> Claus Günther: Zur Strafe bekam ich Leseverbot

Claus Günther: Zur Strafe bekam ich "Leseverbot"

Dieser Eintrag stammt von Claus Günther (*1931) aus Hamburg, März 2007:

1938 kam ich zur Schule und erhielt eine Fibel. Die erste Seite dieses Lesebuches zeigte ein kleines Mädchen vor einem großen, blühenden Apfelbaum, den viele Bienen umschwärmten. Das Mädchen, erklärte unser Lehrer, sei ganz erstaunt und sage O, - "und das könnt ihr nun auch lesen unter dem Bild". Besagtes "O" war also mein erster Buchstabe. Später las ich in der Fibel "Mimi sei leise" und "lauf Uwe", und bald darauf, als ich eines Abends mit meinen Eltern durch die Wilstorfer Straße in Harburg ging, konnte ich zu meinem Erstaunen die Leuchtreklame an den Geschäften enfziffern: "Lindor" hieß ein Strumpf- und Wäsche-Laden, "Gloria-Palast" ein bekanntes Kino. Welch eine Offenbarung - ich konnte lesen!

Von nun an las ich alles, was mir in die Finger kam. "Struwwelpeter", "Max und Moritz", Märchen der Gebrüder Grimm, "Gullivers Reisen ins Land der Riesen und Zwerge", und später die Sagen der Völker. Es folgten Indianergeschichten wie Coopers "Lederstrumpf" und "Winnetou" von Karl May. Aber dass das Buch "Doktor Doolittle und seine Tiere" von einem Engländer war, wo wir doch gegen England Krieg führten, verstand ich nicht. Wenn ich "unartig" gewesen war, gab meine Mutter mir Leseverbot. Daraufhin steckte ich mir meinen Schmöker in den Schulranzen und las heimlich, während des Unterrichts.

Nach und nach wurde mein Lesestoff, dem veränderten Angebot seit Beginn des Krieges entsprechend, weniger harmlos. Ich erinnere mich an eines der Sammelbilder in den Reemtsma-Zigarettenalben. Es zeigte, wie beim so genannten Prager Fenstersturz ein Mensch von anderen ergriffen und aus dem Fenster geworfen wurde - der Beginn des 30-jährigen Krieges. Ein weiteres Album hieß "Raubstaat England"; es listete in Wort und Bild angebliche oder tatsächliche Untaten der Engländer auf, ebenso wie ein Weißbuch über den spanischen Bürgerkrieg Gräueltaten von Kommunisten anprangerte. Als ich das Foto eines verstümmelten Toten sah, dem die Augen ausgestochen worden waren, ahnte ich, weshalb mein Vater dies Buch unter Verschluss gehalten hatte. Die deutschen Soldaten hingegen, in 20-Pfennig-Kriegsheften, aber auch in Büchern, Filmen, Rundfunk-Sondermeldungen und Wochenschauen verherrlicht, waren stets tapfer und siegreich, überall auf der Welt...

Ich hingegen, der kleine Claus, hatte starke Zweifel, ob ich jemals zu den Helden gehören würde. Allein der Gedanke, eines Tages ein tapferer Soldat werden zu müssen, war mir äußerst unbehaglich! Doch ich traute mich nicht, mit irgendjemandem darüber zu sprechen.

lo