Angela Kemper: Erlebnisse einer Donauschwäbin im russischen Internierungslager

    Dieser Eintrag von Angela Kemper (*1923) aus München stammt aus dem Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

    Mein Geburtsort war Nakodorf, ehemalige K & K Monarchie. Nach dem Ersten Weltkrieg kam dieser Teil zu Jugoslawien (Banat). Im Zweiten Weltkrieg wurde die Zeit immer kritischer. Die jugoslawischen Partisanen überfielen und mordeten in den Dörfern. Auch mein Bruder wurde dienstverpflichtet und musste bei der Prinz-Eugen-Division dienen. Als die Russen unser Dorf einnahmen hat man mich in einer Bäckerei versteckt, damit ich nicht wie viele andere Frauen vergewaltigt werde. Als das Militär sich dann im Dorf einquartierte, zog ein hoher Offizier in unser Haus ein. Damit bekamen wir etwas mehr Schutz. Mein Bruder, der aufgrund einer Dienstreise wieder nach Hause fuhr, musste sich den Partisanen stellen und wurde in einer Milchhalle in der Kreisstadt Kikinda ermordet.

    Wir mussten uns in der Gemeindeverwaltung regelmäßig melden und am 2. Weihnachtsfeiertag 1944 hieß es, dass alle deutschstämmigen Banater, Mädchen und Frauen zwischen 17 und 30 Jahren, Aufräumungsarbeiten leisten müssten, weil das deutsche Militär vieles zerstört hatte. Man trieb uns in ein Lager und von dort zu einem Bahnhof. Mit Güterwaggons wurden wir nachts Richtung Rumänien transportiert. Auf dem Wege wurde irgendwann der Transport von den Russen übernommen. Bei Galaz wechselten wir die Waggons und kamen in russische Breitspurwaggons. Unterwegs hatten wir eine große Panne. Mitten im Viehwaggon stand ein Eisenofen. Bei einem kurzen Halt durften wir uns Holz nehmen um zu heizen. Dieser Ofen fiel während der Fahrt um und in Kürze war der ganze Innenraum verraucht und fing teilweise Feuer. Nur dem Zufall haben wir es zu verdanken, dass in diesem Moment der Zug eine Kurve fuhr und der Lockführer den Rauch bemerkte. So kamen wir mit dem Schrecken gerade noch davon. Wir waren insgesamt 21 Tage nur bei Wasser und hartem Brot unterwegs. Unsere Notdurft konnten wir immer nur bei kurzem Halt vor dem Zug verrichten. Teilweise waren auch Waggons mit deutschen Kriegsgefangenen angehängt worden.

    Irgendwann sahen wir große Berge aus Kohle. Unser Ziel war erreicht. Wir landeten in der Ukraine im Donezkbecken in einem Lager Namens Kantarnaja. Kurz nach der Ankunft mussten wir uns alle nackt ausziehen und wurden untersucht. Die Kräftigen und Gesunden sollten unter Tage ins Bergwerk, den Restlichen wurde Obertage auch Schwerstarbeit zugeteilt. Nach kurzer Zeit bekamen wir alle Läuse und Krätze, die wir uns in den Zugwaggons eingefangen hatten. Jeden Tag starben einige von uns. Keiner kannte den anderen. Zuerst war ich über Tage für die Kohlenlore zuständig. Wir mussten die vollen schweren Wagen mit dem Rücken umschmeißen und die Kohle heraus und wegschaufeln.

    Es war ein eiskalter Winter 1944/45. Die Wimpern waren weiß festgefroren und viele bekamen Erfrierungen. Auch meine Zehen waren erfroren. Die Aufseher schrieen und trieben uns immer an: "Dawei Bistro" (= "Mach schnell"). Eines Tages konnte ich nicht mehr. Ich schmiss dem Vorarbeiter die Schaufel vor die Füße, rutschte den Kohlenberg runter und lief ins Lager. Dort erwartete man mich schon und ich wurde zur Strafe in eine Männerbrigade unter Tage eingeteilt. An den Feiertagen mussten doppelt soviel Kohlen geschaufelt werden wie an einem normalen Tag. Ein Jahr musste ich täglich im Kohlenbergwerk unter Tag bauchliegend Kohlen schaufeln. Es wurde in 3 Schichten jeweils 8 Stunden im Wechsel gearbeitet. Nach einem Jahr wurde meine Cousine, die auch im Lager war, versetzt. Ich bat darum mit ihr gehen zu können. Dies wurde bewilligt und so kamen wir in das Lager Sujewka. Hier wurde ich nach kurzer Zeit sehr krank und man brachte mich in ein russisches Krankenhaus Namens Suhares. Ich wurde zunächst mit einer geistesgestörten Frau in ein Zimmer zusammengelegt, die die ganze Nacht mit Ihren Fingern an der Wand kratzte. Auf meine Bitte hin, mich doch woanders unterzubringen, kam ich einige Tage auf den Flur.

    Mittlerweile stand ich dem Tode schon sehr Nahe. Eine Vielzahl von Krankheiten fiel zusammen. Ich hatte Lungenentzündung, Rippenfellentzündung, Malaria, Gelbsucht und die Ruhr. Unter der Achsel entzündeten sich Drüsen die sich vereiterten und in die Brust zogen. Damals hätte man mir keine 8 Tage mehr gegeben. Ich hatte eine russische Ärztin, die es gut mit mir meinte. Sie hat alles versucht mich zu retten. Um die Lungen und Rippenfellentzündung zu kurieren, wurde ich geschröpft. Gegen die Ruhr gab es monatelang nur Haferschleim. Die Malaria schüttelte mich trotzdem täglich und durch die Gelbsucht sah ich aus wie eine Tote. An einem Abend kam ein Doktor aus Dnepropetrsk und wollte mir eine Bluttransfusion geben. Nachdem dies durch meine schlechten Venen nicht möglich war, verabreichte man mir eine Spritze. Die Folge war, dass unmittelbar danach mein ganzer Körper brannte und ich schrie "Jagorem" was so viel heißt wie "ich brenne". Wahrscheinlich war es eine Calciumspritze, die man mir zu schnell verabreichte, die aber möglicherweise half. Nach einigen Tagen musste auch meine Brust geschnitten werden, weil alles voller Eiter war. Diese Operation erfolgte ohne Narkose. Es waren Schmerzen ohne gleichen. Ich schrie: "Mein Gott!" Daraufhin die Ärztin: "Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?" Von diesem Tag an war diese Ärztin immer zuerst an meinem Bett.

    Nach 5 Monaten besserte sich langsam mein Zustand und Sie fragte mich, ob ich ihr einen Pullover stricken würde. Ich habe es mit Freuden getan und kam dadurch auch in den Genuss, noch einige Wochen länger im Krankenhaus zu bleiben. Nach meiner Entlassung kam ich in das Lager Sujewka zurück und musste wieder unter Tage ins Bergwerk. Während all dieser Zeit hatte ich stets einen roten Rosenkranz bei mir, den ich von meinen Eltern zur ersten Kommunion erhielt. Dieser muss mir irgendwann auf dem Weg zwischen Bergwerk und unseren Wohnbaracken aus meiner Hosentasche herausgefallen sein. Ich war damals sehr traurig über den Verlust des Rosenkranzes, weil es die einzige Erinnerung an mein Zuhause und die Eltern war. An einem Feiertag kam auch unser Lagerleutnant unter Tage, kam auf mich zu und wollte mich vergewaltigen. Ich war alleine auf der Strecke. Ich fasste allen Mut zusammen, trat ihn in sein empfindlichstes Teil und wehrte mich. Darauf hin ließ er mich zunächst in Ruhe, aber ich musste mich sofort nach der Schicht bei ihm melden. Er sagte mir unter vier Augen, wenn ich jemanden etwas von dem Vorfall unter Tage erzählen würde, käme ich sofort nach Sibirien.

    Durch meine guten Russisch-Kenntnisse unterhielt ich mich auch hin und wieder mit der Magazinverwalterin, die öfter in unser Lager kam. Ich wusste zum damaligen Zeitpunkt nicht, dass Sie auch die Schwester des russischen Bataillons-Kommandanten war. Sie sprach mich an und sagte: "Wieso bist du schon wieder unter Tage? Du warst doch schwer krank." Ich solle nicht lügen und so kam es, dass ich ihr die Geschichte erzählte. Kurz darauf kam eine Kommission mit 6 Offizieren und ich musste den Vorfall wahrheitsgetreu schildern. Über Nacht wurde dieser Leutnant versetzt und der Bataillons-Kommandant schlug mir auf die Schultern mit den Worten: "Alle Achtung".

    Nach 4 Jahren und 11 Monaten war es endlich soweit - wir wurden entlassen. Die Reise ging über Polen nach Leipzig, von da fuhr ich weiter zu meiner Schwägerin nach Osterhofen in Niederbayern, wo ich zunächst auf einem Gutshof, später in Hotels arbeitete. Nach acht Jahren habe ich meine Eltern wiedergesehen. Es gelang mir, sie durch Familienzusammenführung aus einem Lager in Jugoslawien nach Deutschland freizukaufen.

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