"Gebt mir zehn Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen!"
Als das Schlimmste vorüber war, rumorte das Erlebte
weiter. Nun galt es, auch noch mit den Trümmern einer zerbrochenen
Weltanschauung aufzuräumen, die von Tag zu Tag deutlicher als zynisch
und menschenverachtend entlarvt wurde. Da konnten sich die Kinder und
Jugendlichen nur wundern, wie schnell die Erwachsenen aus ihrer Mitläufervergangenheit
desertierten. Für gläubige Hitlerjungen und BDM-Mädel
war es schon schwer genug zu begreifen, daß sich der "Führer"
und die meisten seiner Reichs-, Gau- und sonstigen Parteileiter in letzter
Stunde bedenkenlos aus der Affaire gezogen hatten. Nun sahen sie sich
plötzlich umgeben von Leuten, die schon seit 1933 gewußt
hatten, daß es schief gehen würde. Und weil Kindern die Stilmittel
von Ironie und Sarkasmus nur sehr begrenzt zugänglich sind, konnten
sie auch keinen Spaß haben an der häufigen Wiederholung jenes
Hitler-Wortes: "Gebt mir zehn Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland
nicht wiedererkennen!" Auch sie erkannten das Deutschland, als
dessen Zukunft sie sich geglaubt hatten, nicht mehr, aber sie konnten
nur schwer verstehen, daß all ihre Hoffnungen und Ideale nun nichts
mehr gelten sollten.
Viele sehen bis heute einen Vorteil darin, daß
die mit der Kapitulation nur wenig veränderten miserablen Lebensbedingungen
den Menschen kaum Zeit zum Nachdenken ließen. Die sowjetische
Besatzungsmacht und drei Monate später erst ihre westlichen Alliierten
sorgten zwar dafür, daß die städtische Infrastruktur
bald wieder notdürftig funktionierte, doch half das den Frauen
und Kinder zunächst nur wenig. Da mit den Männern, die das
Kriegsende als Soldaten erlebten, vorerst nicht zu rechnen war, mußten
sie weiterhin fürs schiere Überleben "organisieren",
improvisieren, hamstern und tauschen; zudem hatten sie sich um neue
Papiere zu kümmern, um Meldebescheinigungen und Lebensmittelkarten.
Nach der neuen Einteilung in Versorgungsgruppen stand
den Hausfrauen nur die Karte V für die niedrigste Zuteilungskategorie
zu - man sprach von "Hungerkarten" oder "Himmelfahrtskarten".
Deshalb sahen diese sich vielfach gezwungen, die Schwerarbeit der Trümmerfrauen
zu leisten, um Anspruch auf bessere Versorgung zu erhalten. Obwohl die
Hausfrauenregelung in Berlin heftig kritisiert wurde, wurde sie erst
zum 1. März 1947 geändert, indem den Hausfrauen nun die Versorgungsgruppe
III zugestanden wurde. Infolge dieser Regelung lag die Quote der erwerbstätigen
Frauen in Berlin wesentlich höher als in den großen Städten
der Westzonen; im September 1945 waren in Berlin schon 371.409 weibliche
Erwerbstätige (knapp 50 Prozent) registriert; ein Jahr später
gingen 705.397 Frauen einem amtlich anerkannten Broterwerb nach, rund
60 000 davon als Trümmerfrauen.
Die Versorgung auf Lebensmittelkarte reichte selten
für das Nötigste; also mußte man alle Überlebenstechniken,
die man sich schon in den letzten Kriegsjahren angeeignet hatte, weiterhin
anwenden. Man fuhr ins Umland, um in den Wäldern Holz und Kienäppel
zu sammeln oder bei den Bauern Lebensmittel zu hamstern; man baute wie
schon seit 1943 - auf öffentlichem Stadtgrund Gemüse an, beteiligte
sich an Holzauktionen in den Alleen und quälte sich in Stadtparks
beim Ausgraben von Stubben. Wenn es immer noch nicht reichte, begaben
sich die vormals so ordnungsverliebten Bürgerinnen und "Volksgenossen"
in die Grauzone der Beschaffungskriminalität: Sie handelten auf
dem schwarzen Markt, gruben verschüttete Keller aus oder gingen
nächtens Kohlen klauen.
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