> Annemarie Lübcke: Die achtmonatige russische Gefangenschaft 1945

Annemarie Lübcke: Die achtmonatige russische Gefangenschaft 1945

Dieser Eintrag stammt von Annemarie Lübcke (*1927 ) aus Hamburg, Interessengruppe "Senioren Schreiben und Lesen", Seniorenbüro Hamburg , Juni 2004 :

Im Januar 1945 wurde Breslau zur Festung erklärt. Gauleiter Hanke hatte das Sagen. Wir wohnten im Süden der Stadt in der Kastanien Allee oben, der Villenbesitzer mit Familie im ersten Stock und der Hausmeister mit Familie im Parterre.

Wir glaubten nicht, daß unsere Wehrmacht die Russen in die Stadt läßt. Trotzdem wurde im Keller die große Waschküche als Luftschutzraum für alle gemütlich eingerichtet. Jeder hatte eine Tasche mit den nötigsten Sachen dort stehen. Geschossen wurde täglich zu fast allen Zeiten. Wir nahmen es hin. Plötzlich war die Hölle los. Es zischte, krachte, knallte und in unserer Hauswand klaffte ein sehr großes Loch. Drei Tage später, am 22. Februar 1945, wurden wir alle durch das große Loch von drei Russen aus dem Haus getrieben. Mit ihren Kalaschnikows stießen sie uns an und riefen: "Dawei, Dawei." (Schnell, schnell).

Draußen trauten wir unseren Augen nicht, überall Trümmer und Zerstörungen. Über vier Stunden dauerte es, bis wir an einem besonders großen Haus ankamen. Wir wurden in verschiedenen Räumen untergebracht. Es kamen neue Leute dazu, aber Fremde für mich. Wir hockten auf dem nackten Boden und hingen unseren Gedanken nach. Ab dem nächsten Tag marschierten wir täglich, bis zu 30 km vorbei an toten Soldaten und Zivilisten, toten Pferden, liegengebliebenen Flüchtlingswagen, usw., usw. - Trotz der Kälte machte sich ein Verwesungsgeruch breit. Wir kamen auch an abgeschossenen T 34 Panzern vorbei, wo die toten Russen noch über den Luken heraushingen. Viele grauenhafte Bilder boten sich uns immer wieder. Mir stockte der Atem und ich werde das alles niemals vergessen.

Endlich kamen wir nach Tagen in einem großen Sammellager an mit einer russischen Kommandantur. Ich kam mir so elendig vor und mir war so egal, was mit mir geschieht. Plötzlich höre ich jemanden meinen Namen sagen. Ach, Annemarie kann ja auch ein anderes weibliches Wesen heißen, dachte ich so, drehte mich aber trotzdem um und erkannte etwas weiter weg den Untermann Fred von der Artisten-Gruppe, die öfter in der Sporthalle bei uns trainiert haben. Langsam gingen wir aufeinander zu. Er sagte nur: "Wir müssen unsere Haut retten, mag da kommen, was will."

Schon wurden wir von einem russischen Wachtposten aufgefordert, zu ihm zu kommen. "Edis huda!" (Herkommen!) Er dirigierte uns mit seiner Kalaschnikow in Richtung Hauseingang. Wir wurden zu einem russischen Offizier gebracht. Was der Soldat ihm erzählte, entzieht sich meiner Kenntnis. Fred mußte mit dem Soldaten den Raum verlassen und ich wurde im Besein des Offiziers von seinem Dolmetscher ausgefragt. "Woher kennen sie diesen Mann und wer ist der Mann? Die Fragen nahmen kein Ende. Ich hatte ein reines Gewissen und habe alle Fragen ehrlich beantwortet. Danach wurde Fred ausgefragt bis aufs Blut. Mich brachte man in einen Raum, in dem ich noch einen Platz fand. Der Raum war überbelegt. Nachts wurde ich wieder zum Verhör geholt. Die Ausfragerei ging von vorne los. Ob ich auch nichts vergessen hätte zu sagen, usw. Zu all den Fragen blendete mich ein Licht. Es war abscheulich. es kam noch viel schlimmer. Man sperrte mich in einer kleinen, dunklen Abstellkammer ein. Nun bekam ich es doch mit der Angst zu tun. Mir war, als müßte ich ersticken. Ich schwitzte schrecklich und war nur noch am beten. Das nächste Verhör leitet ein neuer Offizier, der auch der deutschen Sprache mächtig war. Er hatte schließlich für unsere Lage Verständnis, denn er hatte als Sänger vor dem Krieg zwei Mal in Berlin auf der Bühne gestanden. Er wollte sich für uns einsetzen.

Am nächsten Tag wurden wir einer größeren Gruppe zugeteilt und ab ging es zu Fuß Richtung Osten. Morgens gab es einen Schlag Suppe und eine Scheibe Brot mit auf den Weg. Unterwegs tranken wir Wasser, wo immer es möglich war. Viele Hindernisse galt es zu überwinden. Die russischen Aufpasser schonten uns nicht. Fred und ich hatten durchtrainierte Körper, aber viele ältere Leute konnten oft nicht Schritt halten. Viel könnte ich darüber schreiben.

Als wir endlich in dem bewußten Dorf ankamen, ging die Verteilung los. Fred und ich bekamen einen großen Bauernhof, der inzwischen ausgeplündert war und hatten täglich 120 Ochsen zu versorgen. Arbeit gab es immer: Ställe ausmisten, Rüben schneiden, Wasser pumpen, eingegangene Tiere beerdigen, usw.

Andere hatten Kälber oder einen Hof mit Kühen. Alles wurde stark gemacht für die Transporte nach Rußland. Bis Namslau wurden die Tiere von uns gebracht und dann verladen. Für eine warme Mahlzeit sorgten zwei Polinnen. In dieser Küche bekamen wir auch etwas Brot für den Tag. Hunger hatten wir immer.

In der zweiten Hälfte des September kam eine Ärztin in das Dorf und besichtigte alles. Auch sie sprach ganz gut deutsch. Ihr vertrauten wir uns an und erzählten ihr von dem Offizier im Auffanglager. Nach einigen Tagen wurden wir von der Ärztin und zwei Russen abgeholt. Ich war unruhig und dachte: "Was die wohl mit uns vorhaben?"

Sie fuhren uns durch die zerstörte Stadt Breslau nach Oels in das Kronprinzenschloß, wo die Russen Tschechen und Franzosen gefangenhielten. Die russische Ärztin sprach mit den Bewachern usw. Hier hielt man sich in dem großen Hof auf. In einem großen Kessel wurde Kaffee gekocht oder Kartoffeln. Zwei Löffel Zucker bekamen wir in der Woche, morgens immer eine Scheibe Brot.

Jedenfalls wurde ich von zwei Franzosen wiedererkannt und sie begrüßten uns freundlich. Ich habe sie in den Junkerswerken in Breslau erlebt. Wir durften doch nicht miteinander reden. Die fünf Worte, die wir doch beim Nieten holen sprachen, haben mir fast das Genick gebrochen. Der Direktor hielt mir eine Standpauke. Diese beiden Franzosen sorgten dafür, daß wir, Fred und ich, mit konnten, als nach mehrmaligem Kommen - und immer fehlten noch Papiere, die die Russen angeblich benötigten - es endlich gelang, das Schloßgelände zu verlassen. Ich weiß noch genau, wie sich der Tag zeigte. Es regnete Bindfäden.

Über Prag - mit Aufenthalt in einer Schule - gelangten wir in die Hände der Amerikaner in Bayern, ca. 15km entfernt von Nürnberg. Dort nahm uns ein Ehepaar mit Kind auf. Ich habe nur noch geweint. Endlich wurden wir unsere Kleiderläuse los und konnten wieder menschenwürdig leben.

Trotz alledem, immer ein bißchen Glück gehabt, kann ich nur sagen. Man hat mich Gott sei Dank nicht nach Sibirien verschleppt.

lo