> Alfred Försterling: In russischer Gefangenschaft

Alfred Försterling: In russischer Gefangenschaft

Dieser Eintrag stammt von Alfred Försterling (*1925) aus Hamburg, November 2007:

Jetzt, Anfang Oktober. herrscht hier schon tiefster Winter. Die Tagestemperaturen liegen so etwa zwischen minus 5 bis minus 20 Grad. Es wird nun auch Winterkleidung verteilt. Unsere dünne Wehrmachtsuniform hat ausgedient. Eine passende Wattehose und eine schöne lange Jacke aus schwerem Schafsfell kann ich ergattern. Es ist zwar abgetragene Kleidung von russischen Soldaten, aber hier für den sibirischen Winter für uns noch gut genug. [...] Als Kopfbedeckung gibt es einen gefütterten Filzhut mit Ohrenklappen und oben einer Spitze. Wir nennen ihn Stalin-Gedächtnis-Hut. Er schützt ausgezeichnet gegen Kälte und Wind. [...] In unserer Kleidung sind wir von den Russen nicht mehr zu unterscheiden. Doch, am linken Oberarm trägt jede Jacke einen weißen Aufnäher mit den Buchstaben , das heißt Woina Plenny, Kriegsgefangener.

Das Gefangenenleben spielt sich nun ein. Dreimal am Tag eine Schüssel voll Suppe und danach eine kleine Portion Kascha, dazu eine Scheibe Brot. Inzwischen konnte ich auch erfahren, wo wir uns befinden. Es ist in der Nähe der Stadt Nishni Tagil, nördlich von Swerdlowsk, der sowjetische Name von Jekatarinenburg. Dort war mal die Sommerresidenz des letzten Zaren. Wir sind nicht die ersten in diesem Lager. So erfahren wir noch so manches Wissenswertes von den schon länger hier lebenden Gefangenen. Das Lager hier wird das Bambuslager genannt. Warum das so heisst, kann ich nicht erfahren. Nishnin Tagil wird auch als "Stadt der Tausend Wachtürme" bezeichnet. Es gehört zum Strafgebiet der Kategorie II , in dem nur Strafgefangene, die keine Schwerverbrecher sind, leben. Überall Wachttürme und eingezäunte Lager. Es gibt auch Menschen hier, die innerhalb des Stadt- und Industriegebietes frei herumlaufen dürfen. Ein Teil davon gehört zur Urbevölkerung. Andere sind ehemalige Strafgefangene, die ihre Strafe zum größten Teil verbüßt haben und unter strengen Auflagen hier wohnen, aber nicht die Stadt verlassen dürfen.

Nun werden wir auch zu Arbeiten außerhalb des Lagers geführt. Steine tragen ist die erste Arbeit. [...] Die Arbeitskommandos wechseln oft die Arbeitsstellen. Einmal müssen wir aus einem Güterzug auf freier Strecke Säcke mit Weizen- und Roggenmehl entladen und zum Lager transportieren. Das ist eine Knochenarbeit. Es sind Doppelzentner. Im Waggon steht einer, der die Säcke an die Öffnung zerrt. Unten stehe ich und bekomme Sack für Sack auf den Buckel. Schwankend den Weg bis zur Stelle, wo die Säcke zum Weitertransport abgelegt werden können. Was heimlich geschieht: Bei einigen Säcken entstehen Löcher. Mehl fließt daraus in unsere Taschen und provisorischen Beutel. Etwas davon esse ich auch roh, aber das ist nicht bekömmlich. Es macht Durst und quillt im Magen auf. Der Durst kann an einem Wasserhahn, der mitten in der Landschaft steht, gelöscht werden. Warum er bei dieser Kälte nicht einfriert? Eine geniale russische Lösung: Das Wasser läuft ununterbrochen aus dem Rohr und versickert irgendwo in einer Mulde. Das Mehl lässt sich später in die wässrige Suppe einrühren und wird dadurch genießbar. Es lässt sich auch gut im Ofenloch kochen. [...]

Wir hausen in einen Lagerabschnitt mit neu erbauten halbfertigen Steinbaracken. Abends gibt es zum ersten Male dicken Hirsebrei. Kascha wird er genannt. Leider nur eine kleine Kelle voll, aber immerhin etwas Warmes und Festes. Aber sofort stellt sich wieder Sodbrennen ein. Die erste Nacht müssen wir noch auf dem Fußboden schlafen. Am nächsten Tag kommen wir in andere Baracken Leider werde dabei ich von meinem Kumpel getrennt. Ich verliere ihn aus den Augen und weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Doppelstöckige Holzpritschen sind unsere Betten. Ich kann einen Schlafplatz oben in der Nähe eines großen Steinofens erwischen. Brennmaterial für den Ofen gibt es nicht. Aber irgendwo finden wir immer wieder etwas zum Feuern. Auf den oberen Pritschen ist es günstiger, weil es dort wärmer ist.

Anfang Dezember werden wir in ein anderes Lager verlegt. Die Gefangenen nennen es Meierlager. So heißt nämlich der von den Russen eingesetzte deutsche Lagerführer. Dieses Lager hat keinen guten Ruf. Schlechte Unterkünfte in alten Holzbaracken, schlechte Verpflegung und dann noch schlechte Arbeitsbedingungen. Die Baracken sind überfüllt. Aber dadurch ist es wenigstens warm in dem sich ausbreitenden Mief. Nachts werden auch die Wanzen aktiv. Irgendwo krabbelt es im Gesicht. Eine Handbewegung darüber erzeugt einen süßlichen Mandelgeruch. Also wieder eine. Die Wanzenplage ist sehr lästig. Die Stiche jucken. Es gibt kein Mittel dagegen. Andere Baracken sind frei von diesen Quälgeistern. Da laufen Spinnen herum und haben Netze gespannt. Diese Tierchen werden sorgfältig geschützt. Sie fressen nämlich die Wanzen auf.

Bis kurz vor Weihnachten geht es wieder zu verschiedenen Arbeitsstellen außerhalb des Lagers. [...]

Die Temperaturen sinken weiter. Am 24. Dezember, wir erinnern uns traurig, dass ja heute Heiligabend ist, sinkt das Thermometer auf minus 36 Grad. Zur großen Freude des Lagers braucht niemand im Freien zu arbeiten. Nur eine Brigade muss zur Baustelle. Das sind wir mit den Stuckateuren. Wir arbeiten ja im geschlossenen Raum. In der Nacht hatte es auch noch tüchtig geschneit. Der beschwerliche Weg zur Baustelle kann nur im Gänsemarsch zurückgelegt werden. Vorweg ein Wachsoldat, hinten noch einer. Wir dazwischen. Ein eisiger Wind bläst ins Gesicht. An einer Stelle kommen uns Russen entgegen. Da ruft mir einer etwas zu und fuchtelt aufgeregt mit den Händen: "Nos, nos, nos". Was will der denn, frage ich meinen Hintermann und drehe mich zu ihm um. Und der sieht, was los ist. Meine Nase ist ganz weiß, ebenso weiße Flecken auf den Wangen. Erfrierungen also, die schnell zu dauerhaften Schäden führen können. Da hilft nur eins: Handschuhe aus und das Gesicht mit dem kalten Schnee einreiben, bis es brennt und kribbelt. Dann erst setzt die Durchblutung wieder ein. [...]

Hier im Lager ist beim ersten Weihnachten in der Gefangenschaft die Stimmung trübe. In unserer Baracke liegen die meisten auf ihren Pritschen und dösen vor sich hin. Einige singen Weihnachtslieder, aber das drückt die Stimmung noch mehr. Schon am nächsten Tag lässt die grimmige Kälte etwas nach. Alle müssen wieder hinaus auf die Baustelle. Für mich heißt es wieder, Stuckateurlatten nageln. Der Arbeitsplatz ist wenigstens innerhalb des Gebäudes und geschützt. Das ist besser als den ganzen Tag draußen in der Kälte. [...]

Unsere Arbeitskolonne wird dann wieder mal weit in die Wildnis gebracht. Am Rande einer Moorlandschaft ist eine kleine langgestreckte Ortschaft. Sie soll mit Strom versorgt werden. Dazu müssen quer durch den Sumpf Masten aufgestellt und Drähte gezogen werden. Bei Plustemperaturen ist das nicht möglich, weil das Moor keinen Halt gibt. Aber jetzt ist alles tief gefroren. So schlagen wir Löcher in die Eisdecke, stellen die Masten auf und verkeilen sie mit Steinen. Schnell friert es im Loch wieder zu. Alle Masten stehen eisern. Wir aber fragen uns, ob das so bleibt, wenn Tauwetter kommt. [...] So vergehen die Tage bis Ende März. Die Temperaturen schwanken zwischen minus 5 und minus 20 Grad. [...]

Am 1. April 1946 nachmittags muss unsere Baracke draußen antreten. Es sind ungefähr 100 Mann. Wir sollen in ein anderes Lager kommen. Keiner weiß wohin. [...] Wir erhalten Marschverpflegung: Ein Brot für drei Mann. Da gibt es Gerangel, weil welche nicht aufteilen wollen. Am Bahnhof wartet ein GPU-Gefängniswagen, der speziell für den Transport von Schwerverbrechern ausgestattet ist. Die Abteile sind Gefängniszellen für je 4 Mann und schwer vergittert. Auf dem Gang patrouillieren schwer bewaffnete Soldaten. Je 16 Mann werden in eine Zelle eingepfercht. Das ist fast unerträglich. Manche können nur stehen. Beim Sitzen müssen wir uns abwechseln. Liegen ist kaum möglich. Zwei Tage sind wir unterwegs. Das Brot muss für einen Tag reichen, am nächsten Tag erhalten je 6 Mann 1 Brot. Wer zur Toilette will, muss sich bei den Posten anmelden. Einzeln geht es nur dorthin. So dauert es unendlich lange, bis jemand mal drankommt. Es bleibt nicht aus, dass einige ihr Wasser nicht halten können. In der Zelle breitet sich Gestank aus. Durch die Enge entsteht eine fürchterliche Hitze. Es ist eine Qual. Am zweiten Tag morgens werden wir endlich ausgeladen. Wir sind in Swerdlowsk. [...]

Zunächst brauche ich nicht außerhalb des Lagers zu arbeiten. Mitte April hat Tauwetter eingesetzt. Die Filzstiefel werden eingesammelt und gegen Lederschuhe umgetauscht. Wegen meiner großen Füße, kann ich keine passenden Schuhe finden. Erst später bekomme ich welche. So lange bleibe ich im Lager und werde für einfache Lagerarbeiten eingesetzt. Dann kommt wieder mal eine große Filzung. Alles wird abgenommen. Meine Tagebuchaufzeichnung auf den kleinen Zetteln kann ich retten und von Zeit zu Zeit noch mit einigen Notizen ergänzen. [...]

Eines Tages treffen beim Aktiv Postkarten des Roten Kreuzes ein. Es sind Faltkarten. Eine Karte für die Nachricht nach Hause, die anhängende Rückantwort muss mit der Lageradresse des Kriegsgefangenen beschriftet werden. Das ist eine Sensation, als die Postkarten an die Lagerinsassen verteilt werden. Besteht doch nun die erste Möglichkeit, den Angehörigen ein Lebenszeichen zu geben. Nach einiger Zeit kommen sogar die Antworten zurück.

Diese hier abgebildete Kopie des Originals der Karte schrieb ich im Mai an meine Eltern. Die Antwort erhalte ich am 6. August 1946. Die Karte war am 29. Juno in Berlin aufgeliefert und abgestempelt worden. Die Gewissheit, dass nun die Welt weiss, dass wir hier in Gefangenschaft und am Leben sind, erfüllt uns mit neuem Mut und neuer Zuversicht. Während der weiteren Gefangenschaft erhalten wir immer wieder solche Postkarten, mit den wir den Angehörigen Lebenszeichen geben können. Allerdings wird die Post zensiert. [...]

Ab 15. September stellt sich der Winter mit Schnee und Frost wieder ein. [...] Ende November wird es bitterkalt. Tageweise sinkt das Thermometer bis unter minus 4o Grad. Bei solcher Witterung braucht niemand im Freien zu arbeiten. Dem Wasserfahrer friert das Wasser in seinem Kübel ein. [...] Im Dezember wird plötzlich das Lager aufgelöst. Wir müssen heraustreten, werden gezählt und dann geht's es ab zu Fuß. Länger als eine dreiviertel Stunde dauert der Marsch durch tiefen Schnee und dunklen Wald bis wir das Hauptlager erreichen. [...]

Bis zur Entlassung im Mai 1948 werde ich durch verschiedene Lager in Raum von Swerdlowsk geschleußt. Die Lager und das Lagerleben ähneln sich immer wieder. Eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Lager erübrigt sich deshalb. Die Tagesabläufe sind immer gleich: Morgens Wassersuppe mit Brot in der Stalowa, anschließend Aufstellung vor dem Tor zum Arbeitseinsatz. Mittags wieder Wassersuppe, jetzt auch Kasch, meistens aus Hirsebrei, und Brot dazu. Arbeiten wir in der Nähe des Lagers, geht es mittags ins Lager zurück, sonst wird das Essen auf die Baustelle gebracht. Abends dann wieder Wassersuppe mit Brot. Die Brotmenge wird nach dem Grad der Normerfüllung für jeden Mann der Arbeitsbrigade Portionsweise abgewogen und zugeteilt. [...]

Der ständige Hunger und die schwere Arbeit haben meinen Lebensmut angekratzt. Ich sehe keinen Ausweg mehr. Als einzige Hoffnung habe ich nur die Vorstellung, als arbeitsunfähig doch noch entlassen zu werden. Aber bei meiner Körpergröße und dem bisschen Fleisch auf den Pobacken habe ich keine Chancen. Mein Zustand muss sich also verschlechtern. Das gelingt nur durch Abstinenz, das heißt Essen gegen Rauchwaren eintauschen. Als ich das einige Zeit durchhalte, werde ich tatsächlich immer weniger, werde mehrmals als OK-Mann für leichtere Arbeiten im Lager und dann wieder mal in Arbeitsbrigaden nach draußen eingesetzt.

So schleppe ich mich in den 3.Ural-Winter. Schließlich lässt alles so weit nach, dass ich Mitte April 1948 wieder ins Lazarett komme. Allgemeiner Schwächezustand. Nicht mehr arbeitsfähig. Diagnose Dystrophie. Körpergewicht 57 Kilo. Habe ich es geschafft?

Hier im Lazarett liegen schon mehrere Leidensgenossen. So wie ich. Für die Russen nicht mehr zu gebrauchen. Gegen Ende April 48 verdichten sich die Parolen, dass die Russen wohl einen Heimattransport zusammenstellen wollen. Werden wir dabei sein? Anfang Mai dann tatsächlich konkrete Signale. Registrierung, Austausch der Lagerkleidung gegen Transportkleidung. Da schauen wir aber dumm aus der Wäsche. Statt der Lederschuhe erhalten wir nun Holzpantinen mit Stoffbesatz, oben zum Zuschnüren. Meine schöne italienische Uniform, die man mir wegen früherer Verdienste belassen hatte, muss ich nun abgeben, erhalte abgetragene Sachen und einen alten russischen Soldatenmantel. Gelassen nehme ich es hin, winkt doch die Hoffnung auf einen baldigen Transport in die Heimat.

Am 15. Mai 48 morgens Aufbruch und ein kurzer Marsch zur Eisenbahnstrecke. [...] Unbeschreiblich das Gefühl, als am Nachmittag der Zug anruckt und tatsächlich rollt. Auf irgendeinem Gleis in Swerdlowsk ist dann nochmals Halt. Aber dann geht es richtig los. Der Zug rollt und rollt. Hier und da auf einem Abstellgleis ein Stopp, um auf den eingleisigen Strecken einen Gegenzug vorbei zu lassen. Wir können die Wagen verlassen, so wie wir wollen. Nur aufpassen, wenn die Lokomotive ihre Dampfpfeife heulen lässt. Gleich beim ersten Ton stürmt alles zurück in die Wagen. Keiner will doch die Weiterfahrt verpassen. [...]

Moskau ist erreicht. Vororts- und U-Bahnen rattern vorbei. Wir rollen unaufhörlich weiter bis Brest. In Brest endet die russische Spurweite. Auf europäischer Spur geht es nach dem Umladen weiter. Es sind deutsche Eisenbahner, die jetzt auf der Lokomotive sind und den Zug bedienen. Von Post aus der Heimat, die uns zuletzt von Zeit zu Zeit erreichte, wusste ich, dass auch mein Vater als Lokomotivführer für die Russen bis nach Brest fahren muss. Ich suchte also die Eisenbahner auf. Für die tagelangen Fahrten von Berlin bis Brest ist Personal für einen 3-Schicht-Betrieb notwendig. In einem dafür eingerichteten Wagen konnten sich Lokomotivführer und Heizer aufhalten und schlafen. "Kennen sie den Lokomotivführer Försterling"?. Ja, der sei mit seinem Zug gerade gestern von Brest wieder zurück nach Deutschland gefahren. Er gehöre zur selben Dienststelle in Berlin-Schöneweide. Deshalb kennen sie ihn gut. "Ich bin sein Sohn"!. Sie nahmen mich mit in ihren Wagen und gaben mir von ihrem Proviant eine Scheibe Brot. Das war köstlich.

Vorläufige Endstation ist ein Durchgangslager in Frankfurt/Oder. Hier können wir uns mal wieder richtig waschen, werden mit DDT desinfiziert, wieder registriert, geben unsere Heimatadresse an, erhalten einen russischen Entlassungsschein und Brot für die Weiterfahrt am nächsten Tag. Am nächsten Morgen um 4 Uhr besteigen wir einen Extrazug mit richtigen D-Zugwagen. Am frühen Nachmittag des 28. Mai 1948 erreichen wir Berlin. 

lo