> Christoph Biermann: ...eine wundersame, gewaltige Melodei

Christoph Biermann: "...eine wundersame, gewaltige Melodei"

Dieser Beitrag stammt von Dr. Christoph Biermann aus Tübingen, c.biermann@supra-net.net:


Wer kennt nicht die "Loreley" von Heinrich Heine? "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin; ein Märchen aus alten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn...." Jeder deutsche Chor hat das Lied schon einmal gesungen. Welchem Deutschen ist es jemals gelungen, diese Geschichte von Frau und Mann wieder zu vergessen? Heine spricht aus, was viele Menschen bewegt. Aber wieso weiß ausgerechnet er nicht, was "es bedeuten" soll, wo es alle Welt weiß? Nun, die "Loreley" hat jedenfalls in meiner Lebensgeschichte noch eine andere Bedeutung angenommen und davon möchte ich hier erzählen: Von der verführerischen Faszination eines ganz gewöhnlichen Doppellebens, dessen Untergang in den Wellen des Rheins oder sonstwo vorerst keineswegs gesichert ist. Selbstverständlich endet Heines "Märchen", wie es sich gehört, mit einem happy end. Das Böse geht unter, das Gute siegt. Jenseits des Märchens, also in der Wirklichkeit, bin ich mir dessen allerdings nicht so sicher. Schon das Überleben der keineswegs harmlos geschilderten Loreley auf dem "Gipfel des Berges" sollte nachdenklich machen. Auch davon soll hier die Rede sein.

Anfang Mai 1945 durchstreifte ich mit meinen Spielkameraden wie so oft nachmittags den hinter unseren Häusern ansteigenden Hang des Teutoburger Waldes. Diesmal wagten wir uns aus irgendeinem Grund weiter ins Unbekannte. Plötzlich sahen wir vor uns auf einem breiteren Waldweg eine ockerfarbene Fahrzeugkolonne, vorne der offene Mannschaftswagen mit einachsigem Anhänger, dahinter ein Jeep, alles sauber, geordnet und neu wie zur Parade bewegungslos aufgestellt. Weit und breit kein Mensch. Wir trauten unseren Augen nicht über diesen traumhaften Fund. Vorsichtig kletterten wir in die Militärautos. Jetzt waren wir endlich im Besitz dessen, was die Erwachsenen bisher für sich behielten. Stolz schauten wir von oben ringsum in den Wald. Irgendwo dahinten im Gelände bewegten sich vermutlich die Feinde. Jetzt im sonnigen Maiwald waren wir Herren der Lage. Etwas unsicher krochen wir überall an unserem Fund herum, hantierten am Lenkrad hier und am Schalthebel dort. Es begann zu dämmern. Jemand kam auf die Idee, am nächsten Tag - besser vorbereitet mit Zeit, Ideen und vielleicht mit geeigneten Autoschlüsseln - das Spiel richtig zu beginnen. Klar, daß wir niemandem unseren Kriegseintritt verraten würden. So kehrten wir aufgekratzt nach Hause zurück. Tags darauf brachen wir gleich morgens - wegen Kriegsende war schulfrei - vom vereinbarten Treffpunkt auf. Wer beschreibt die Enttäuschung, ja unser Entsetzen, als wir neuerlich unseren Augen nicht trauen wollten, indem auf dem Waldweg keine Spur der deutschen Wehrmacht mehr zu finden war? Alles war verschwunden, fort und einfach weg, als hätten wir geträumt. Noch heute spüre ich das heftige Bedauern, mir sei ganz persönlich Unrecht geschehen. Durch einen fatalen Umstand, der mir für immer unbekannt bleiben wird, hatten wir verpaßt, am Krieg teilzunehmen. Später passierte mir ein entsprechendes Unglück, als ich einen - also "meinen" - Karabiner in einem mit Wasser halbgefüllten Bombentrichter entdeckt hatte. Beim Herausangeln versank das Gewehr in der Tiefe just in dem Moment, als ich danach greifen wollte. Wie gewonnen, so zerronnen!

Wenige Tage später hörten wir, die ersten Amerikaner seien bei der "Schmiede" aufgetaucht. Wir rannten hin. Tatsächlich standen oder fuhren dort dreiachsige US-Armee Lastwagen umher. Das war Militär, aber keine Wehrmacht. Wir liefen zu den Fahrern. Ein schwarzer Soldat, dessen Aussehen unheimlich schien und dessen Geste der Zuwendung unbekannt freundlich anmutete, reichte mir ein undurchsichtiges Päckchen in Plastikhülle, das ich mit einiger Mühe öffnete. Noch heute schmecke ich die Kekse und Schokolade - mit etwas anderer Geschmacksqualität als gewohnt. Das fremde Zeug tat mir gut. Später erlebte ich ein entsprechendes Glück, als die amerikanische Besatzungskommission an unserem Haus klingelte. Zuvor hatte sich herumgesprochen, daß solche Häuser nicht beschlagnahmt wurden, in denen viele Kinder wohnten. Also versammelten wir 8 Geschwister uns ängstlich auf Kommando unserer Mutter sofort an der Haustür. Alle - jedenfalls ich - zweifelten, ob bei uns die kaum zu erhoffende Ausnahme gemacht werde. Nach kurzer, sachlicher Erkundigung erklärte die Kommission ihre Entscheidung. Wir konnten bleiben. Seitdem weiß ich, daß im öffentlichen Leben Vernunft und Menschlichkeit verläßlich gelten können.

Und nun zur Loreley. Mir ist rückblickend klar, wie ich in meinem Leben oft gleichzeitig zwei ganz unterschiedlichen Bereichen in einem ziemlich verrückten Nebeneinander verhaftet war, zwei Bereichen, die ich mit den eben geschilderten Erlebnissen um 1945 in Verbindung bringe und daher entsprechend nennen möchte: Einerseits "Wunderwaffen-Angriffskrieg" und andererseits "Zärtlichkeit-Gerechtigkeit". Das selbstverständlich verrückte Hochgefühl an diesem Nebeneinander kommt mir heute vor wie ein "Kick", unglaublich faszinierend, verführerisch und absolut cool wie Snowboardfahren im Tiefschnee abseits der Piste, wo es selbstverständlich niemandem einfallen wird, an Lawinengefahren zu denken oder gar darüber zu reden. Mir fehlten sowohl Angst wie Schuldgefühl und Scham und bei dieser (un)heimlichen Besessenheit vom Ende des Nazismus ebenso wie Wertgefühl und Sinn angesichts meines offenen demokratischen Bekenntnisses zu den Menschenrechten.

Eine wirkliche Veränderung in dieser Hinsicht trat ein, nachdem ich vor 8 Jahren öffentlich gegen das Verschweigen der früheren NSDAP-Mitgliedschaft eines Ehrenmitgliedes meines Berufsverbandes Stellung nahm. Dieses Verschweigen betraf eine öffentliche Ausstellung in London zur Geschichte der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. In manchen Diskussionen, die daran anschlossen, hatte ich Angriffe hinzunehmen, deren markantester darin bestand, ich sei, wie ein Diskutant zungenfertig behauptete, "ein - möglicherweise neuer- Nazi", weil ich einen verdienten früheren Vorsitzenden der Vereinigung als Sündenbock "verfolge". Einer meiner Freunde klagte gegen diesen auch an ihn gerichteten Vorwurf, er sei "ein Nazi". Ein Gericht gab der Klage recht und verbot dem zungenfertigen Diskutanten unter Androhung einer erheblichen Geldstrafe, seinen Vorwurf zu wiederholen. Inzwischen kann ich dem - übrigens durchaus angesehenen und in vieler Hinsicht kompetenten - betreffenden Diskutanten sogar ein Stück recht geben. Ja, ich war und bin "ein Nazi", insofern ich nach wie vor das Bedauern vom Mai 1945 in mir spüre, nicht mehr "wirklich dabei gewesen sein zu können". Sollte ich so lange leben, wird dieses Gefühl, "vom Pech verfolgt zu sein, in alle Ewigkeit kein richtiger Nazi mehr werden zu können", mich vermutlich noch in tausend Jahren begleiten - also kein Schlußstrich, sondern open end.

Angeregt durch diese Erfahrungen im Kollegenkreis begann ich, meine Familie persönlicher kennenzulernen. Hatte meine Mutter mir doch einstens ohne viele Worte einen Ring und Reste eines Tafelservice geschenkt, die - wie ich erst jetzt richtig realisierte - aus der Hinterlassenschaft einer jüdischen Verwandten stammten, die 1943 mit 81 Jahren von Köln nach Riga deportiert und dort ermordet worden war. Dieser Ring wird für mich nun immer mit einer seltsam-panischen Angst verbunden sein, ihn zu verlieren. Schließlich tauchten in meiner Erinnerung auch die Russen auf. Sie saßen im Flur nahe dem Eingang unseres Hauses 1943 oder 1944 nach getaner Gartenarbeit und sättigten sich an derselben einfachen Mahlzeit wie wir alle, von der ihnen meine Mutter ihren Anteil gebracht hatte. Die Beschäftigung der russischen Kriegsgefangenen im privaten Garten war illegal, insofern sie nur dazu bestimmt waren, in der Weinhandlung meines Vaters, der als Wehrmachtslieferant seinen "kriegswichtigen Betrieb" weiterführen durfte, leere Flaschen im "Spülhaus" zu reinigen und im Keller von neuem mit Wein abzufüllen. Genauer tauchten die Gesichter dieser Russen in mir wieder auf. Wir hatten uns angeschaut. Das laute Lied der Loreley mit seiner "wundersamen, gewaltigen Melodei" hat seitdem für mich an Faszination eingebüßt, aber es bleibt um mich, wie jenes mir eingebrannte Horst-Wessel-Lied "Die Fahne hoch". Die drei oder vier schlechtrasierten, in teilweise gesteppter Kleidung fremdartig wirkenden Männer mit kurzgeschorenen Haaren schauten und schauen mich stumm, aber nicht unfreundlich, an wie aus einer anderen Welt.

lo