> Bismarcks Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten 1862

Bismarcks Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten im September 1862

Am 23. September vor 150 Jahren berief König Wilhelm I. seinen Gesandten in Paris, Otto von Bismarck, zum neuen preußischen Ministerpräsidenten. Dies war eine der weitreichendsten Entscheidungen des Monarchen: Bismarck entwickelte sich schnell zu einem der einflussreichsten Staatsführer Europas, der für die folgenden knapp drei Jahrzehnte die preußische und deutsche Politik bestimmte. Nachdem er 1890 von Kaiser Wilhelm II. aufs politische Abstellgleis geschoben worden war, avancierte Bismarck als "Schmied" des Kaiserreiches und Personifizierung des deutschen Nationalstaates zu einer vaterländischen Kultfigur.

Bismarcks Aufstieg zum preußischen Ministerpräsidenten erfolgte während eines schweren Konfliktes zwischen Monarch und Abgeordnetenhaus, das für eine geplante Heeresreform die notwendige Zustimmung zum Militäretat verweigert hatte. Der Streit um die Finanzierung der Heeresreform war zu einer generellen Auseinandersetzung um die Machtverteilung zwischen Krone und Parlament in Preußen geworden. Auf dem Höhepunkt dieses verfahrenen Verfassungskonfliktes berief Wilhelm I. den konservativen Hardliner Otto von Bismarck zum neuen Ministerpräsidenten. Als durchsetzungsfähiger Diplomat im Dienste Preußens und kluger politischer Taktierer war Bismarck von Wilhelm I. und dessen militärischen Beratern um Kriegsminister Albrecht von Roon (1803-1879) schon lange geschätzt und seit Monaten für höchste politische Ämter ins Auge gefasst worden.

Auf liberaler Seite löste die Berufung Bismarcks selbst innerhalb der königlichen Familie Fassungslosigkeit aus. Königin Augusta hasste Bismarck aus politischen wie persönlichen Gründen geradezu als "frivol und anmaßend". Ihr Sohn, Kronprinz Friedrich Wilhelm, notierte am Tage der Berufung Bismarcks in sein Tagebuch: "Arme Mama, wie bitter wird gerade dieses ihres Todfeindes Ernennung sie treffen." Nicht anders sah die Gefühlslage bei dem als liberal geltenden Kronprinzenpaar aus, das sich Zeit seines Lebens mit Bismarck nur selten arrangieren konnte. Als dieser am 30. September 1862 vor der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses verkündete, nicht durch "Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, [...] sondern durch Eisen und Blut", sahen sich seine entsetzten Kritiker bestätigt, die im neuen Ministerpräsidenten lediglich einen Säbel schwingenden Junker, aber keine ausgleichende und vermittelnde Persönlichkeit sahen.

Nicht nur liberalen Zeitgenossen galt Bismarck als Handlanger des Militärs, der ihrer Ansicht nach beabsichtigte, Preußen in finstere reaktionäre Zeiten zurück zu katapultieren. Die Wochenschrift des Nationalvereins brachte die Stimmung vieler Deutscher innerhalb und außerhalb Preußens im Herbst 1862 auf den Punkt: "Mit der Verwendung dieses Mannes ist der schärfste und letzte Bolzen der Reaktion von Gottes Gnaden verschossen." Wer jedoch wie der Autor der Wochenschrift glaubte, Bismarck hielte sich nur für kurze Zeit im Amt, sah sich schon bald getäuscht. Im Einklang mit dem König setzte er die Heeresreform ohne parlamentarische Zustimmung durch und stellte zugleich die nationale Angelegenheit auf die politische Tagesordnung. Eine entschiedene Politik in der deutschen Frage - notfalls auch gegen Österreich - sollte die Monarchie im Innern festigen und Preußens Vorherrschaft in Deutschland sichern. Mit dem Sieg Preußens im Deutschen Krieg 1866 stiegen Bismarcks Popularitätswerte in bis dahin unbekannte Höhen. Als "Gründer" des von den meisten Deutschen so lang ersehnten Nationalstaates von 1871 wurde er von Millionen Menschen zeitlebens verehrt und verklärt.

Die insbesondere im Bürgertum verbreitete Verehrung Bismarcks nahm nach dessen Tod 1898 vielfach kultische Ausmaße an, die bis weit in die Zeit der Weimarer Republik hineinreichten und dort ihren Höhepunkt erreichten. Wie kein zweiter Politiker verkörperte Bismarck das "alte Deutschland" des Kaiserreiches, das im kollektiven Bewusstsein für innenpolitische Stabilität, wirtschaftliche Macht und außenpolitische Stärke stand. Die Beschwörung seiner Erfolge ab 1862 diente Konservativen bis radikalen Rechten zur Aufwertung des nationalen Selbstwertgefühls. Vor dem Hintergrund des demütigenden Versailler Vertrages 1919 und der französisch-belgischen Ruhrbesetzung 1923 sehnte sich ein großer Teil der deutschen Bevölkerung nach einer politischen Führungspersönlichkeit vom Format Bismarcks. Er repräsentierte eine vermeintlich glanzvolle Vergangenheit als Gegenbild zu den als trostlos empfundenen aktuellen Verhältnissen. Das republiktreue Lager um SPD, DDP und Zentrum erkannte zwar, dass ein demokratischer Staat nur auf den "Trümmern des Bismarckkultes" gedeihen könne. Den Schatten des populären "Reichsgründers" vermochten die demokratischen Parteien in den 1920er Jahre allerdings nicht zu vertreiben.

Arnulf Scriba
September 2012

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