> Alfred Försterling: An der Front

Alfred Försterling: An der Front

Dieser Eintrag stammt von Alfred Försterling (*1925) aus Hamburg, November 2007:


Am 26. April 1945, kurz nach meinem 20. Geburtstag, kommt gegen 18 Uhr der Befehl: "Feldmarschmäßig heraustreten zum Munitionsempfang". 240 Schuss Gewehrmunition und eine Eiserne Ration werden in Empfang genommen. Um 19 Uhr geht es in Marschkolonne nach Westerland. Dort auf dem Bahnhof steht ein Güterzug. In die offenen Wagen kommen Maschinengewehre mit Bedienung für die Flugabwehr. Die geschlossenen Wagen sind für die Freiwachen bestimmt. Wir verladen allerlei Waffen und Munition. Gegen Mitternacht setzt sich der Zug in Bewegung. Wir sollen in den Kampf um Berlin eingreifen.

Bis dorthin kommen wir aber nicht mehr. In Flensburg, Eckernförde, Kiel und Lübeck muss der Zug immer wieder halten. Entweder sind die Strecken blockiert oder es ist keine Lokomotive da. Am 28.04.45 hält der Zug in Lübeck auf dem Bahnhof neben einem Lazarettzug, der direkt von der Front kommt. Die Schwerverwundeten liegen auf Stroh in gedeckten Güterwagen. Sie werden hier am Bahnhof von Rote-Kreuz-Schwestern notdürftig versorgt. Stöhnen ist zu hören und Blut im Stroh zu sehen. So kann es also auch uns ergehen. Können wir Deutschland noch retten?

Unser Zug setzt sich wieder in Bewegung. Am 29. April hält er kurz vor Güstrow. Weiter geht es nicht mehr. Hier auf freiem Feld müssen wir den Zug verlassen. [...] Am 01.05.45 marschieren wir nach Strenz. Dort ist unser Einsatzraum. Den Tornister mit der übrigen Ausrüstung und den persönlichen Gegenständen müssen wir zurück lassen. Es soll später mit Fahrzeugen transportiert werden. Nur die Waffen verbleiben uns. Neben der Straße von Güstrow nach Rostock graben wir uns unter Anleitung von fronterfahrenen Heeresoffizieren tiefe Schützenlöcher. Ich kann in meinem sogar sitzen. Noch ist es ruhig. Die Nacht verbringe ich in diesem Loch.

Am 2. Mai nachmittags kommt Gewehr- und Geschützfeuer von Osten näher. Geschosse der Stalinorgel schlagen ein. Der Russe ist da! Ich gehöre inzwischen zu einer Granatwerfereinheit von 5 Soldaten. In der Ferne kommen schon die Russen. Jeder Widerstand ist zwecklos. Von unseren Offizieren und Unteroffizieren ist sowieso nichts mehr zu sehen. Die Front ist in Auflösung. Auch wir mit unserem Granatwerfer gehen stiften. Die schwere Bodenplatte hindert beim Laufen. Sie wird als erstes weggeworfen. Als die Munitionsträger das sehen, lassen sie auch die Munitionskiste fallen. Nach einer Weile merkt dann der schon voraus laufende Träger des Granatwerferrohres, dass der Werfer ohnehin nicht mehr einsatzfähig ist, und wirft auch das Rohr weg. Nur unsere alten Flinten behalten wir noch.

Weiter Rückwärts auf dem Bauernhof lagert noch unsere Marschausrüstung. Dort ist Sammelpunkt der nun versprengten Einheit. Nicht einmal die Hälfte sind wir noch. Erst nach dem Krieg erfahren wir, dass die anderen von der anderen Seite der Strasse schon dort in Gefangenschaft kommen. Unter ihnen ist auch unser Freund und Funkerkollege Sawade.

Unter Führung des Infanterie-Offiziers treten wir den Rückmarsch Richtung Schwerin-Wismar an. Die ganze Ausrüstung bleibt zurück. Nur das Allernotwendigste können wir in die Taschen der Uniform stecken. Auch ein paar Zigaretten und Schokolade. Einer Flasche Likör wir der Hals abgeschlagen und dann geht sie reihum. Die zunächst noch lose Marschkolonne löst sich immer mehr auf. Einmal geraten wir unter Beschuss. In einem halbhohen Getreidefeld finden wir notdürftig Deckung. Schüsse peitschen über unsere Köpfe hinweg. Einer unserer Kameraden erhält einen Bauchschuss. Mir selbst geht es auch nicht gut. Es regnet. Wir liegen flach am Boden. Bald bin ich bis auf die Knochen durchnässt. Als ich mich umdrehen will, durchzuck mich ein stechender Schmerz im Kreuz. Er lässt aber später wieder nach. Es war nur ein "Hexenschuss" und dieser Hexenschuss wird mich später noch öfter in meinem Leben quälen.

Als es dunkel wird und die Schiesserei nachlässt, brechen wir wieder auf. Bis zum Tagesanbruch geht es die ganze Nacht hindurch westwärts. Den verwundeten Kameraden schleppen wir in einer Zeltbahn mit. Bald können wir den Verletzten nicht mehr weiter tragen. In einem Haus müssen wir ihn zurück lassen.

An einer Straßenkreuzung treffen wir auf eine Gruppe deutscher Soldaten mit einer Panzerabwehrkanone. Sie haben Stellung gegen Westen bezogen und wollen durchgebrochene englische Einheiten abwehren. Als sie hören, dass die Russen uns auf den Fersen sind, flüchten sie auch in Richtung Westen. Von unserer Einheit gibt es jetzt nur noch kleine Grüppchen. Wir drei Funkerkollegen halten eisern zusammen. Als wir bei Warnow an einem großen Strohschober vorbeikommen, kriechen wir hinein und gönnen uns etwas Schlaf. Was hinter uns passiert, ist uns jetzt völlig egal. Nach etwa 2 Stunden Tiefschlaf laufen wir weiter, vorbei an einem aufgelösten Proviantlager. Dort decken wir uns mit Verpflegung ein, soviel wir tragen können. Das kleine Städtchen Warin lassen wir hinter uns.

Als es Abend wird, suchen wir in einem dichten Wald Schutz unter einer großen Tanne. Unter ihren ausladenden Zweigen knüpfen wir aus den zur Feldausrüstung gehörenden Dreieckszeltbahnen ein Zelt. Wir können einfach nicht mehr weiter. Kaum liegen wir im Zelt und wollen schlafen, hören wir Gewehrfeuer und das Rasseln von Panzerketten auf der entfernten Hauptstrasse. Jetzt sind wir hinter den russischen Linien.

lo