WIEDERENTDECKT
Wiederentdeckt – so heißt unsere filmhistorische Reihe, kuratiert von CineGraph Babelsberg e.V., die einmal im Monat vergessene Schätze der deutschen Filmgeschichte vorstellt. Zu sehen sind Werke, die oftmals im Schatten jener Filme stehen, die den deutschen Filmruhm begründet haben. Sie sind Zeugnisse einer wirtschaftlich leistungsfähigen und handwerklich ambitionierten Filmindustrie. Erstaunlich viele dieser Filme „aus der zweiten Reihe“ sind erhalten. In enger Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv-Filmarchiv und der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen recherchieren die Mitarbeiter von CineGraph Babelsberg e.V. diese Filme und analysieren sie im historischen Kontext. Sie erstellen Begleitblätter für das Publikum, führen in die Filme ein und dokumentieren ihre Forschungsergebnisse im Filmblatt, der Zeitschrift von CineGraph Babelsberg e.V.
Eine Veranstaltungsreihe in Zusammenarbeit mit CineGraph Babelsberg e.V., dem Bundesarchiv-Filmarchiv und der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen
WIEDERENTDECKT
Sprengbagger 1010
D 1929, R/B/P: Carl Ludwig Achaz-Duisberg , K: Helmar Lerski u.a. , D: Heinrich George, Iwan Kowal-Samborski, Paul Biensfeldt, Paul Henckels, Viola Garden, Ilse Stobrawa, 67' 35 mm
35 mm, OmU
Ende 1929 – der Tonfilm ist bereits in aller Munde – kommt eine der ungewöhnlichsten Produktionen des Stummfilms in die Kinos. Sprengbagger 1010 ist ein betont wuchtiger, fast monumentaler, heute monströs anmutender Film. Gedreht mit großem Budget und Starbesetzung, ist Sprengbagger 1010 das Werk eines Außenseiters mit allerdings besten Verbindungen. Carl Ludwig Achaz-Duisberg, Autor, Regisseur und Produzent des Films, ist eigentlich Theater-Schauspieler. Als Sohn des Großindustriellen Carl Duisberg, Chef der I.G. Farben, kann er in seiner ersten und einzigen Filmregie aus dem Vollen schöpfen.
Der Star Heinrich George gibt ein Gegenbild zu seiner Metropolis-Rolle. In Sprengbagger 1010 spielt George einen gerissenen Industriemagnat, der mit einer neuen, brachialen Schürftechnologie einen Braunkohle-Tagebau erschließen will. Der eigentliche Konflikt ist in die Figur des Chefingenieurs verlegt, der aus der ländlichen Region stammt, die industriell zerstört werden wird. Spiegel der Krise des die Technologie nur formelhaft beherrschenden Ingenieurs sind die ihn umgebenden Frauen, die völlig konträr gezeichnet sind: die eine supermodern, dem Fortschritt und Erfolg mit allen Mitteln verschrieben; die andere heimatverbunden, einfühlsam, aber hilflos; dazu die Großmutter, die sich und ihre alte Mühle vor dem Ansturm der Technik lieber selbst verbrennt. In dieser melodramatischen Dreiecks-Anordnung, eingerahmt von ausgefeilten Bildern avantgardistisch stahlblitzender Industriearchitektur der Leuna-Werke, entfaltet Achaz-Duisberg ein ökologisches Drama mit einer im Finale verstörend brutalen Maschinengewalt.
Wir zeigen die restaurierte Fassung des Bundesarchiv-Filmarchiv. Zu hören ist die historische Originalmusik für Orchester, Chor, Sauerstoffflaschen und Sirenen von Walter Gronostay, die vom WDR Rundfunkorchester Köln unter der Leitung von Titus Engel eingespielt worden ist. Besonderer Dank an Nina Goslar (ZDF/ARTE). (jk)
Einführung: Jürgen Kasten
am 4.1.2013 um 19.00 Uhr
WIEDERENTDECKT
Blutiger Freitag
BRD/I 1972, R/B: Rolf Olsen, Special Effects: Karl Baumgartner, D: Raimund Harmstorf, Gila von Weitershausen, Amadeus August, Gianni Macchia, Christine Böhm, 97'
35 mm
In der deutschen Kriminalgeschichte war der Überfall auf die Deutsche Bank in der Münchner Prinzregentenstraße im August 1971 ein Novum. Erstmals wurden Geiseln genommen und ein hohes Lösegeld gefordert. Der Großeinsatz der Polizei endete mit dem Tod einer Geisel und eines Geiselnehmers im Kugelhagel. Tausende Schaulustige sahen zu. Bereits im Frühjahr 1972 war diese Geschichte auch im Kino zu besichtigen, fiktional verfremdet, grell aufpoliert und mit klassenkämpferischen Parolen garniert. Ein Gangsterfilm voller brachialer Action, wie es ihn in der Bundesrepublik noch nicht gegeben hatte.
Raimund Harmstorf, gerade berühmt geworden als „Der Seewolf“, spielt den brutalen Anführer einer Bande von Desperados, zu der noch ein Bundeswehr-Deserteur und ein italienischer Gastarbeiter zählen. Ihre Wut auf die bürgerliche Gesellschaft und ihre kleinkarierten Vorstellungen von Anstand und Ordnung münden in einem Rausch der Zerstörung, der sie am Ende selbst hinwegrafft. „Ein freundlicher, kugelrunder Österreicher, ein Schlitzohr von clownesker Skurrilität“, so beschrieb der Tagesspiegel den immens produktiven Regisseur Rolf Olsen (1919-1998), der neben Komödien damals auch schon mehrere harte Krimis gedreht hatte. Während Olsen heute in den gängigen filmgeschichtlichen Darstellungen nirgendwo auftaucht, gehört er für Dominik Graf zu jenen bewundernswerten Regie-Ekstatikern wie Alfred Vohrer, Zbyněk Brynych und Klaus Lemke, deren Filme ins Reich des Verbotenen eintauchten und deren Trivialität, Schmutzigkeit und Lustbetontheit heute so sehr fehlt. Blutiger Freitag ist das Vermächtnis eines untergegangenen Kinokontinents. (ps)
Einführung: Thomas Groh, Philipp Stiasny
am 1.2.2013 um 21.00 Uhr
WIEDERENTDECKT
Landstraße und Großstadt
D 1921, R: Carl Wilhelm, B: Dimitri Buchowetzki, K: Carl Hoffmann, D: Carola Toelle, Fritz Kortner, Conrad Veidt, Franz Schönemann, Richard Georg, Edmund Heinek, ca. 70'
35 mm
In den 1920er Jahren wurde ob der Menge und Vielfalt der Filme zur jüdischen Thematik von einem Genre der Juden- und Ghetto-Filme gesprochen und geschrieben. Als Milieu-, Aufklärungs-, Sensations- oder Bibelfilm, als jüdisches Tendenzstück, historischer Kunstfilm, Sittenbild aus dem Ghetto oder gar als Pogromfilm bewarben die Verleihfirmen diese Filme in der Fachpresse. Die Reklame für Landstraße und Großstadt bezeichnete den Film als dramatische Dreiecksgeschichte oder melodramatische Eifersuchtsgeschichte im Künstler-Milieu. Fritz Kortner als Mendel Hammerstein und Conrad Veidt als blonder Geigen-Künstler ringen um eine blond-herbe, „reine“ Frau. Die politische, deutschnational gefärbte Aussage in Story, Bild und Dialog wurde weitgehend verschwiegen. Die Figur des Drehorgelspielers Mendel Hammerstein, auf dessen Musikinstrument die Initialen seines unschwer als jüdisch erkennbaren Namens prangen, kommt aus dem Nirgendwo im Osten. Während er zunächst der Schnorrer und Betteljude ist, legt er alsbald Drehorgel und stereotypes Gebaren ab und verwandelt sich in einen assimilierten skrupellosen Film-Bösewicht mit eigenem Büro, großbürgerlicher Villa und wachsendem Reichtum. Der Filmkurier kann sich vor allem für das Schauspiel Fritz Kortners begeistern: „Im Film aber gewinnt der Darsteller des Falschspielers Mendel Hammerstein, Fritz Kortner. Es ist die weitaus beste Leistung, wie er von Akt zu Akt den Leierkasten-Juden zum Geschäftsmann, zum smarten Impresario zum gierigen, brutalen Mann werden läßt. Schon lange nicht sah ich ein so fein nuanciertes, mimisch vertieftes Spiel. Seine Darstellung macht Zwischentitel überflüssig.“ (23.4.1921). (eh)
am Flügel: Peter Gotthardt
Einführung: Evelyn Hampicke
am 1.3.2013 um 19.00 Uhr
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