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Anja Boguslawski: Die Flucht

Dieser Eintrag stammt von Anja Boguslawski (* 1982) aus Berlin (09.07.2000). Es ist der Bericht ihrer Großmutter.


Inzwischen war das Kriegsgeschehen bis zu uns vorgedrungen. Lange Tracks zogen unsere Chaussee entlang. Fliegerangriffe und Soldaten auf dem Rückmarsch wurden alltäglich. Dann, schließlich im Januar bekam auch mein Vater den Befehl zum Aufbruch, mußte jedoch nach acht Tagen wieder zurück, da nicht genug Leute bereitstanden, so daß er wieder Dienst machen mußte. Jetzt kamen die Kurlandkämpfer. Sie saßen für eine Nacht bei uns auf der Treppe, und wir kochten Kaffee und schmierten Brote für sie. Am 12.2.1945 feierte ich mit den Soldaten meinen 15. Geburtstag. Wir waren alle dankbar, den Krieg einmal kurz zu vergessen.

Kurz darauf am 17.2. bekam jedoch das Sprengkomando den Auftrag, den Bahnhof zu räumen. Wir hatten unsere Koffer und Säcke schon gepackt, deshalb ging alles ganz schnell. Wir wurden auf einen Waggon verladen, der an den Sprengzug angehängt war, und fuhren nachts los, weil es tagsüber zu gefährlich gewesen wäre.  Mein Vater und die Soldaten blieben mit der Draisine hinter uns, um die Weichen zu sprengen, es war ein Todeskommando. Wir hörten die Russen hinter uns her schreien: "hurräa!", als wenn sie uns schon hätten. In Lauenburg warteten wir auf unseren Vater. Als ich ihn endlich entdeckte, erfuhren wir, daß wir so schnell wie möglich umsteigen mußten. Auf dem Weg nach Gotenhafen hatten wir ständig Fliegerbeschuß. Dann hieß es raus aus den Waggons, rein in die Bunker, falls vorhanden, ansonsten unter die Waggons hinter die Räder. Die Granatsplitter pfiffen nur so an uns vorbei. Am 9.3.1945 kamen wir in Gotenhafen an. Die Lage spitzte sich zu. Die Tieffliegerangriffe waren nun täglich. Wir verbargen uns hinter dicken Wandpfeilern , oder rannten, wenn wir es schafften, in den Keller des Eisenbahnerheimes.

Nach einigen Tagen bekam unser Vater die Nachricht, daß er keinen Dienst mehr machen müßte, deshalb wurde er eingezogen. Vorher mit uns zum Baurat der Eisenbahn. Gotenhafen war so gut wie eingeschlossen, die einzige Möglichkeit war noch, mit der "Monte Rosa" zu fliehen. Dieses Schiff konnte noch einige Flüchtlinge aufnehmen, so gingen wir am 19.3.1945 schweigend an Bord. Wir wußten nicht, was weiter geschehen würde. Noch bevor das Schiff richtig ablegte kam wieder ein Fliegerangriff. Nicht nur das Schiff wurde beschädigt, es gab auch viele Schwerverwundete. Keiner hatte jedoch Medikamente und Verbandszeug dabei. Wir sahen die Toten auf der Treppe liegen, sie wurden nicht einmal beiseite geschafft. Die Luft unter Deck war fürchterlich. Am 22.3. kamen wir in Kopenhagen an. Während meine Mutter auf meinen kleinen Bruder aufpasste, suchte ich unser Gepäck zusammen. Dann wurden wir in Züge verladen, die uns ins Landesinnere brachten. Zum ersten mal nach sechs Tagen bekamen wir heißen Tee und Weißbrot von Schwestern vom Roten Kreuz. In Kolding wurden wir dann von unseren Soldaten empfangen und am 1.4. nach Marienlund gebracht. Da wir dort auf engsten Raum mit vielen Flüchtlingen zusammen lebten, herrschte eine große Ansteckungsgefahr. Viele kleine Kinder starben. Auch mein kleiner Bruder bekam die Masern. Zum Glück brachte uns ein Soldat Milch und Butter, so konnten wir es ihm ins Essen mischen. Er war so schwach, daß ihm sein Kopf immer wieder zur Seite wegrutschte, und niemand glaubte, daß er durchkommen würde. Schließlich durften wir endlich zum Arzt, und kurz darauf ging es meinem Bruder schon besser. Von Marienlund kamen wir dann an den Hafen. Man zog extra für uns Baracken hoch, in denen wir dann zusammen mit vier anderen Personen auf 8 qm lebten. Jeden Tag bekamen wir eine Krone und durften mit einem Passierschein einkaufen gehen.

Ab dem 4.5.1945, dem Tag der Kapitulation, galten wir jedoch als "Internierte" und Ausgang erhielten wir nur noch mit besonderer Genehmigung. Die Soldaten durften schon bald zurück nach Deutschland, doch wir mußten noch bleiben. Das Essen wurde von Tag zu Tag schlechter.  Am 10.10.1946 wurden wir an die Nordspitze Dänemarks verlagert. Dort lebten wir zu 24 Personen in einer Baracke. Das Essen war zwar besser, doch die Kälte war ein großes Problem. Endlich bekamen wir die Ausreise nach Deutschland genehmigt, meine Großmutter hatte den Antrag gestellt. Als wir jedoch bei unseren Großeltern im Mai in Brieselang ankamen, erhielten wir die Nachricht, daß unser Vater gefallen war. Außerdem mußten wir jetzt alle in einem Raum leben, da man in unserem Haus einfach eine Familie mit fünf Personen einquartiert hatte. Zu Hause erfuhren wir dann, was noch alles geschehen ist. So haben die Russen z.B. eine Tochter unserer Nachbarn verschleppt. Unsere Nachbarn hatten schon am Anfang des Krieges alle vier Söhne verloren. Dem Vater spalteten die Russen 1945 den Kopf. Die Mutter blieb also mit zwei Mädchen alleine zurück. Eine Schreckensnachricht jagte die andere. Doch uns blieb nicht viel Zeit, nachzudenken und zu trauern. Wir brauchten dringend etwas zu Essen, deshalb mußte ich so schnell wie möglich eine Arbeit finden. Es war eine harte Zeit.

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