> Cornelie Ziegler: "Reichskristallnacht"

Cornelie Ziegler: "Reichskristallnacht", 1938

Dieser Eintrag stammt von Cornelie Ziegler (*1922) aus Trippstadt, November 2018. Cornelie Ziegler fertigte einen Bericht über ihre Erlebnisse während des NS-Regimes in den 1970er Jahren für einen britischen Kollegen ihrer Schwester an. Sie wuchs in Wolfenbüttel auf und arbeitete nach dem Krieg in der Papierfabrik ihrer Familie mütterlicherseits, da sie sich das von ihr gewünschte Medizin-Studium aus finanziellen Gründen nicht leisten konnte. In der Fabrik stieg sie vom Lehrling zur Geschäftsführerin auf und war vor allem für die Finanzen zuständig. Der folgende Text ist ein Auszug aus diesen Erinnerungen und schildert die Ereignisse des 9. November 1938:

 

Die "Reichskristallnacht"

Hier konnten wir miterleben, wir der „Volkszorn“ zum Ausbruch kam: Anlass war ja das Attentat in Paris, wo ein jüdischer Junge namens Grünspan, dessen Eltern in Deutschland verhaftet (und umgebracht?) worden waren, einen Mitarbeiter der Deutschen Botschaft, Herrn von Rath, erschossen hatte. Ich erinnere mich, dass die Eltern über die Nachricht entsetzt waren und meinten, die Nazis würden dafür an den Juden in Deutschland Rache nehmen.

Spontan ausgebrochen, wie immer behauptet, ist der Volkszorn jedenfalls nicht: An dem Abend des 9. November war Elli, unser Hausmädchen, mit ihrem Verlobten, Alfred, verabredet. Der war eine „weiße Maus“ = Angehöriger einer Polizeieinheit, die damals hauptsächlich im Straßenverkehr eingesetzt, später aber in die Wehrmacht integriert wurde. Alfred kam nur kurz herein, um Elli abzusagen. Er hatte Dienst, war aber nicht in Uniform und erzählte lachend von dem Befehl, „in Zivil mit Kavaliersstöcken“ zu erscheinen. Dann sagte er noch sehr eindringlich zu Elli, sie sollte sich wegen Anneliese keine Sorgen machen, er würde aufpassen. Anneliese war Ellis jüngere Schwester, Hausmädchen bei unserem Lehrer Dr. Söchting, der neben der Synagoge wohnte, über der Wohnung des Rabbiners. In der Nacht wurde die Synagoge angezündet und brannte bis auf die Außenmauern nieder. Es hieß, der Rabbiner hätte versucht, Thora-Rollen zu retten, und wäre schlimm misshandelt worden. Seine Wohnung war, wie die übrigen Wohnungen und Geschäfte von Juden, demoliert worden. Polizei oder Feuerwehr hatten nicht eingegriffen. Bei Söchtings war, bis auf die von der Hitze geplatzten Fensterscheiben, nichts passiert, weil Alfred und ein Freund sich vor der Tür postiert hatten. Die beiden hatten in der Nacht also auch nichts Böses getan, aber ihre Kollegen, die doch für Ordnung und Sicherheit zuständig waren, hatten kräftig an dem Pogrom teilgenommen und mit ihren „Kavaliersstöckchen“ geprügelt. Außer Leuten, die die Gelegenheit zum Stehlen in den demolierten Geschäften genützt hatten, hatte das „Volk“ nichts getan. Die Sache war von dafür bestellten Parteileuten und eben auch von der Polizei inszeniert worden.

Am nächsten Morgen kamen wir auf dem Schulweg an der ausgebrannten Synagoge vorbei. Es standen viele Leute da, die alle eigentlich einen betretenen Eindruck machten. Man hörte jedenfalls kein böses Wort über die Juden. Ein jüngeres Mädchen aus unserer Schule äußerte sich plötzlich laut über „diese Schweinerei“. Und dagegen sagte niemand etwas, es stimmt natürlich auch keiner zu. Dieses Mädchen war die Tochter eines Offiziers bei der Wehrmacht. Das war damals wohl die einzige Gruppe, die sich nicht vorsehen musste (später hat sich das aber auch geändert). Hanna Pohly, meine jüdische Mitschülerin, die ganz nah bei der Synagoge wohnte, kam einige Tage nicht zur Schule, dann aber doch wieder. Es hieß, die ganze Familie wäre verprügelt worden.

lo