Bilder
von Kindern,
die heute so um die sechzig sind.
Als die Lebensverhältnisse der Deutschen sich
nach dem 8. Mai 1945 langsam wieder normalisierten, hielt man es für
besonders dringlich, die Schuljugend zum Nachdenken über die jüngste
Vergangenheit anzuhalten. In kluger Voraussicht wollte man die Umerziehung
dort besonders eifrig betreiben, wo der geringste Widerstand zu erwarten
war. Gleichwohl waren die erzielten Resultate gelegentlich enttäuschend.
So äußerte sich 1945 ein Schüler im Schwäbischen
zu der Frage von Niederlage und/oder Befreiung, die uns 1995 immer noch
Anlaß zu Streitereien gibt: "Am 8. Mai war die Kapitulation
Deutschlands, die umso trauriger ist, weil sie schon die zweite im 20.
Jahrhundert in unserm deutschen Vaterland ist."
Der vielleicht zwölfjährige Verfasser eines Schulaufsatzes
gab damals vermutlich wieder, was die Erwachsenen zu Hause so redeten,
und ihm ist gewiß nicht vorzuhalten, daß er in jenen Tagen
wenig Einsicht zeigte. Interessant wäre aber die Frage, ob er,
so es ihn denn heute noch geben sollte, sich inzwischen zu der Erkenntnis
durchringen konnte, in der miterlebten Niederlage des "Großdeutschen
Reiches" eine Befreiung von Gesinnungsterror und Gewaltherrschaft
zu sehen? Als einer, der sich für etwa gleichaltrig hält,
will ich dafür gern viel Zeit in Rechnung stellen. Schließlich
hat ja Rolf Schörken an Lebensgeschichten und Tagebüchern
untersucht und gezeigt, wie kompliziert und oft langwierig Prozesse
der Preisgabe von indoktrinierter Weltanschauung und der kritischen
Neubildung von politischem Bewußtsein verlaufen sind. Zudem ermahnen
uns die kürzlich erst in dem Medien ausgetragenen Auseinandersetzungen,
daß wir auch im 50. Jahr nach der Befreiung nicht zuviel erwarten
sollten.
Gleichviel - den Photographien von Kindern im
Berlin der ersten Nachkriegsjahre ist ohnehin nicht anzusehen, was diesen
Mädchen und Jungen damals im Kopf herumspukte und auf die Seele
drückte. Zweifellos war ihnen kurz zuvor noch zugedacht worden,
daß sie sich einmal als rassebewußte Mütter und stolze,
kriegsgestählte Führer im Dienste einer arischen "Volksgemeinschaft"
bewähren sollten. Aber dann hatten sie die Folgen des Luftkriegs
ertragen müssen, in vaterlosen Familien Obdachlosigkeit, Versorgungsmängel,
unregelmäßigen Schulunterricht, HJ-Dienst, Kinderlandverschickung,
Flucht und endlich die Schrecken der Schlacht um Berlin erleben müssen.
Was war übrig geblieben? Was sollte sich als prägend und verhaltensrelevant
erweisen, nun, da diese vielerfahrenen Kinder in schlecht geheizten
Notunterkünften zusammenhockten, die einen mit skrupelloser Abgebrühtheit
auf dem Schwarzmarkt handelten, die anderen mit Ungeduld das Heranwachsen
des Kohlrabis im Tiergarten beobachteten oder sich mit schüchterner
Dankbarkeit über eine gespendete Mahlzeit freuten?
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