> Dieter Knall: Flucht aus Rumänien 1944

Dieter Knall: Flucht aus Rumänien 1944

Dieser Eintrag stammt von Dieter Knall (*1930) aus Graz / Österreich, Mai 2011. Der Text ist ein Auszug aus dem Buch: "Erinnerungen. Biografische Notizen", erschienen im Verlag "Evangelischer Presseverband in Österreich", Wien 2008.

/lemo/bestand/objekt/knall001 Ich bin als Siebenbürger Sachse in Kronstadt geboren, wo ich zur Schule ging. Goldene, unbeschwerte Ferienwochen verbrachten meine Schwester und ich in Detta, einem Ort rund 40 Kilometer südlich von Temeschburg, dort war mein Vater Oberstaatstierarzt des Bezirkes. Als wir ausnahmsweise schon vor dem Ende des Schuljahres 1943/44 nach Detta aufbrachen, ahnte niemand von uns, dass wir Kronstadt für immer verlassen würden. Nachdem die Stadt am 16. April erstmals bombardiert und damit vom Kriegsgeschehen hautnah berührt worden war, holten unsere Eltern ihre Kinder aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich. Dass die Ostfront in ihrem Südabschnitt über Nacht zerbröckeln und alsbald westlich des Landes verlaufen sollte, lag damals außerhalb unseres Vorstellungsvermögens. Dennoch fanden sich in den folgenden Wochen mehr Familienangehörige bei uns in Detta ein, als es sonst der Fall war. Schließlich zählten wir in unserem Haus dreizehn Personen, die von den Ereignissen im Sommer 1944 überrascht wurden.

In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1944 veränderten sich die Verhältnisse im ganzen Land schlagartig und grundlegend, nachdem Rumänien seine Waffenbrüderschaft mit Deutschland aufgekündigt hatte. Eine große Unsicherheit griff um sich. Sie wuchs, als Autos, Fahrräder und alle Rundfunkgeräte auf behördliche Anordnung von uns abzugeben waren und die ohnehin spärlichen Informationen dadurch ganz versiegten.

Eines Tages fuhren deutsche Heeresverbände mit Lastkraftwagen, Kanonen und Panzern - aus dem achtzehn Kilometer entfernten Jugoslawien kommend - durch Detta in Richtung Temeschburg, für viele von uns ein Hoffnungszeichen. Wir erfuhren, dass die Soldaten der "Prinz-Eugen-Division" angehörten, die mit der Partisanenbekämpfung auf dem Balkan betraut war. Als bald danach viele dieser Fahrzeuge mit Verwundeten südwärts zurückfuhren, hörten wir, dass die Besetzung von Temeschburg nicht mehr gelungen war, weil rumänische und russische Truppen sich dort bereits verschanzt hatten und erbitterten Widerstand leisteten. Einige Leute, die es mit der Angst zu tun bekamen, baten mitgenommen zu werden und verließen mit den deutschen Militärfahrzeugen Hals über Kopf noch während der Nacht ihr Zuhause.

Die folgenden Tage wurden unruhig, obwohl es vorerst ruhig blieb. Allein die Ungewissheit im Blick auf das Kommende wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher und von vielen sich widersprechenden Gerüchten ständig genährt. Anfang September 1944 hieß es dann, dass alle Volksdeutschen das mutmaßliche Kampfgebiet der nächsten Tage für etwa zwei Wochen räumen sollen. Daher begannen Vorbereitungen für den vorübergehenden Wegzug aus dem gefährdeten Bereich. Pferdewagen wurden mit dem Notwendigsten beladen und startklar gemacht. Auch wir packten auf ein ausgeliehenes Bauernfuhrwerk vier schwere Säcke mit Hafer und viel Heu als Futter für ein ebenfalls ausgeborgtes Zugpferd, drei große verzinkte Blechbottiche mit frisch zerlassenem Schweineschmalz, etliche Speckseiten, einige Brotlaibe und weitere haltbare Nahrungsmittel, um für die nächsten Tage versorgt zu sein. Danach bestieg eine zehnköpfige Familiengemeinschaft, die sich auf dem restlichen Wagenplatz im Heu zusammenpferchte, das uns ungewohnte Fahrzeug. Unsere Omi war mit einundsechzig Jahren die Älteste, mein Vetter Horst als achtmonatiges Baby das jüngste Familienmitglied in der Wagenrunde. Meine Eltern mit der anderen Großmutter, unserer "Grießi", hatten sich entschlossen, in Detta zu bleiben. Am 14. September nahmen wir Abschied und trennten uns in der Hoffnung auf baldige Rückkehr.

Die Hauptverantwortung für unsere Wagengemeinschaft fiel meinem Onkel Hubert, "Putter" genannt, dem jüngsten, damals sechsunddreißigjährigen Bruder meines Vaters zu. Ich hatte als sein Gehilfe zu fungieren, womit meine bisher unbeschwerte Jugendzeit ein jähes Ende fand. Beide hatten wir wenig Ahnung vom Umgang mit Pferd und Wagen, aber vor und hinter uns genügend Kundige unter den Schicksalsgefährten. Von ihnen lernten wir rasch alles Nötige wie Füttern und Tränken, das Aus- und Einspannen und merkten auch bald, dass unser "Moritz" als Einspänner die schwere Wagenlast allein nicht lange würde bewältigen können. Wir zählten, abgesehen von allem anderen, immerhin fünf Erwachsene, zwei Jugendliche und drei Kinder auf unserem Gefährt. Bei dicker Staubschicht auf der Straße knirschten die mit eisernen Reifen beschlagenen großen Räder etwas gedämpfter, wenn sie angesichts unseres Gewichtes Steine zermalmten, nicht selten aber tiefe Rillen in den Boden schnitten. Man muss mit einem solchen Bauernwagen gefahren sein, um nicht nur die Schwere seiner trägen Bewegung von Schlagloch zu Schlagloch, sondern auch das Glücksgefühl nachempfinden zu können, etwas Heu unter sich zu haben.

Rumänien ließen wir bald hinter uns. Bei Stamora überschritten wir die Grenze in Richtung Werschetz (Vršac). Erstmals gelangten wieder Berge in unser Blickfeld, aber auch vage Ängste regten sich, nunmehr jugoslawisches Partisanengebiet zu durchfahren. Um uns orientieren zu können, hatten wir aus einem geografischen Atlas die entsprechenden Seiten herausgerissen und mitgenommen. Leider sind die Blätter verloren gegangen, sodass ich die von uns zurückgelegte Wegstrecke lediglich aus dem Gedächtnis wiedergeben kann.

In Jugoslawien erhielten wir von der deutschen Wehrmacht ein zweites Pferd. Es war, verglichen mit unserem wohlgenährten Fliegenschimmel, ein magerer, dunkelfarbiger Gaul, der sich jedoch bald als verlässliches Zugpferd erweisen sollte. Wir gaben ihm den Namen "Max". Unser Moritz hatte es schnell heraus, die Vorteile des Zweigespanns genießen und Max die Hauptlast des Anzuges überlassen zu wollen.

Die Aussicht auf eine baldige Um- und Rückkehr wurde immer unwahrscheinlicher. Dass es fortan keine Richtungsänderung mehr gab, erschien mir damals nicht unerwünscht. Jeder Kilometer in westlicher Richtung brachte uns doch jenem Land näher, von dem uns gesagt worden war, es sei in jeder Hinsicht unübertrefflich. Schon unsere Altvorderen hatten stets überschwänglich von Deutschland als dem "Reich" gesprochen, woher unsere Ahnen zu Zeiten Kaiser "Barbarossas" vor vielen Jahrhunderten nach Siebenbürgen eingewandert waren. In der überlieferten Erinnerung wie in unserer durch Propaganda genährten Phantasie erschien uns dieses Reich, dem Siebenbürgen in seiner Geschichte politisch niemals zugehörte, in einem unbeschreiblichen Glanz. Mit ganz außergewöhnlichen Erwartungen näherten wir uns unentwegt diesem "Großdeutschen Reich", das auch Österreich mitumfasste. Was bedeutete demgegenüber schon all das, was wir im Begriffe waren hinter uns zu lassen?!

Bei Titel überquerten wir die Theiß, Ungarns längsten Fluss, um uns dann weiter in Richtung Neusatz (Novi Sad) zu bewegen. Wir fanden überall unterwegs freundliche Aufnahme, insbesondere bei den Schwaben im Banat und in der Batschka. Sie sahen in uns die Vorboten eines Schicksals, das auch ihnen widerfahren könnte. Niemals mussten wir Hunger leiden. In den Orten, wo wir anhielten, wurde Essen ausgegeben. Da stand dann jeweils ein Familienmitglied mit einer Milchkanne in der Schlange an, um die Portionen für alle Wageninsassen in Empfang zu nehmen. Gulasch(suppe) in vielen Variationen war das Hauptgericht in Ungarn, für unsere Gaumen oft ungewohnt scharf papriziert, aber von den Hungrigen mit großen Brotmengen doch gern gegessen. Reife Trauben konnten und durften wir uns aus den Weingärten holen, die unseren Weg über weite Strecken säumten.

Neusatz war zu jener Zeit eines der Angriffsziele alliierter Bomber. Wir befanden uns nahe genug, um den Anflug der Geschwader beobachten und die Detonationen in der Stadt hören zu können. Die Realität des Krieges blieb uns auf den Fersen. Langsam zogen wir über Werbaß, Kula und Sombor in nordwestlicher Richtung weiter, bis wir schließlich bei Baja die Donau erreichten. Die Brücke war wenige Tage vor unserer Ankunft von amerikanischen Bombern getroffen und zerstört worden. Das hatte zur Folge, dass sich eine große Zahl von Flüchtlingswagen in und um Baja staute. Sie alle konnten lediglich mit Fähren auf das rechte, westliche Donauufer befördert werden. Wir kamen an die Reihe, als es zu dämmern begann. Eine Fähre vermochte etwa zwanzig Pferdefuhrwerke aufzunehmen. Während der Überquerung des hier schon breiten Stromes musste sich jeweils eine Person bei jedem unserer vielen Pferdegespanne aufhalten. Alles ging reibungslos vor sich. Nachdem wir am anderen Donauufer die Fähre verlassen hatten, war es mittlerweile so dunkel geworden, dass die Pferde am Zaum im Schritttempo geführt werden mussten. Bis Bátaszék waren noch siebzehn Kilometer zurückzulegen. Nach Mitternacht trafen wir dort ein und lagerten erschöpft, Wagen neben Wagen, auf dem Hauptplatz. Die Pferde wurden nur einseitig ausgespannt, um ihnen etwas Bewegungsfreiheit zu verschaffen, während die Menschen in und unter den Wagen einen Ruheplatz für sich suchten. Es war wohl das einzige Mal, dass wir eine Nacht unter freiem Himmel und ohne ein Schutz bietendes Dach über dem Kopf zubrachten. Stets wies man uns entweder Privatunterkünfte oder Wirtschaftsgebäude, Schulen oder andere Großräume zum Übernachten an.

Bei Siófok gelangten wir an den Plattensee, umrundeten dessen Ostseite und zogen in Richtung Veszprém weiter. Unser Treck wuchs zwischenzeitlich auf mehrere hundert Wagen an, weil immer neue Kolonnen zu unserer Gruppe hinzustießen. Nirgendwo erlebten wir das Kriegsgeschehen dramatischer als im Umfeld des Plattensees. Dorthin waren Industriebetriebe aus Budapest ausgelagert worden und das wussten natürlich auch die Alliierten. Über dem See pflegten sich ihre Bomber noch einmal zu formieren, bevor sie sich ihrer todbringenden Last über den Zielorten entledigten. Zu ihrem Schutz trafen immer wieder sehr schnelle Jagdflugzeuge ein, die im Tiefflug auch Flüchtlingskolonnen unter Beschuss nahmen. Dann galt es jedesmal, rasch aus den Wagen in die Straßengräben zu springen. Die englischen Doppelrumpflangstreckenjäger ("Lightnings") beeindruckten mich überaus. Im Nu waren sie da und ebenso schnell wieder verschwunden. Es gab immer wieder Verletzte, gelegentlich auch Tote, doch insgesamt weit weniger Verluste als zu befürchten war. Vermutlich wollten die Piloten nur Unruhe und Angst verursachen, ohne jedoch ein Massaker unter den westwärts flüchtenden Zivilisten anzurichten. Um Veszprém erlebten wir die intensivste Tätigkeit der ungarischen Flugzeugabwehr. Ihre Geschütze feuerten beim Anflug feindlicher Geschwader bei Tag und bei Nacht unentwegt, wobei ihnen während der Dunkelheit zahllose Scheinwerfer die Ziele zu weisen suchten. Wir sahen getroffene Flugzeuge in Brand geraten und abstürzen, einmal einen Piloten am Fallschirm zu Boden pendeln, der von Feldpolizisten umgehend festgenommen wurde. Glücklicherweise konnten wir den Hexenkessel bald hinter uns lassen.

Wir steuerten Ödenburg (Sopron) an und erlebten auf der Strecke vor der "burgenländischen" Grenze eine Überraschung. Plötzlich tauchte mein Vater auf. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht von Wagen zu Wagen verbreitet, er sei gesehen worden. Wir konnten es nicht glauben, bis er wirklich vor uns stand, staubig, unrasiert, erschöpft. Er hatte uns bis weit nach Ungarn hinein gesucht und schon das Schlimmste befürchtet. Am 22. September waren auch meine meine Eltern aus Detta aufgebrochen. Mit einem Bauernwagen gelangten sie bis zum Grenzort Stamora, blieben einen Tag und fuhren mit einem anderen Wagen, geführt von einem ortskundigen Kutscher, über Feldwege bis Sitschidorf, einer deutsch-schwäbischen Gemeinde im serbischen Banat. Angesichts der unausweichlichen Strapazen und meiner kränkelnden Mutter, aber auch wegen der rasch vorrückenden Russen, bemühte sich mein Vater durch Vorsprache beim deutschen Wehrmachtskommando in Großbetschkerek um die Erlaubnis, einen der regulären Züge durch Ungarn benützen zu dürfen. Nach Erhalt der Genehmigung verließen meine Eltern mit unserer Grießi unter Zurücklassung aller größeren Gepäckstücke am 27. September endgültig das Banat und damit die alte Heimat. Mit der Bahn gelangten sie über Wien nach Alberschwende im Bregenzerwald, wohin die in Friedrichshafen ausgebombte Familie des mittleren Bruders meines Vaters evakuiert worden war.

Allein kehrte mein Vater von dort wieder um. Er wollte versuchen, von dem zurückgelassenen Gepäck einiges nachzubringen. Doch dieses Vorhaben erwies sich als undurchführbar. Längst war die Front so weit vorgerückt, dass jeder Versuch, noch einmal in das serbische Banat zu gelangen, scheitern musste. Er kam nur noch bis an die mittlere Donau und begann in der Gegend von Baja unter den Flüchtlingskolonnen nach uns zu suchen, tagelang freilich ohne Erfolg. Im Durcheinander Tausender westwärts Treckender fand sich niemand, der Auskunft über unseren Verbleib geben konnte. Der Zeitberechnung zufolge blieb Schlimmes nicht auszuschließen. Wir hätten in den Bombenangriff auf die Donaubrücke von Baja hineingeraten und mit vielen anderen Flüchtlingen umkommen können, wenn die Zeitverzögerung in einem Dorf nördlich von Neusatz nicht eingetreten wäre. Ohne eine Spur von uns gefunden zu haben, trat mein Vater den Rückweg an, zu Fuß, per Wagen, mit Auto, jede Gelegenheit nutzend, nicht zuletzt auch, um bei den überholten Trecks weiter nach uns zu forschen. Als die Hoffnung zu schwinden drohte, entdeckte er unsere Namen auf einer der Flüchtlingslisten. Nahe der damaligen Reichsgrenze stieß er auf unsere Kolonne und fand uns wohlbehalten inmitten von etwa dreihundert Pferdewagen.

Das Überschreiten der Grenze von Ungarn ins Großdeutsche Reich hat bei mir keinen nennenswerten Eindruck hinterlassen. Wir kamen am Abend jenes Tages, es war Dienstag der 17. Oktober, bis nach Wulkaprodersdorf im heutigen Burgenland, damals Gau Niederdonau. In der zweiten Oktoberhälfte war es nachts schon empfindlich kühl. Wieder fanden wir Unterkunft in einem Großraum und schliefen auf Stroh, für uns die letzte Nacht in der Gemeinschaft derer, die mit uns so lange unterwegs gewesen waren. Am nächsten Morgen galt es, Abschied zu nehmen von vielen Menschen, aber auch von unserem braven Pferdegespann Max und Moritz sowie von unserem "Zigeunerwagen". Max musste zur Wehrmacht zurück, Moritz und der Wagen wurden veräußert und der Erlös denen übermittelt, die uns beides zur Verfügung gestellt hatten. Mit wenigen Habseligkeiten, die wir leicht tragen konnten, ging es nach Wien, wo wir Unterkunft bei einem Vetter meines Vaters fanden und etwas vom furchtbaren Bombenterror über deutschen Großstädten miterlebten.

Unsere Weiterfahrt erfolgte per Eisenbahn mit Dampflokomotive bis Attnang-Puchheim, von wo weg die Strecke westwärts über Salzburg, Innsbruck und den Arlberg damals schon elektrifiziert war. Als wir im vorarlberger Schwarzach den Zug verließen, erwartete uns dort ein Bauernwagen, dem wir unsere wenigen Gepäckstücke und uns selbst anvertrauten, bis die holprige Steinstraße zu steigen begann und alle Gehfähigen zur Entlastung abstiegen, um den allerletzten Abschnitt unseres Weges zu Fuß zurückzulegen.

Am Dienstag, den 24. Oktober, gut fünf Wochen nach unserem Aufbruch aus Detta trafen wir in Alberschwende ein und sahen uns als Familie wieder vereint. Ein neuer Lebensabschnitt begann für uns.

lo