erhalten. In enger Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv-Filmarchiv und der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen recherchieren die Mitarbeiter von CineGraph Babelsberg diese Filme und analysieren sie im historischen Kontext. Sie erstellen Begleitblätter für das Publikum, führen in die Filme ein und dokumentieren ihre Forschungsergebnisse im Filmblatt, der Zeitschrift von CineGraph Babelsberg.
Eine Veranstaltungsreihe in Zusammenarbeit mit CineGraph Babelsberg, dem Bundesarchiv-Filmarchiv und der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen.
WIEDERENTDECKT
Der Frühling braucht Zeit
DDR 1965/90, R: Günter Stahnke, B: Hermann O. Lauterbach, Konrad Schwalbe, Günter Stahnke, K: Hans-Jürgen Sasse, D: Eberhard Mellies, Elfriede Née, Doris Abeßer, Günther Simon, Karla Runkehl, Rolf Hoppe, 96' 35 mm
Unter den DEFA-Verbotsfilmen des berüchtigten SED-Kahlschlag-Plenums 1965 war Der Frühling braucht Zeit der am wenigsten spektakuläre. Als 1989/90 die Verbotsfilme an die Öffentlichkeit kamen, blieb Stahnkes Film auch der am wenigsten beachtete und wurde kaum nachgespielt. Die SED-Spitze war mit ihm und seinem Team genauso rigide umgegangen wie mit den anderen: Noch im Monat des Plenums wurde Der Frühling braucht Zeit ohne Ankündigung nach nur kurzer Laufzeit aus den Kinos genommen, die Kopie im Archiv abgeliefert, Regisseur Günter Stahnke fristlos entlassen, sein Drehbuch-Koautor Konrad Schwalbe an der Babelsberger Filmhochschule gemaßregelt.
Dabei war der Film eine Art Parteiauftrag von höchster Stelle gewesen: Die Parteikontrollkommission, das höchste und strengste innerparteiliche Kontrollorgan der SED, hatte den Autoren alle Akten eines hochbrisanten Wirtschaftsverbrechens zur Verfügung gestellt. Daraus gestalteten sie einen dramatischen Prozessbericht mit verteilten Rollen, der die Bedeutung des Vergehens im heftigen Widerstreit der Beteiligten spiegelte. Jedoch: die Filmemacher waren ehrlich genug zu zeigen, dass keiner der Konfliktträger vollkommen falsch oder vollkommen richtig gehandelt, dass keiner wissentlich ein Verbrechen begangen, dass jeder gute Argumente für sein Tun hatte, die der andere jedoch als unangemessen und feindlich ansah. Der 37-jährige Regisseur Günter Stahnke verschärfte die Heftigkeit der Auseinandersetzung durch schroffe, expressionistisch anmutende Arrangements in kühl-sachlichen Interieurs, die einen herben filmischen Reiz ausstrahlten und von den damaligen Erzählkonventionen abwichen. (ga)
In Anwesenheit von Günter Stahnke
Einführung: Günter Agde
am 5.11.2010 um 18.30 Uhr
WIEDERENTDECKT
Belcanto oder Darf eine Nutte schluchzen
BRD 1978, R: Robert van Ackeren, B: Robert van Ackeren, Joy Markert, K: Jürgen Wagner, Ulrich Meier, D: Nikolaus Dutsch, Romy Haag, Udo Kier, Helga Krauss, Gabriele LaFari, Kurt Raab, Ellen Umlauf, 94' 35 mm
Arthur, der Intendant eines Opernhauses, versammelt auf einer Soirée die Repräsentanten der Geld-, Lebe- und Kunstwelt, um mit einem Schlag sich selbst und die Oper zu sanieren. Doch das Vorhaben, sich und der Kultur neuen Glanz zu verleihen, scheitert. Belcanto oder Darf eine Nutte schluchzen ist 1978 nach Der blaue Engel (1930) und Der Untertan (1950) mit Sicherheit die ungewöhnlichste Adaption eines Romans von Heinrich Mann. Van Ackeren inszeniert seine Hochstablergeschichte in stilisierten, unnatürlichen Tableaus, seine Figuren singen ihre Texte a-capella, stehen in gleichsam schwebenden Kulissen. Die Erzählweise und Figurengestaltung stellen traditionelle Sehmuster in Frage und verweigern sich dem klassischen Erzählkino. Wolfram Schütte schreibt begeistert in der Frankfurter Rundschau: Belcanto oder Darf eine Nutte schluchzen „ist ein äußerst strenger, konsequenter, in sich geschlossener Film. Er enthält überraschende Schönheiten von einer gläsernen Eleganz. Sein kritisches Potential steht nicht als Konterbande neben seiner Ästhetik, diese selbst formuliert es: gegen Kultur als Geschäftsvorwand und gegen eine Form von Erzählkino, das erzählt ohne etwas zu sagen.“ (mg)
Einführung: Michael Grisko
am 3.12.2010 um 19.00 Uhr
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