Aus der Sammlung des Deutschen Historischen Museums Deutschsprachiger Erstdruck der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
vom 4.Juli 1776
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Willi Paul Adams
Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika (Teil 1) |
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I. Angewandte Aufklärung Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten verkündet wie kein anderer Text der modernen Politikgeschichte die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität rhetorisch prägnant und bis heute unübertroffen als Signal der Umsetzung der Aufklärung in politische Praxis. Wie entstand dieser Text und welche politischen Ideen fanden Ausdruck in dem Dokument, das in den Vereinigten Staaten wie ein Auftrag der Vorsehung an die Nation verehrt wird? Am 2. Juli 1776 beschlossen Vertreter von zwölf der sechzehn britischen Kolonien auf dem amerikanischen Festland, die in Philadelphia als Kontinentalkongress den Widerstand gegen die englische Kolonialherrschaft koordinierten: "Diese Vereinigten Kolonien sind, und sind rechtens, freie und unabhängige Staaten. Sie sind aller Treueide gegenüber der britischen Krone entbunden, und jegliche politische Verbindung zwischen ihnen und dem Staat Großbritannien ist, und ist rechtens, restlos aufgelöst. Nunmehr ist es an der Zeit, die wirksamsten Maßnahmen zu ergreifen, um Allianzen mit fremden Mächten abzuschließen. Ein Konföderationsplan ist zu entwerfen und den betroffenen Kolonien zur Beratung und Zustimmung vorzulegen." Damit war die Entscheidung zugunsten der radikalen Lösung gefallen. Die Befürworter weiterer Verhandlungen mit dem Ziel der Versöhnung und des Verbleibs innerhalb des weltumspannenden britischen Kolonialreichs hatten endgültig verloren. Die zur Fortsetzung des im April 1775 begonnenen Krieges entschlossenen patriots hatten sich in zwölf Kolonien durchgesetzt und ihre Delegierten im Kongress zur Unabhängigkeitserklärung ermächtigt. Um die hoffnungslose militärische Unterlegenheit der Rebellen gegenüber der größten Seemacht der Zeit auszugleichen, musste der nächste Schritt nun ein Bündnis mit dem König Frankreichs sein. Zugleich musste die provisorische Regierung des Kontinentalkongresses durch eine planvoll gestaltete, auf Dauer angelegte Konföderation abgelöst werden. Weshalb diese beispiellosen Beschlüsse nötig waren, wollten die hinter verschlossenen Türen tagenden Delegierten öffentlichkeitswirksam begründen und verkünden. Sie wussten nicht, wie viele ihrer Mitbürger, als deren Repräsentanten sie handelten, tatsächlich bereit waren, mit König und Parlament zu brechen und einen Krieg mit großen Opfern durchzustehen. Deshalb wäre ein Referendum über die Unabhängigkeitserklärung zu risikoreich gewesen. Die patriots mussten erst einmal Fakten schaffen und öffentlich begründen, weshalb der Bruch mit König und Parlament nicht den Treueid und die Untertanenpflichten verletzte und wieso er von König und Parlament bereits vollzogen worden war. Auch der aufgeklärten Öffentlichkeit Europas, ihren bisherigen Mit-Untertanen in Großbritannien und den Monarchen und Fürsten auf dem Kontinent wollten die Amerikaner ihre Entschlossenheit zu staatlicher Eigenständigkeit bezeugen und erklären. Dem Kongressbeschluss vom 2. Juli folgte deshalb nach zweitägiger Debatte die Erklärung der Gründe, mit der sich die in Philadelphia versammelten Vertreter der politischen Elite Amerikas am 4. Juli 1776 unter Beschwörung der göttlichen Vorsehung und unter Einsatz von "Leben, Vermögen und heiliger Ehre" zur Souveränität des Volkes als alleiniger Quelle rechtmäßiger Regierungsgewalt bekannten. Durch wiederholte Missachtung von Grundrechten des Menschen, so argumentierten sie, hatten Monarch und Parlament ihre vertraglichen Pflichten verletzt und ihren Herrschaftsanspruch über die Kolonien verwirkt. Die Kolonisten glaubten sich daher berechtigt, fortan als "freie und unabhängige Staaten" sich selbst zu regieren, "Krieg zu erklären, Frieden zu schließen, Bündnisse einzugehen, Handel zu treiben und alles andere zu tun, wozu unabhängige Staaten berechtigt sind." Die welthistorische Bedeutung der Unabhängigkeitsklärung der europäiden Amerikaner ist jenseits allen Nationalstolzes unstrittig: Zum ersten Mal erklärten europäische Siedler außerhalb Europas den Herrschaftsanspruch ihres Herkunftslandes über die Kolonien für verwirkt und erklärten sich selbst zu einem ebenbürtigen Volk (one people), ohne dessen Zustimmung es keine legitime Regierungsgewalt mehr geben konnte. Die Behauptung des Selbstregierungsrechts einer Nation und das Bekenntnis zur Souveränität des Volkes mussten im amerikanischen Fall Hand in Hand gehen, weil die Verletzung der Volkssouveränität durch Willkürherrschaft die Lossagung von der englischen Nation begründete. Einer der Begründer der modernen Nationalgeschichtsschreibung in Deutschland, Leopold von Ranke, sah diesen Kern der Amerikanischen Revolution mit durch die gescheiterte Revolution von 1848 geschärftem Blick. Er erklärte 1854: "Dadurch, dass die Nordamerikaner abfallend von dem in England gültigen konstitutionellen Prinzip eine neue Republik schufen, welche auf dem individuellen Rechte jedes Einzelnen beruht, kam eine neue Macht in die Welt. Bisher hatte man in Europa gemeint, dass die Monarchie den Vorteil der Nation am besten verstehe, jetzt kam die Theorie auf, die Nation selbst müsse sich regieren . ... Dies war eine größere Revolution, als früher je eine in der Welt gewesen war, es war eine völlige Umkehr des Prinzips. Früher war es der König von Gottes Gnaden, um den sich alles gruppierte; jetzt tauchte die Idee auf, dass die Gewalt von unten aufsteigen müsse . ... Diese beiden Prinzipien stehen einander gegenüber wie zwei Welten, und die moderne Welt bewegt sich in nichts anderem, als in dem Konflikt zwischen diesen beiden. In Europa war der Gegensatz dieser Prinzipien noch nicht eingetreten; er kam aber zum Ausbruch in der französischen Revolution." Ebenso wie die von Ranke angesprochenen politischen Ideen der französischen Revolutionäre von der jahrzehntelangen Diskussion der französischen Aufklärer beeinflusst wurden, prägte die englische, schottische und französische Aufklärung die politische Theorie der aufständischen Kolonisten. Deren politischen Kern bildete die in ganz Europa als freiheitlich gepriesene britische Verfassung, wie sie 1688/89 aus der Glorreichen Revolution der Parlamentsmehrheit gegen die absolutistischen Tendenzen der Herrscherfamilie der Stuarts hervorgegangen und von John Locke und zahlreichen anderen Whig-Publizisten gerechtfertig worden war. Das Neue an der epochemachenden Unabhängigkeitserklärung und der ihr folgenden republikanischen Verfassungsordnung ergab sich aus der Umsetzung britischen Rechts- und Verfassungsdenkens, einschließlich der heftigen öffentlichen Kritik der Radikalen Whigs an der korrupten Repräsentationspraxis in Großbritannien, unter den neuen Bedingungen billigen Landes, neuer wirtschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten und daraus folgenden egalitäreren Sozialstrukturen in Amerika. Früher als in Europa konnte so in Nordamerika zumindest ein Teil der politischen Ideale der Aufklärer in die Tat umgesetzt werden, nicht etwa weil Wortführer der Kolonisten eine neue, rein amerikanische politische Ideologie entwickelt hatten, sondern weil der wirtschaftliche Erfolg der Kolonisten und die angloamerikanische politische Kultur seit dem 17. Jahrhundert eine breite Mittelklasse von Eigentümern und eine politisch aktive Führungsschicht hatten entstehen lassen, die zur Selbstregierung fähig war. Die Europäer in Amerika konnten daher Kants Imperativ "Wage zu wissen!" auf die Ebene des Handelns übertragen und steigern zu "Wage dich selbst zu regieren! " In seiner großen Darstellung der Aufklärung überschrieb Peter Gay das Amerika-Kapitel zurecht "The Program in Practice" (1969), und Ralf Dahrendorf stellte seine historisch-soziologischen Amerikabetrachtungen unter den Titel "Die angewandte Aufklärung" (1963). Auf beiden Seiten des Atlantik nahmen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kritische Fragen nach Leistung und Legitimität kirchlicher wie weltlicher Autoritäten zu. Die Schlüsselwörter der Unzufriedenen klangen vielerorts in Europa ähnlich: Den überkommenen Vorrechten von Aristokraten und privilegierten Bürgern der Ständegesellschaft wurden neue Vorstellungen von natürlichen Rechten aller Menschen, von Freiheit, Gleichheit, Gemeinwohl und allgemeinem Wohlergehen, von félicité oder happiness entgegengesetzt. Klar verfasste Verantwortungsstrukturen und Herrschaft altgemeingültiger Gesetze wurden als Mittel und Wege zu einer gerechteren Gesellschaftsordnung öffentlich diskutiert. Historiker wie Robert R. Palmer und Jacques Godechot haben deshalb insbesondere das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika als Zeitalter der demokratischen Revolution gekennzeichnet. Die öffentlich geäußerte Unzufriedenheit mit den anciens regimes zwischen Versailles und St. Petersburg, Edinburgh und Neapel nahm äußerst unterschiedliche Formen an. Der Kampf der Kolonisten jenseits des Atlantik um Selbstregierung in einem eigenen Staat war eine der verschiedenartigen Revolutionen, die das Zeitalter der Kämpfe um die Institutionalisierung der Volkssouveränität im modernen freiheitlichen Verfassungsstaat einleiteten. |
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WILLI PAUL ADAMS, Professor der Geschichte Nordamerikas am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin, ist u. a. Herausgeber des Fischer Weltgeschichtsbandes Die Vereinigten Staaten von Amerika (1977), des dtv-Bandes Die Amerikanische Revolution und die Verfassung (1987) und, zusammen mit Angela Adams, Übersetzer des UTB-Bandes Die Federalist-Artikel von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay (1994). |
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